Nicht immer sind es steigende Exporte oder neue Umsatzrekorde, die die Wirtschaftsleistung in einer Region voranbringen. Was augenscheinlich die ostdeutschen Bundesländer besonders betrifft. Bei den Wachstumszahlen für 2017 blieben sie deutlich hinter den westlichen Bundesländern zurück. Das könnte einen ziemlich fatalen Grund haben, stellt das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) fest.

Das hat sich auch den Kopf zerbrochen über die Zahlen zum Wachstum des Bruttoinlandsprodukts. Das sagt nicht unbedingt wirklich aus, ob die Wirtschaft tatsächlich wächst. Aber es stecken ein paar Zahlen drin, die Rückschlüsse darauf zulassen, was vielleicht falschläuft.

Und das hat erstaunlich viel mit falscher Politik zu tun.

Was natürlich verblüfft. Denn Wirtschaftsinstitute nehmen die politische Dimension eher selten auf in ihre Analysen. Aber bei der ostdeutschen Wirtschaft geht das nicht mehr. Hier wirkt sich jetzt der nächste politische Fehler aus. Vor dem übrigens die Leipziger Handwerkskammer seit 2007 regelmäßig warnte. Aber der Ruf wurde nicht erhört.

Die Grunddaten:

Deutschlands Wirtschaft ist im Jahr 2017 um 2,2 % gewachsen. Bei näherem Hinsehen offenbart sich aber schnell, so das IWH: Die Wachstumszahlen von Bundesländern wie Bayern (+2,8 %), Bremen (+3,3 %) und Niedersachsen (+2,5 %) verheißen deutlich mehr als die der ostdeutschen Flächenländer, beispielsweise die Sachsens (+1,4 %) und vor allem Sachsen-Anhalts (0,8 %), wie die am 29. März vorgelegten BIP-Wachstumszahlen des Arbeitskreises Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder (VGRdL) für 2017 zeigen. Damit geht die Schere zwischen Ost- und Westdeutschland nicht weiter zu.

„Der Aufholprozess stagniert; die ostdeutschen Länder sollten ihre Wirtschaftspolitik mehr auf die bessere Qualifizierung der Erwerbstätigen und Innovationen ausrichten“, erklärt dazu Oliver Holtemöller, Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) und Leiter der Abteilung Makroökonomik, und legt damit schon einmal den Finger in die Wunde.

Auch einige westdeutsche Bundesländer legten einen unterdurchschnittlichen Zuwachs hin, so beispielsweise Nordrhein-Westfalen mit einem Plus von nur 1,7 %. Insgesamt bleibt das Wachstum in den ostdeutschen Flächenländern aber hinter Westdeutschland zurück. Das Bruttoinlandsprodukt in den ostdeutschen Bundesländern ohne Berlin ist 2017 nur um 1,4 % gestiegen, in Westdeutschland dagegen um 2,3 %.

Stichwort: Arbeitsproduktivität

Ein wichtiger Erklärungsfaktor ist die unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung aus Sicht des IWH:

Im Jahr 2017 nahmen in Westdeutschland 1,5 % mehr Menschen eine Arbeit auf, in den ostdeutschen Flächenländern waren es nur 0,8 %. Das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen, ein Maß für die Arbeitsproduktivität, hat in Ost- und Westdeutschland in etwa gleich stark zugelegt (West: +0,7 %, Ost inkl. Berlin: +0,5 %, Ost ohne Berlin: +0,7 %).

„Das bedeutet, dass der Aufholprozess bei der Produktivität und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit stagniert“, sagt Holtemöller.

Doch die wichtige Weichenstellung, den Osten wettbewerbsfähig zu machen, wurde nicht getan. Man darf sich durchaus an das Jahr 2011 erinnern, als die Kritik an der sächsischen Bildungspolitik immer stärker wurde. Wenig später trat Kultusminister Roland Wöller zurück, der die wilde Sparpolitik bei den Lehrern nicht mehr mittragen wollte. Und dann folgten sieben Jahre Gewürge und weiterer Stillstand mit völlig sinnfreien Flickprogrammen, weil die Tillich-Regierung keinen Plan hatte. Und keinen Mumm, das Thema Bildung da hinzusetzen, wo es nach allen vollmundigen Sonntagsreden eigentlich stehen sollte: An die Spitze der Prioritätenliste.

Jeder wusste, dass sich ab 2010/2011 die Ausbildungsjahrgänge halbieren würden. Ein simpel berechenbarer Effekt nach dem Geburteneinbruch Anfang der 1990er Jahre.

Sachsen und die anderen ostdeutschen Länder hätten also alles dafür tun müssen, die viel zu hohe Zahl von Schulabgängern ohne Abschluss zu reduzieren und möglichst viele junge Menschen zu möglichst hohen Abschlüssen zu führen.

Dazu hätte das Gebastel an „Oberschule“ und „Bildungsempfehlung“ nie gereicht. Wer Schulabgänger mit möglichst hoher Kompetenz und Flexibilität haben möchte, der baut das Bildungssystem so aus, dass fast alle Kinder die Chance auf einen möglichst hohen Lernerfolg haben.

Nichts davon ist passiert. Bis heute nicht.

Also bleibt die Empfehlung des IWH aktuell:

„Die ostdeutschen Länder sollten daher ihre Wirtschaftspolitik umstellen, um weiter aufholen zu können. Während in der Vergangenheit Investitionen in das Sachkapital im Vordergrund standen, sind jetzt qualifizierte Erwerbstätige der Engpass. Die Schulabbrecherquote ist doppelt so hoch wie in Westdeutschland, die Universitäten in den ostdeutschen Flächenländern können bei der Spitzenforschung (gemessen beispielsweise an DFG-Exzellenzclustern) insgesamt nicht mit Westdeutschland mithalten, und die ostdeutschen Flächenländer sind weniger attraktiv für qualifizierte Zuwanderer.“

Die erste Phase des Aufholprozesses in Ostdeutschland war getrieben von Investitionen.

„Jetzt braucht es innovationsgetriebenes Wachstum“, erläutert Holtemöller. „Die Treiber von Wirtschaftswachstum, Forschung und Innovation sind eher in urbanen Regionen angesiedelt. Sowohl Wirtschaft als auch Wissenschaft müssen vor allem in den größeren Städten gebündelt gefördert werden, wenn der ostdeutsche Aufholprozess weitergehen soll. Das zeigt auch die dynamische Entwicklung in Berlin. Für Landespolitiker, die selbstverständlich immer auch die ländlichen Regionen mit im Blick haben müssen, ist das eine unbequeme Erkenntnis.“

Zehn Jahre sinnlos vertan

Noch unbequemer wird die Erkenntnis dadurch, dass genau diese Aufgabe seit zehn Jahren ansteht. Die Zahlen zur demografischen Entwicklungen sind allen Landesregierungen bekannt. Doch noch 2017 wurde die Diskussion um eine richtige Bildungsreform in Sachsen einfach abgewürgt. Natürlich aus falschen Denkhaltungen heraus: Die regierende CDU ist bis heute vernarrt in das völlig deplazierte elitäre Denken, das hinter Sachsens Zwei-Klassen-Schule steckt. Statt allen jungen Menschen zum bestmöglichen Abschluss zu verhelfen, ist das System auf Auslese und Demotivation angelegt. Und die wichtigsten Fachkräfte – die Lehrer – wurden behandelt wie Dienstboten.

Aber es ist eben auch eine Politik, die ahnen lässt, wie wenig Bildungspolitiker vom gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wert von Bildung tatsächlich verstehen.

Die Fehler wurden nicht nur in Sachsen gemacht. Die Grafik zeigt sehr anschaulich, wie sich der Faktor „Fachkräftenachwuchs“ ab 2010 in Sachsen-Anhalt als Bremsklotz für die wirtschaftliche Entwicklung auswirkte. Es wird ja bei Wirtschaft gern von „selbsttragend“ geredet. Aber selbsttragend wird Wirtschaft erst dann, wenn sie die klugen Köpfe hat, die mit neuen Ideen und klugem Einsatz dafür sorgen, dass Unternehmen wettbewerbsfähig werden und bleiben. Wenn man diese Köpfe nicht hat, kann man auch Schafe hüten und Tüten falten. Nur wettbewerbsfähig bleibt man dann nicht.

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