Das Leibniz-Jahr geht zu Ende und auch Leipzigs Statistiker würdigen den Burschen noch einmal auf ihre Art, der 1646 in Leipzig geboren wurde und vor 300 Jahren in Hannover starb. Ruth Schmidt, Leiterin des Amtes für Statistik und Wahlen, hat ihm im neuen Quartalsbericht eine kleine Würdigung gegeben. Denn auch an Statistik hat der Tausendsassa schon gedacht. Oder war es eher Big Data?

Denn dass er sich mit Rechenmaschinen und Binärcode beschäftigt hat, ist ja bekannt. Beides übrigens Ende der 1670er Jahre, kurz bevor er 1680 seine Ideen zur Anlage eines Staatsarchivs und der Sammlung aller dem Landesherrn verfügbaren Daten in der Schrift „Entwurf gewisser Staats-Tafeln“ niederlegte. 1685 legte er die Arbeit seinem damaligen  Landesherrn, dem Fürsten Johann Friedrich von Hannover, vor. Übrigens nicht sein erster Versuch, einen Regierenden von der Nützlichkeit geordneter und sortierter Daten über sein Land zu überzeugen. 1670 hat er das auch schon beim Kurfürsten von Mainz versucht, worauf Gert G. Wagner 2008 hinwies. Dessen kleine Ausarbeitung zu Leibniz’ Schrift haben wir unterm Text verlinkt.

Auch er kommt – wie Ruth Schmidt – zu der etwas resignierenden Feststellung, dass die Anregungen des Mathematikers und Philosophen augenscheinlich bei den regierenden Herren nicht mal eine kleine Erleuchtung auslösten. Was möglicherweise daran lag, dass sie nicht mal verstanden, was er da eigentlich bezweckte.

Denn Mathematik oder gar Ökonomie gehörten nicht zur Ausbildung der damaligen Theologen und Adligen. Selbst an den Universitäten suchte man diese Fächer vergeblich als eigenständige Ausbildungszweige. Leibniz selbst hatte in Leipzig Jura und Philosophie studiert. Die Grundlagen seines mathematischen Denkens hat er sich nachrichtlich mit 12 Jahren selbst angeeignet. Wissenschaftler wissen das, dass man sich ein Grundgerüst logischen Denkens tatsächlich erst einmal aneignen muss. Wenn man es erst einmal hat, kommt man gar nicht mehr auf den Gedanken, dass andere Menschen nicht mit derselben Logik denken könnten.

Fürsten zum Beispiel und andere Souveräne. Man spürt diesen Leibnizschen Willen, die Welt nicht nur logisch zu interpretieren, sondern auch mit mathematischer Vernunft zu verwalten, auch in seinen anderen Schriften. Bis hin zur „Theodizee“.

Just das Buch, das Voltaire geradezu mit Schärfe und bitterstem Sarkasmus angriff, als er seinen „Candide“ schrieb. Was sich nicht nur aus Voltaires angriffslustigem Atheismus erklärt, sondern auch aus seiner Position als scharfer Kritiker der herrschenden Zustände, die er schlicht als barbarisch empfand.

Da trafen sich zwei der klügsten Köpfe auf Augenhöhe – und schienen verfeindet wie Hund und Katz.

Obwohl beide eigentlich dasselbe wollten: eine vernünftig regierte Welt.

Und beide setzten auf dieselben Personen: die Fürsten. Leibniz auf den in Hannover, Voltaire auf Friedrich II. von Preußen. Und während Voltaire in aller Bitternis enttäuscht wurde (und mit dem „Candide“ auch die Abrechnung über seinen Ex-Freund Friedrich Zwo schrieb), scheint sich Leibniz arrangiert zu haben. Dass er bitterböse Briefe oder Satiren geschrieben hätte, ist nicht bekannt.

Was auch mit seiner eigenen Positionierung zu tun hat: Er empfand sich vor allem als Wissenschaftler und als Teil einer europäischen Gelehrtenrepublik, die fest davon überzeugt war, dass Aufklärung vor allem auch Aufklärungsarbeit war. Irgendwann musste man ja auch die Regierenden auf eine höhere Stufe der Erkenntnis bringen, ihnen die Instrumente zum besseren Regieren in die Hand geben. Wenn sie erst mal lernten, besser zu regieren, würde sich die Welt ganz von allein in eine bessere verwandeln, am Ende sogar in die beste aller möglichen.

Ein Irrtum übrigens, dem auch schon andere erlegen waren – man denke an Thomas Morus oder Francis Bacon.

Was nicht bedeutet, dass die Ideen, die Leibniz da aufgeschrieben hatte, nicht nützlich waren. Die Zeit war nur noch nicht reif. Er war damit – wie bei den meisten seiner Ideen – viel zu früh dran. Den Durchbruch schaffte erst 60 Jahre später der preußische Pfarrer Johann Peter Süßmilch. Natürlich in Preußen, das mit Friedrich II. tatsächlich einen der modernsten europäischen Herrscher hatte – nach damaligen Maßstäben auf jeden Fall. Der Mann hatte schon so eine Ahnung, was man mit gut sortierten Daten über einen Staat, der ein paar Kriege gegen deutlich größere Gegner führen sollte, anfangen konnte.

Denn was Leibniz einst aufgeschrieben hatte, war ja schlicht die Anregung, Staatsgeschäfte planbar zu machen, indem man alle verfügbaren Daten zentral sammelte. „Die Staats-Tafeln sollten ‚ein Schlüssel sein … aller Archiven und Registraturen des ganzen Landes, als deren Rubriken und Register also einzurichten, dass sie endlich in diese Staats-Tafel als in ein Zentrum zusammenlaufen‘“, zitiert Wagner aus Leibniz’ Schrift.

Ein Fürst, der alle diese Daten hat und auch lesen kann, der weiß, wie viele Soldaten er ausheben kann, welche Steuereinnahmen er hat, was seine Straßen kosten und welche Gewerbe besonders viele Steuern bringen, wie gut oder schlecht das Gesundheitswesen ist und wie die Ernten ausfallen. Für so einen Fürsten wird sichtbar, dass ein Staat eben nicht nur ein Verwaltungsapparat für Untertanen ist, sondern alles umfasst: Landwirtschaft, Ökonomie, Bildung und – das hat sogar Friedrich II. begriffen – Armenfürsorge.

Übrigens ein Aspekt, der im zweiten Band der großen „Geschichte der Stadt Leipzig“ wie beiläufig auftaucht und zwar ziemlich überraschend, weil man das nach all den Helden-, Messe- und Musikgeschichten nicht erwartet hat: Sämtliche Staatsmodernisierungen der Neuzeit haben ihre Ursachen darin, dass die Regierenden das immer neu auftauchende Armutsproblem lösen wollten. In Leipzig und Sachsen genauso wie in Preußen.

Die Entdeckung, dass das etwas mit Bildung und mit einer ordentlichen Statistik zu tun haben muss, war schon früh Bestandteil der Aufklärung. Auch wenn Leibniz wohl die Fähigkeit der Fürsten, seine Gedanken zu einer ordentlichen Staats-Statistik zu verstehen, überschätzt hat.

Sie kam dann trotzdem, weil sich auch die Staaten veränderten. Was nicht heißt, dass die heutigen „Fürsten“ mit den „Staats-Tafeln“ mehr anfangen können als die Fürsten zu Leibniz’ Zeit. Denn als mathematischer Kopf wusste er ja, was man mit solchen Zahlen- und Zeitreihen machen konnte. Was übrigens auf unsere Gegenwart verweist. Denn es sind sichtlich nicht die Regierungen, die mit dem gesammelten Datenmaterial klug umgehen – im Gegenteil: Sie sind damit meist regelrecht ratlos, auch was die Frage betrifft, ob und wie diese Daten missbraucht werden können. Ein paar clevere Unternehmer aber haben es längst erkannt und haben ganz neue Apparate entwickelt, noch mehr Daten zu sammeln und vor allem: miteinander zu verknüpfen.

Was man über Untertanen weiß, lässt sich eben nicht nur zu kluger Politik verwenden (was eher selten geschieht), sondern zu cleveren Geschäften ge- und missbrauchen. Leibniz hatte sich noch Gedanken gemacht über die Zugriffsrechte auf die gesammelten Daten – auch über die Frage, ob der Fürst nun tatsächlich auf alle Datensätze zugreifen darf oder nicht.

Heute scheint jeder Geheimdienst auf alles zugreifen zu dürfen und den großen Datensammlern von Big Data ist keine Grenze mehr heilig. Was Leibniz als nützliches Regierungsinstrument betrachtet hat, ist in den Händen von Geschäftemachern zu etwas geworden, wovon Leibniz wahrscheinlich nicht mal träumen konnte. Das hätte eher ein Voltaire den Leuten zugetraut, die aus unserer Welt alles Mögliche machen, nur nicht die bestmögliche Welt.

Der Statistische Quartalsbericht III / 2016 ist im Internet unter www.leipzig.de/statistik unter „Veröffentlichungen“ einzusehen. Er ist zudem für 7 Euro (bei Versand zuzüglich Versandkosten) beim Amt für Statistik und Wahlen erhältlich.

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