Auf die nächste „Leipziger Zeitung“ dürfen Sie sich durchaus freuen. Da gehen wir mal auf die sich langsam spaltende Stadt Leipzig ein – in eine prekär lebende Hälfte und eine zunehmend saturierte Hälfte. Rund 20 Prozent der Leipziger haben es in den vergangenen 10 Jahren geschafft, sich mit auskömmlichen Einkommen in der besseren Hälfte zu platzieren. Auf die 50 prekären Prozent schaut auch die Stadtstatistik mit großem Unverständnis.

Im jüngsten Quartalsbericht Nr. 2 für 2016 hat das Amt für Statistik und Wahlen gleich zwei Beiträge zum Thema – zu SGB-II-Beiträgen und zu Arbeitslosigkeit – untergebracht. Im ersten schildert Peter Dütthorn, wie sich die jüngste Revision der SGB-II-Zahlen, die die Bundesagentur vorgenommen hat, auf die Leipziger SGB-II-Statistik auswirkt. Sie sorgt im Grunde nur für kleine Verschiebungen innerhalb der verschiedenen Gruppen, die auf diese mit staatlichen Sanktionen versehene Sozialhilfe angewiesen sind.

Vielleicht ist es ja der letzte Versuch, an all diesen Zahlen herumzukorrigieren und sie irgendwie noch schöner zu rechnen. Tatsächlich machen sie – 10 Jahre nach Einführung von „Hartz IV“ – deutlich, dass sie das eigentliche Problem nur verdecken. Gelöst wurde es nicht. Die ganze „Agenda 2010“ hat sich als vollmundige Märchenerzählerei erwiesen. Was eigentlich schon vorher klar war. Es ist ja nichts anderes als eine Sammlung der falschen und völlig nutzlosen Lösungsansätze aus der neoliberalen Schule, die den Arbeits- und Erwerbslosen nur als Ballast betrachtet, vor allem als Arbeitsunwilligen, der gar nicht malochen will. Und daran, dass sie keinen vollwertigen Arbeitsplatz finden, sind dann irgendwie die Aussortierten selber schuld. Die Menschen, die mit Vermittlungshemmnissen zu kämpfen haben, wohl erst recht.

Das ganze Projekt atmet den kalten Hauch deutscher Junker-Mentalität.

Und was natürlich auffällt nach 10 Jahren: Die Menschen, die man, wie vollmundig behauptet, durch das Zusammenlegen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wieder in den Arbeitsmarkt integrieren zu wollen, sind allesamt noch draußen. Sie bilden nach wie vor die Hauptgruppen unter den SGB-II-Empfängern: schlecht qualifizierte Langzeitarbeitslose, ältere Arbeitnehmer, Behinderte, Alleinerziehende …

Der Denkfehler ist unübersehbar: Wenn man keine Arbeitsplätze für solche Betroffenen hat, kann man sie auch nicht mit Sanktionen ins System prügeln – eher in den Selbstmord treiben, ein Thema, das die gesundheitspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Susanne Schaper, aktuell gerade aufgegriffen hat.

Und eine Gruppe hätten wir fast vergessen: die Kinder.

Denn wenn Menschen aus dem Kreislauf prekärer Jobangebote und Jobcenter nicht herauskommen, Armut zum Alltag in der Familie wird, dann vererbt sich das, wachsen viele Leipziger Kinder in Armut auf. Auch 2015 und 2016 noch.

Was sichtbar ist an den seit 2007 tatsächlich abschmelzenden Zahlen: Menschen, die tatsächlich nur wegen fehlender Arbeitsplatzangebote und bis 2007 herrschender wirtschaftlicher Depression keine Arbeit fanden und in „Hartz IV“ gelandet sind, haben es fast alle wieder geschafft, in den normalen Arbeitsmarkt zurückzukehren. Manche mit harten Umwegen über Leiharbeit und Mini-Jobs. Aber sie sind bis 2015 alle wieder aus der SGB-II-Statistik verschwunden: rund 15.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte waren das. Nicht mehr, nicht weniger.

Mehr wird nicht passieren.

Schon seit 2015 ist sichtbar, dass die meisten der verbliebenen Personen nicht wieder in den Job zurückkommen, sondern in den (zum Teil erzwungenen) frühen Ruhestand gehen.

Das wäre mal eine aussagekräftige Statistik.

Aber wollen Sie wissen, welche stereotype Antwort Susanne Schaper und jüngst auch der AfD-Abgeordnete André Wendt von der Staatsregierung bekommen haben? – „Die erbetenen Daten werden statistisch nicht erfasst.“

So ist das in Deutschland und in Sachsen. Man schönt sich die Statistiken, verrät aber nicht, wohin die herausgeschönten Menschen expediert worden sind. Und da wundern sich die Schlipsträger, dass die Leute rebellieren?

Deswegen ist auch die Statistik, die Peter Dütthorn zusammenstellen kann, nur eine halbe: Sie zeigt nur das, was die Bundesagentur bereit ist, zuzugeben. Sie zeigt nicht, ob die ganzen „Integrationsmaßnahmen“ irgendetwas gebracht haben. Sie zeigt nicht, ob die Betroffenen vom Geld ihres neuen Jobs leben können oder ob sie lieber für weniger Geld arbeiten gehen, nur um nicht vom Jobcenter fortwährend wie ein Halbkrimineller behandelt zu werden. Sie zeigt auch nicht, wie viele Menschen in den vorzeitigen „Ruhestand“ gezwungen werden.

Was die Statistik nicht schafft, ist, die betroffenen Kinder aus der Tabelle zu retuschieren. Zwar war die Zahl der in Bedarfsgemeinschaften lebenden Kinder (unter 15 Jahren) 2007 mit 18.124 deutlich höher als schon 2010, als es 15.154 waren. Aber das hat nichts mit der fleißigen Jobvermittlung im Jobcenter zu tun, viel aber mit dem anziehenden Arbeitsmarkt in Leipzig. Denn damals begann er kräftig anzuziehen – lang erwartet. Tatsächlich setzte der Zyklus schon 2005 ein – nach sieben Jahren Depression, die der Schröder-Regierung das Regieren sauer gemacht hat und sie am Ende in völlig sinnfreien Aktionismus verfallen ließ, als die großen Medien im ganzen Land quäkten: Ja, warum tut denn die Regierung nichts?

Manchmal ist es besser, die Regierung tut nichts. Weil sie – wenn sie was tut – selten etwas bewirken kann. Es sei denn, sie setzt starke Regeln, die solche Pfuschereien wie das Anschwellen und Platzen der Dotcom-Blase (2001) oder das Tohuwabohu der Bankenkrise (2008) wenn schon nicht verhindern, dann zumindest deutlich begrenzen. Aber die Schröder-Regierung war im setzen starker Regeln schwach. Außer für die Schwachen. Wenn in Deutschland jemand reguliert wird, dann sind es die Klienten der Jobcenter.

Und wo auch OBM Burkhard Jung 2007 noch davon träumte, die Zahl der Bedarfsgemeinschaften in Leipzig binnen weniger Jahre unter 40.000 und 30.000 zu drücken, erweist sich alles Treten, Drücken und Sanktionieren im Jahr 2015 als völlig vergebens: Von 48.215 ist deren Zahl nur allmählich auf 40.468 zurückgegangen – die Kosten im Sozialhaushalt der Stadt sind gestiegen. Denn die Sanktionen haben ja nicht den Sinn, den Stadthaushalt zu entlasten, sondern den Finanzminister in Berlin. Es sind die Unterhaltszahlungen für die SGB-II-Betroffenen, die gekürzt werden. Bei Unterkunftskosten zahlen hübsch die Kommunen die Zeche. Und schauen verdattert in den Wind, wenn nun auch noch die Mieten steigen.

Und die Kinder?

Da kann man sich schon vage vorstellen, dass die zu dieser Art Politik, wenn sie mal groß sind, wenig bis gar kein Vertrauen haben werden.

Denn seit 2010 schmilzt die Zahl der Kinder in Bedarfsgemeinschaften nicht mehr ab, sondern ist wieder angestiegen – von 15.154 auf 16.394. Statistisch sind das 23,5 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren. Und das ist nun seit Jahren so und zeigt sehr deutlich, dass sich Armut und Bedürftigkeit in einem Teil der Leipziger Bevölkerung regelrecht verfestigt haben.

Und da steckt die nächste Märchenerzählung, mit der sich Leipzigs Stadtspitze die Welt schön malt. Sie rechnet ja gern diverse Armutsgefährdungsquoten aus – eine am Landesdurchschnitt (2014 waren es 16 %), eine am Stadtdurchschnitt (das waren 15,3 %). Aber beide Quoten nehmen wir einfach nicht mehr ernst, weil sie ein sowieso schon deutlich niedrigeres Einkommensniveau zum Ausgang nehmen. Aber von den Mieten abgesehen unterscheiden sich die Lebenshaltungskosten in Sachsen nicht die Bohne vom Bundesdurchschnitt, etliche Kosten (siehe ÖPNV) liegen sogar drüber.

Tatsächlich entspricht die Quote der Kinder in Bedarfsgemeinschaften ziemlich genau der Armutsgefährdungsquote im Bundesvergleich. Die lag in Leipzig 2014 bei 24,1 Prozent. Und wenn Leipzig kein Programm entwickelt, diese 24 Prozent aus der Armut herauszuholen, hat Leipzig ein Problem. Ein fest verbautes. Man kann nicht immer nur Politik für die oberen 50 Prozent machen. Denn Armut, wenn sie sich dauerhaft in so einer Größenordnung verfestigt, sorgt nicht nur für nicht mehr zu bewältigende soziale Verwerfungen, sie sorgt auch für massive Dauerbelastungen der Haushalte.

Die nächste kündigt sich ja an – just in einer Zeit, in der die großen Medien wieder voller vollmundiger Behauptungen sind, es würde gar keine Armutsrenten geben.

Wenn 28 Prozent der 50- bis 64-Jährigen (siehe „Bürgerumfrage 2015“) ein Monatsnettoeinkommen unter 1.000 Euro haben, ist ihnen eine Rentenarmut sicher. Und wir erinnern nur an die Warnung der Gewerkschaften, dass auch der Mindestlohn nicht gegen Altersarmut hilft. Wenn man auch diese Verdienstbereiche mit einrechnet, sind 63 Prozent der Leipziger zwischen 50 und 65 von Altersarmut bedroht, bei den 35- bis 49-Jährigen sind es 53 Prozent. Das würde eigentlich als Ansporn, sich um eine gut bezahlte Stelle zu bemühen, völlig genügen. Sanktionen sind völlig überflüssig. Aber im Kopf von Zuchtmeistern und Bürokraten geht es nicht ohne Peitsche.

Die Realität des Arbeitsmarktes ist ihnen so fremd wie Timbuktu.

Die Menschen, die sie dabei malträtieren, sind es sowieso. Die werden erst sichtbar, wenn Leipzigs Statistiker die SGB-II-Zahlen auf Ortsteilebene spiegeln. Und dann mit nüchternem Entsetzen feststellen, dass der Stadt-Durchschnitt der Betroffenenheit zwar bei 14,8 Prozent liegt, Ortsteile wie Volkmarsdorf oder Grünau-Mitte aber satt über 30 Prozent kommen. Und noch eins drauf: „Noch wesentlich deutlicher fällt die Spreizung beim Anteil sozialgeldbeziehender Kinder an allen Kindern bis 15 Jahre aus.“ Da werden dann in Volkmarsdorf nämlich Quoten von 60,3 Prozent oder in Grünau-Mitte 53,1 Prozent erreicht.

Das hat nur ganz bedingt damit zu tun, dass hier auch die Migrantenanteile höher sind.

Aber dazu kommen wir noch.

In eigener Sache – Eine L-IZ.de für alle: Wir suchen „Freikäufer“

Eine L-IZ.de für alle: Wir suchen „Freikäufer“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar