Man hole sich einfach einen angehenden Geografen ins Amt, lasse ihn ein bisschen mit den Daten spielen, und fertig ist ein Leipzig, wie es die Leipziger noch nicht gesehen haben. Was nicht daran liegt, dass der Bursche aus Bochum kam, der da sein Praktikum im Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig absolviert hat.

Marco Dessauer studiert an der Ruhr-Universität Bochum Geografie. Und dort lernt man auch, dass man Daten auch in Karten ganz unterschiedlich darstellen kann, um Phänomene sichtbar zu machen, die man sonst nicht einnorden kann. Die meisten Menschen haben kein Vorstellungsvermögen, das sie einordnen lassen kann, was es bedeutet, wenn sich zum Beispiel Ortsteile bei Bevölkerungszahl, Einkommen, Mietbelastung oder Arbeitslosenquote drastisch unterscheiden. Auf den üblichen Karten sieht alles gleich aus. Die Leipziger Ortsteile sind zwar nicht alle gleich groß. Die im Stadtinneren wirken geradezu winzig gegen die riesigen Ortsteile am Stadtrand.

Aber man vergisst, dass die äußeren Ortsteile zumeist Dörfer mit großen Flächen an Feldern und Wäldern sind – dafür mit deutlich weniger Bevölkerung. Die Einwohnerdichte ist deutlich geringer als selbst in den Ortsteilen rund um die Leipziger Mitte. Aber wenn einer nur die übliche Leipzig-Karte sieht, dann neigt er natürlich auch dazu, die Notwendigkeiten der Stadt anders zu betrachten. Dann scheinen manche Probleme vom Rand eindeutig wichtiger. Man nehme nur die Leipziger Radwegepolitik, die seit einigen Jahren die Hauptinvestitionen in Radwegeverbindungen in den Randortsteilen gelegt hat.

Alles wichtig und völlig berechtigt.

Aber aus dem Blick geriet dabei völlig, dass es im viel dichteren Wegenetz im Stadtinneren viel mehr Probleme und Konflikte gibt, wo es auch mit der Verbesserung einzelner Radwege nicht getan ist. Man braucht dort komplexere Lösungen.

Aber wenn alles gleich ist – wer sieht die Notwendigkeit? Auch Bürgermeister sind nur Menschen. Und sie neigen dazu, Wortmeldungen gleich zu wichten, wenn sie aus unterschiedlichen Ortslagen kommen. Selbst in Gedanken können sie sich nicht ausmalen, was es bedeutet, wenn von der Lösung des Problems 2.500 Einwohner abhängen (wie im riesigen Ortsteil Seehausen) oder 24.800 wie im winzigen Ortsteil Südvorstadt. Seehausen als Ortsteil ist mit 18,8 Quadratkilometern Fläche über acht Mal größer als die Südvorstadt – hat aber nur ein Zehntel der Einwohnerschaft.

Das ist nur ein Beispiel. Marco Dessauer hat zu seinem Beitrag im Quartalsbericht IV/2016 alle Daten zu Bevölkerung und Fläche der Ortsteile mitgeliefert und auch genau erklärt, was er dann gemacht hat. Er hat die normale Leipzig-Karte anamorph verzerrt. Dazu hat er einen schon von Wissenschaftlern entwickelten Algorithmus verwendet, der die flächig dargestellten Ortsteile anhand der Einwohnerzahlen proportional verzerrt.

Das Ergebnis ist ein kugeliges Leipzig, das gewaltig aufgeblasen wirkt, weil natürlich die größten Einwohnerdichten alle im Zentrum der Stadt zu finden sind. Die inneren Ortsteile wachsen also gewaltig, die am Rand schrumpfen zu schmalen Streifen zusammen. Auch Seehausen wird zu einem kleinen struppigen Auswuchs am Oberrand der Karte.

Dafür sieht man, wie scheinbar winzige Ortsteile im Inneren auf einmal zu großflächigen Landschaften werden. Es wird sichtbar, wo tatsächlich „ganz viele“ Leipziger wohnen. Und die Südvorstadt gehört sichtlich dazu, ist auch noch in dickem Braun zu sehen, weil hier über 20.000 Menschen mit Hauptwohnsitz gemeldet sind.

In dieser Liga spielt sonst nur noch Reudnitz-Thonberg. Aber deutlich mehr optisches Gewicht gewinnen auch Ortsteile wie Gohlis-Süd mit fast 18.000 und Gohlis-Mitte mit fast 16.000 Einwohnern, Altlindenau wird auf einmal zum Hingucker mit über 16.000, ganz ähnlich wie Plagwitz mit 15.000 oder Connewitz mit über 18.000 Einwohnern.

Was einen sofort an die übliche Stadtdiskussion denken lässt, wenn Leute aus Thekla (5.716 Einwohner) darüber schimpfen, was diese Connewitzer nun wieder mal angestellt haben. Die Größenverhältnisse stimmen nicht. Aus der Randlage wird über einen bevölkerungsmäßig sehr großen Stadtteil geschimpft, als würde der nur von 200 unbelehrbaren Autonomen bewohnt.

Aber man sieht auch, wie stark die einstigen Vorstädte der alten, winzigen Stadt Leipzig gewachsen sind. Auch Zentrum-Nordwest (das Waldstraßenviertel), Zentrum-West (Westvorstadt und Bachstraßenviertel) und Zentrum-Süd (mit Musikviertel) gehören mit jeweils über 10.000 Einwohnern längst zu den bevölkerungsreichen Leipziger Ortsteilen.

Und wenn man so eine Karte hat, kann man sie natürlich wieder thematisch einfärben, was auf einmal den „riesigen“ Ortsteil Schleußig aufleuchten lässt: Hier wohnen über 12.000 Menschen auf engstem Raum und haben auch noch die höchsten Einkommen aller Leipziger, wenn man von solchen Dörfern wie Plaußig-Portitz, Baalsdorf und Althen-Kleinpösna absieht.

Wenn man aber die Mietbelastung einfärbt, fallen auf einmal das Zentrum-Südost und Neustadt-Neuschönefeld auf. Was überrascht. Dass in Neustadt-Neuschönefeld viele Ausländer und Arbeitslose wohnen, ist bekannt, dass sie aber gleichzeitig den höchsten Anteil an Mietbelastung am Einkommen haben, das überrascht. Und sollte eigentlich der Obrigkeit sehr zu denken geben, denn wer über 39 Prozent vom eh schon kargen Einkommen für die Miete hinblättert, der hat nicht mehr viel Geld für die gesellschaftliche Teilhabe übrig. Aber Neustadt-Neuschönefeld fällt noch durch etwas anderes auf: den stadtweit höchsten Studierendenanteil. Damit hat der Ortsteil die einstigen Studi-Hochburgen Südvorstadt, Plagwitz, Lindenau und Reudnitz abgelöst.

Man kann also die auf Grundlage der Einwohnerzahl gewonnene anamorphe Karte auch dazu nutzen, bestimmte Probleme der Stadt in ihrer Wichtigkeit sichtbar zu machen. Wenn sichtlich „große“ Ortsteile unter großen Problemen leiden, dann ist logischerweise auch der Handlungsdruck größer. Die Karte ruft geradezu nach Handlung – und nach einer völlig anderen Wichtung von Politik. Denn bislang dominiert noch die Kilometer- und Flächenpolitik, wird gern so getan, als sei Gleichgroßes auch gleich wichtig. Was aber schlicht nicht der Fall ist, wenn ländlich dominierte Gebiete mit dicht besiedelten Ortsteilen im Stadtinneren in Konkurrenz stehen, wo sich in der Regel auch mehrere Probleme regelrecht ballen oder stapeln.

Was übrigens auch ein Problem der sächsischen Politik ist, die die großen, konzentrierten Städte genauso behandelt wie die breiten ländlichen Räume. Die wichtigste Lehre aus so einer Karte ist: Was gleich aussieht, darf überhaupt nicht gleich behandelt werden.

Ob es freilich hilft, Politiker vom Gießkannendenken abzubringen, das darf bezweifelt werden.

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