Wie misst man eigentlich Wohlstand? Was ist das überhaupt? Seit ein paar Jahren diskutieren Politiker und Statistiker darüber. Und finden keinen gemeinsamen Nenner. Nur eines ist längst klar: Allein das Bruttoinlandsprodukt (BIP) reicht nicht. Das kann gewaltig hoch sein – und die Menschen sind trotzdem noch arm. Sogar mit viel Geld kann man arm sein, wenn Umwelt und Lebensqualität kaputt sind.

Im neuen Quartalsbericht beschäftigt sich Sylvia Hoffmann, Mitarbeiterin im Statistischen Landesamt des Freistaats Sachsen, mit dem Thema. Sie geht auch auf den Beginn der Diskussion in Deutschland ein. Das war 2009. Diese Diskussion ist – so beschreibt es Hoffmann – in einem Kompromiss gestrandet. Denn ein Großteil der Diskutanten will vom geliebten BIP nicht weichen.

Auch wenn das BIP nichts anderes beschreibt als den Gesamtumsatz aller Wirtschaftsleistungen. Es beschreibt nicht, wie die Infrastrukturen der Städte sind, wie viel Kultur es gibt, wie gerecht die Löhne sind oder wie hoch die Armut, wie gesund das Klima oder wie kaputt die Umwelt, wie sauber das Trinkwasser oder wie gut das Bildungssystem. Nichts davon wird erfasst.

Der Kompromiss sieht so aus, dass das BIP um einige Indikatoren ergänzt wird. Wie schwer das ist, zeigt schon Hoffmanns komprimierter Satz: „Für die Messung von Wohlstand, Lebensqualität, nachhaltiger Entwicklung und gesellschaftlichem Fortschritt sollten Indikatoren aus allen drei Dimensionen (Ökonomie, Soziales, Ökologie) herangezogen werden.

Der Streit schwelt bis heute. Selbst 2014, als die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ ihren Bericht vorlegte, kam es zu keiner Einigung. Aber zumindest kann man für 24 der 25 Indikatoren aus dem definierten Set Daten aus allen Bundesländern bekommen.

Hoffmann ist sich bewusst, dass ein solcher Vergleich nur ein gewisser Überblick sein kann. Eine Art Diskussionsgrundlage. Denn man sieht zumindest, wo jedes Bundesland im Bundesvergleich liegt. Sie hat die Daten für das Jahr 2015 grafisch aufgearbeitet.

Dass Sachsen wirtschaftlich am Ende der Skala rangiert, war zu erwarten. Bei der Dimension Wirtschaftsleistung rangiert es nur in einem einzigen Indikator ganz vorn: Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung. Es arbeiten also in Sachsen prozentual mehr Menschen – aber sie erwirtschaften ein deutlich niedrigeres BIP. Das hat mit Wohlstand sichtlich nichts zu tun. Denn gleichzeitig sind die Einkommen und die Konsumausgaben der Sachsen im Keller.

Das Indikatorenset zur Lebensqualität ist im Grunde ein Witz. Warum die Statistiker glauben, dass der „Anteil von Arbeitnehmern in der Schichtarbeit“ und der „Anteil gültiger Stimmen bei der Bundestagswahl“ irgendetwas mit Lebensqualität zu tun haben, ist ein Rätsel. In beiden Kategorien liegt Sachsen übrigens in der Spitzengruppe, während das Bundesland beim Anteil von Schülern und Studierenden an der Gesamtbevölkerung, bei Sportvereinsmitgliedschaften und Armutsgefährdung wieder zu den Schlusslichtern gehört. Das hat nicht nur mit der Überalterung zu tun. Die Armutsgefährdung resultiert direkt aus der jahrelang gepflegten Niedriglohnpolitik.

Selbst bei Lebensqualität schmiert der Freistaat also ab. Und das bei einem sichtlich sehr willkürlichen Indikatorenbündel.

Was passiert erst, wenn man ein wirklich belastbares Indikatorenbündel zusammenstellen würde?

Mal so als Vorschlag:

  1. Verhältnis von Arbeitszeit zu Freizeit
    2. Schulden und Insolvenzen
    3. Ausgaben für Kultur und Bildung
    4. Bildungschancen
    5. Lohngerechtigkeit zwischen Frauen und Männern
    6. Integrationsquote
    7. Krankheitstage pro Erwerbstätigen
    8. Verschreibung von Psychopharmaka
    9. Anzahl von Reisen pro Jahr und Kopf
    10. Fahrradnutzung pro Einwohner
    11. Volkskrankheiten
    12. Ausgaben für Suchtmittel
    13. Mobilitätskosten

usw.

Die ausgewählten Dimensionen sind schon richtig – die gewählten Indikatoren aber sind eigentlich, wenn man wirklich ein stimmiges Bild bekommen möchte, eine Katastrophe. Sie lassen ahnen, wie sehr die Akteure wirklich eindeutige Bilder und Aussagen vermeiden wollen.

Und vor allem: Wie sie bemüht sind, die Dimensionen zu verwässern. Die Investitionsquote steckt mit in der Nachhaltigkeit, obwohl sie zur Wirtschaftsleistung gehört. Sachsen scheint hier sogar zu führen, obwohl der Ansatz Quatsch ist: Wer von einem niedrigen Haushalt eine etwas höhere Quote in Beton investiert, hat trotzdem noch weniger Geld ausgegeben als ein reicheres Land mit niedrigerer Investitionsquote. Und ob das Geld gescheit oder gar nachhaltig ausgegeben wurde, zeigt der Indikator auch nicht.

Genauso wenig, ob eine niedrige Verschuldung wirklich ein Zeichen  für Nachhaltigkeit ist. Sachsen ist ja von diesem Indikator geradezu besessen. Nur haben die zuständigen Sparmeister nicht mal die leiseste Ahnung, warum dieser niedrige Finanzierungssaldo mit einer extrem niedrigen privaten Kreditaufnahme zusammenhängt. Auch noch im Verhältnis zum BIP. Das heißt: Obwohl das sächsische BIP schon niedrig ist, ist die Kreditaufnahme der Privaten im Vergleich noch niedriger. Übrigens auch das ein Indikator, der nicht unter Nachhaltigkeit gehört, sondern unter Wirtschaftsleistung. Denn genau hier steckt die Tatsache, dass die eigentlich wichtige private Investitionsquote in Sachsen im Keller ist. Das erzählt eigentlich von einer Stagnation.

Wer die Indikatoren derart durcheinanderwürfelt, der schafft natürlich keine Klarheit darüber, wo Sachsen tatsächlich steht. Der verwischt die Zustände eher und ebenso den wichtigsten Zusammenhang: Dass all die Posten, wo Sachsen zu den Schlusslichtern gehört, mit einer Entwertung zu tun haben. Denn Wohlstand hat mit der In-Wert-Setzung von allem zu tun, was unser Leben ausmacht. Wenn man aber Arbeitskraft derart systematisch entwertet, wie das in Sachsen passiert ist, hat das Folgen. Dann wird auch (Frei-)Zeit entwertet, Mobilität (die hier gar nicht vorkommt), Dienstleistung (die auch nicht vorkommt), aber auch kommunale Selbstbestimmung und Natur. Der Zustand der sächsischen Naturschutzräume ist im Grunde desolat – und die zuständigen Minister weichen jeder Kritik mit Schweigen aus.

Dazu passt dann natürlich dieser Mischmasch aus Indikatoren. Denn die Diskussion um die Messung von Wohlstand ist ja vor allem daran gescheitert, weil sich die Liebhaber des Geldes mit allen Mitteln dagegen wehren, Grundqualitäten für alle Bürger zu definieren. An solchen Grundqualitäten wäre nämlich die Qualität von Politik und politischer Arbeit zu messen. Aber genau das ist nicht gewollt.

Da hilft auch eine schöne Erklärung zur Tabelle nichts: Sie ist das Eingeständnis einer vergeigten Diskussion und der Verweigerung einer echten Aufgabe.

Wohlstand lässt sich sehr wohl messen.

Und da ist man bei Martin Schulz und seinem kleinen Zauberwort Gerechtigkeit. Das gern falsch verstanden wird (auch von Martin Schulz). Es geht gar nicht darum, dass alle Menschen gleich behandelt werden, gleichermaßen gerecht (da ist man schnell bei der Gleichmacherei). Es geht um etwas anderes – genau das, was da gärt in der politischen Landschaft und endlich einen sucht, der sich drum kümmert: ein menschengerechtes Leben.

Das lässt sich herstellen mit den Mitteln, die wir haben. Aber dazu muss man bereit sein, es zulassen zu wollen und klare Qualitätsparameter dafür zu definieren.

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