Augenscheinlich haben doch wieder fast alle Kollegen auf den großen Aufreger geschaut: Kriminalität und Sicherheit in Leipzig. 48 Prozent der befragten Leipziger nannten es in der „Bürgerumfrage 2016“ als „größtes Problem“. Das schien wie eine Bestätigung für die wilde Kriminalitätsberichterstattung in der Stadt. Oder ist es vielleicht andersherum?

Halten auflagebesessene Zeitungen die (älteren) Leipziger mit der Story bei der Stange, in Leipzig wäre es besonders kriminell? Die Stadt wäre besonders unsicher? Dabei wissen gerade die Endredakteure sehr genau, dass man mit Angst und Schrecken besonders viel Aufmerksamkeit erzeugt. Ob das eine besonders gute ist, fragen sie sich nicht.

Denn Fakt ist auch: Je mehr die Kanäle mit Mord, Raub und Überfällen gefüllt sind, umso weniger Aufmerksamkeit bleibt für die Dinge, die ein OBM wirklich ändern kann und anpacken muss.

Die geraten nämlich aus dem Fokus. Und es dauert quälend lange, bis all jene, die wirklich wissen, wie brennend so ein Thema ist, es tatsächlich endlich in die Aufmerksamkeit der hohen Stadtpolitik gehoben haben. Wenn die einen immerfort schreien: „Sicherheit ist das Thema!“, bleibt wenig Aufmerksamkeit für solche scheinbar kleinen Themen wie Öffentlicher Nahverkehr (ÖPNV).

Obwohl alle wissen, dass Leipzigs OBM an der Sicherheitslage in Leipzig wenig ändern kann, sondern dafür mehr Polizisten gebraucht werden, was er ja am Dienstag, 28. März, deutlich forderte. Wahrscheinlich hatte er vorher wieder die einschlägige Zeitung gelesen, die da titelte „Leipzig punktet mit Natur und setzt Image mit Kriminalität aufs Spiel“. Ein Vorwurf, dem OBM Burkhard Jung mit der Forderung nach mehr Polizei begegnete. Und darauf reagierte dann wieder die Leipziger CDU, die den OBM aufforderte, weniger Kaffee mit den Linksautonomen zu trinken.

„Burkhard Jung sollte beim Thema Sicherheit ehrlich sein. Wer Hausbesetzer zu Kaffee und Kuchen einlädt, braucht nicht den Freistaat in die Alleinverantwortung für mehr Sicherheit nehmen“, erklärte Kreisvorsitzender Robert Clemen.

Man kann sich wirklich richtig aufregen über das Thema Sicherheit und Kriminalität.

Aber es lenkt ab. Zum Beispiel vom genannten Thema ÖPNV. Nicht alle Leipziger nutzen ihn. Aber er beeinflusst das Leben in der Stadt viel stärker als alle Kriminalität. Er sorgt dafür, ob sich Menschen Mobilität (noch) leisten können, ob man ohne Auto schnell und barrierefrei von A nach B kommt (oder gar an den See, nicht wahr, liebe Politiker?), ob man vom Theater- oder Konzertabend gut nach Hause kommt, ob man ohne blaue Flecken zur Arbeit kommt usw.

Aber man muss ihn sich leisten können. Und die Bahnen müssen pünktlich fahren. Und vor allem durchkommen. Denn es ist ein reibungsloser ÖPNV, der erst dafür sorgt, dass auch Autos reibungslos durchkommen, nicht umgekehrt.

Aber was bedeutet es, wenn 11 Prozent der Befragten sagen „ÖPNV ist das größte Problem“?

Eine ganze Menge. Denn es gab Zeiten, da wurde der ÖPNV in Leipzig eben nicht als Problem angesehen. Das haben einige Leute einfach verschlafen. 2005 empfanden nicht mal 2 Prozent der Leipziger den ÖPNV als „größtes Problem“, 2010 waren es 4 Prozent, auch noch nicht so viel. 2015 sprang der Wert erstmals auf 8 Prozent. Jetzt sind es 11.

Wer die Ergebnisse der Bürgerumfrage ernst nimmt, der sieht, welch einen langen Vorlauf die Problemwahrnehmung der Leipziger hat.

Was übrigens auch auf das oben erwähnte Problem „Kriminalität und Sicherheit“ zutrifft. Das wurde schon immer ernst genommen, lag aber über Jahre immer im 29-Prozent-Bereich und damit deutlich hinter der Arbeitsplatzsituation und der Verschuldung der Stadt. Dass der Wert 2015 auf 49 Prozent schnellte, hat damit zu tun: Nicht nur, weil mehr Leipziger jetzt wertvollen Hausrat verlieren können, sondern weil parallel die Beschaffungskriminalität angezogen hat – vor allem Wohnungseinbrüche. Und das hat wieder mit dem Bevölkerungswachstum zu tun und dem, was Burkhard Jung benannt hat: Als Leipzig begann, heftig an Bevölkerung zuzunehmen – 2010 so als Fixpunkt – begann der sächsische Innenminister gerade mit dem Radikalsparprogramm bei der Polizei.

Was auch Robert Clemen so bestätigt: „Wir müssen für eine hervorragende personelle wie materielle Ausstattung der Polizei sorgen. Das ist eine Reaktion auf die Ereignisse der vergangenen zwei Jahre und da kann es keine Diskussion geben. Aber jeder Staatsdiener, auch Herr Jung, muss erstmal seinen originären Pflichten nachkommen.“

Vielleicht hört ja Innenminister Markus Ulbig (CDU) die Botschaft.

Und was ist mit dem ÖPNV?

Der hat natürlich dieselben Problemursachen: starkes Bevölkerungswachstum, steigende Passagierzahlen, Engpässe im Netz, Staus auf den Straßen und rasant steigende Preise, die sich ein gut Teil der Leipziger nicht mehr leisten kann.

Und die Bürgerumfrage zeigt, wie die Fieberkurve so langsam stieg. Und weiter steigt. So langsam kommt sie da hin, wo Schulen (15 Prozent der Nennungen) und Kindertagesstätten (ebenfalls 15 Prozent) schon sind. Auch da ist Leipzig, wie man weiß, jeweils mit fünf Jahren Verzögerung in die Lösung der Probleme gestartet – und steckt noch mittendrin, wie alle Eltern wissen.

Der ÖPNV kommt jetzt dazu.

Und das betrifft auch wieder nicht nur die LVB. Wenn gleich mehrere Bürgervereine eine Initiative starten, dass die S-Bahn nach Grünau endlich im 15-Minuten-Takt fährt (derzeit sind es 30 Minuten), dann hat da jemand in der Planung getrieft. Der Zweckverband Nahverkehr Leipzig (ZVNL) meldet, dass es an zusätzlichen Fahrzeugen fehlt.

Aber dass sie fehlen, zeigt einmal mehr, dass man die Attraktion der S 1 von Grünau über Leutzsch und Gohlis zum Hauptbahnhof völlig falsch eingeschätzt hat. Augenscheinlich fehlt es wirklich an kompetenten Verkehrssplanern, die auch die nötigen Reserven für solche Projekte ausrechnen können. Und die auch einschätzen können, wann die Reserven erschöpft sind und zusätzliche Wagen gebraucht werden.

Dasselbe Thema haben die LVB. Und deswegen geht zu Recht das Stirnrunzeln um im Rathaus: Warum hat der OBM alle drei Szenarien für den Nahverkehr zurückgezogen? Gingen sie ihm zu weit? Waren sie zu teuer? Oder waren sie wieder zu kurz gedacht?

Denn eins ist absehbar: Leipzig braucht im Jahr 2017 ein neues ÖPNV-Konzept für eine Stadt mit 700.000 Einwohnern und 25 Prozent ÖPNV-Anteil. Zeit zum Aussitzen hat dieses Thema nicht mehr.

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https://www.l-iz.de/bildung/medien/2017/03/in-eigener-sache-wir-knacken-gemeinsam-die-250-kaufen-den-melder-frei-154108

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Es gibt 2 Kommentare

@Monika
Am Ende dieser pdf steht, wie du an die Daten kommst
http://www.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/02.1_Dez1_Allgemeine_Verwaltung/12_Statistik_und_Wahlen/Stadtforschung/Buergerumfrage2016-1.pdf

Erfahrungsgemäß gibt es am Ende ca. 6.000 beantwortete Fragebögen, die nach den entsprechenden soziodemographischen Kriterien ausgewertet werden. Eine repräsentativere Befragung als die kommunale Bürgerumfrage in Leipzig wird es kaum in einer anderen Stadt, Region oder Land geben.

Diese Bürgerumfrage ist meiner Meinung nach nicht repräsentativ, man müsste mal herausbekommen, wieviele Bürger prozentual gegenüber der Gesamtbevölkerung ihre Bögen zurückgeschickt hatten. Wenn man mit der Bimmel unterwegs sein muss, so sieht man deutlich, dass diese teilweise total überfüllt und auch verschmutzt sind!

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