Alle Jahre wieder versuchen Leipzigs Statistiker herauszubekommen, welche Ortsteile denn nun am schnellsten wachsen, wo also aktuell gerade der Zug der Siedlungspioniere angekommen ist. Ein Spiel, das jetzt schon 15 Jahre lang so geht. Damals hießen die Pionierortsteile noch Südvorstadt und Schleußig. Aber beide Ortsteile sind „voll“. Hier ist kaum noch ein Zuwachs möglich.

Im Gegenteil: Wer hier wohnen will, der kratzt sein letztes Erspartes zusammen oder überlegt, ob er zum gewohnten Mietpreis auch auf der Hälfte der Fläche leben kann, denn Neuvermietungen sind hier zu 8 oder gar 10 Euro keine Seltenheit.

Aber auch die Entwicklung der westlichen Ortsteile Plagwitz und Lindenau zu Pionierortsteilen, in die jetzt vor allem junge Leute auswichen und Leben in die Bude und in lange Zeit verödete Quartiere brachten, ist schon wieder zehn Jahre her. Auch hier gibt es längst markante Verdrängungseffekte. Weshalb die neuen Pionierquartiere seit fünf Jahren im Leipziger Osten zu finden sind. Mit Reudnitz und Stötteritz damals angefangen, hat das Wachstum inzwischen Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf erfasst. Hier sind die Mieten gerade für junge Leute noch erschwinglich, das kulturelle Leben blüht.

Deswegen ist es kein Wunder, dass Andreas Martin im neuen Quartalsbericht gerade die Boom-Quartiere im Westen (Plagwitz sowie Alt- und Neulindenau) und im Osten (von Schönefeld bis Reudnitz) als die Wachstums-Champions der vergangenen zehn Jahre ausmachen kann. Lindenau hat in der Zeit satte 49,6 Prozent an Einwohnern dazugewonnen, Volkmarsdorf sogar 67,5 Prozent. In aller Stille hat sich selbst Eutritzsch zu einem Boom-Ortsteil entwickelt mit 32,7 Prozent Zuwachs.

Aber selbst die kurzfristige Entwicklung eines Jahres interessiert die Statistiker natürlich. Zwar ist der Leerstand in der gesamten Stadt geschrumpft. Aber ist da vielleicht doch noch irgendwo Puffer, wo Neubewohner hin ausweichen können? Vielleicht entdecken die ja Schlupflöcher, wo die Stadtplaner keine mehr sehen.

Das Ergebnis ist dann so eine Art Hitliste des vergangenen Jahres. Oder zwei.

Denn es gibt eine absolute Liste, in der die realen Zuwächse die Reihenfolge bestimmen. Und da taucht mit Möckern, das binnen eines Jahres 563 zusätzliche Einwohner gewinnen konnte, durchaus ein kleiner Überraschungssieger auf. So richtig ernst hat man den Leipziger Nordwesten ja lange nicht genommen. Gleich dahinter folgen Stötteritz mit 483 Einwohnern Gewinn und – ebenfalls eine Überraschung – die Südvorstadt. Obwohl da ja alles „voll“ ist.

Aber der Blick ins Detail zeigt: Es gibt einige Ortsteile, die überdurchschnittlich von Geburtenzuwächsen profitieren, wo die Geburtenzahl auch spürbar die Sterbezahl übersteigt.

Darin ist die Südvorstadt mit 271 eindeutig Champion, gefolgt von Schleußig mit einem Geburtenüberschuss von 159 und Gohlis-Mitte, wo es 156 waren. Einige innerstädtische Ortsteile wachsen schon allein durch die hohe Zahl von Geburten, während gerade überalterte Ortsteile mehr Sterbefälle als Geburten haben – Grünau-Ost zum Beispiel mit 102, Mockau-Nord oder Engelsdorf mit jeweils 89.

„Die Ortsteile mit dem 2018 größten Einwohnerzuwachs unterscheiden sich von denen der Vorjahre“, schreibt Andreas Martin in seinem zugehörigen Beitrag im Quartalsbericht. „Statt Volkmarsdorf, Neustadt-Neuschönefeld und Zentrum-Südost waren Möckern, Stötteritz und die Südvorstadt die größten Magneten; Ortsteile, in denen auch größere Wohnungsbauvorhaben umgesetzt wurden. Der Trend der Verlagerung des Einwohnerzuwachses von den zentralen bzw. ‚angesagten‘ Ortsteilen – diese sind ‚voll‘ – in innenstadtfernere Bereiche der Stadt mit solider Bausubstanz und verkehrsgünstiger Anbindung setzte sich fort.“

Wohnungsneubau in der Prager Straße. Foto. Ralf Julke
Wohnungsneubau in der Prager Straße. Foto. Ralf Julke

Wobei der eigentliche Wachstums-Champion 2018 auch nicht Möckern war, sondern das, was auf Planungskarten „Zentrum-Ost“ heißt. Das ist das alte Grafische Viertel, wo in den letzten Jahren mehr Neubau entstanden ist als in allen anderen Ortsteilen – so gut wie alles im hochpreisigen Segment. Dafür ist die Lage – wie schon bei der Entstehung dieses besonderen Vor-Ortes vor 180 Jahren, besonders begehrt und innenstadtnah. Binnen eines Jahres wuchs hier die Einwohnerschaft um 6,2 Prozent, erst dahinter folgt Möckern mit 3,8 Prozent, dem dann wieder Stötteritz mit 2,8 Prozent und Altlindenau mit 2,6 Prozent folgten.

Ganz so sehr zieht es die Leipziger also doch nicht an die Peripherie, die oft genug mit dem ÖPNV vergleichsweise schlecht angebunden ist, auffällig stark im Leipziger Osten, wo ja zwei Bürgerinitiativen aus Mölkau verbissen um den Mittleren Ring kämpfen, um den ganzen Durchgangsverkehr loszuwerden. Der kommt dort aber auch aus Baalsdorf, das 2,3 Prozent Einwohnerzuwachs verzeichnete, während Engelsdorf (-1,3 Prozent) und Althen-Kleinpösna (-3 Prozent) deutlich an Einwohnern verloren.

Womit Althen-Kleinpösna neben Hartmannsdorf-Knautnaundorf (-2,2 Prozent) und Dölitz-Dösen (- 1,7 Prozent) zu den größten Verlierern 2018 gehörte. Was schon verblüfft, denn augenscheinlich ziehen junge Leipziger Familien doch lieber ganz raus aus der Stadt und in die Städte der angrenzenden Landkreise, als in den dörflichen Ortsteilen am Stadtrand ein neues Zuhause zu suchen.

Was auch Andreas Martin nachdenklich macht: „Acht Ortsteile hatten 2017 einen (leichten) Bevölkerungsrückgang, 2018 traf das für 14 zu, wobei dieser in einigen Ortsteilen sogar recht deutlich ausfiel, so z. B. in Engelsdorf (-122), Dölitz-Dösen (-80), Böhlitz-Ehrenberg (-78), Althen-Kleinpösna (-65) und Zentrum-Nordwest (-50).“

Zentrum-Nordwest ist das Waldstraßenviertel. Es ist eigentlich in dieser Aufzählung die Ausnahme. Denn hauptsächlich sind es wirklich die dörflichen Randlagen, wo die Bevölkerungszahl nun oft schon seit Jahren schrumpft, ohne dass das durch Zuzug junger Leute kompensiert werden könnte. Was zumindest die Vermutung nahelegt, dass dort einige Infrastrukturen nicht (mehr) dem entsprechen, was junge Menschen von einem Wohnen in der Stadt erwarten.

Erstmals hat Leipzig 2018 über 900 Kinder unter 10 Jahren durch Abwanderung verloren

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