Woche für Woche gibt es jetzt immer neue Lockerungen in den Corona-Allgemeinbestimmungen. Nun öffnen auch Museen, Zoos und Spielplätze wieder, obwohl Virologen davor warnen, dass es zu einer neuen Infizierungswelle kommen kann. Die Corona-Pandemie ist ein Lernprozess. Und allerorten werden die Zahlen interpretiert, die die Gesundheitsämter liefern. Zahlen, die auch Paul M. Schröder jetzt einmal angeregt haben, sie in Tabellen und Grafiken zu verwandeln.

Das ist reizvoll, weil dabei einige Grafiken entstehen, die man so noch nicht in den Medien gesehen hat. Aber man darf ein Wort nicht überlesen, das gerade all die Kommentatoren immer wieder gern übersehen, die jetzt ein schnelles Ende aller Einschränkungen fordern: Es gibt nur die offiziell gemeldeten Zahlen. Und jedes Land hat andere Datengrundlagen.

Manche haben nur die Erkrankten in Krankenhäusern gezählt, andere haben bewusst ganze Patientengruppen außen vor gelassen (weshalb die Zahlen aus China nur mit ganz spitzen Fingern angefasst werden können), wieder andere haben die Erkrankungen lieber als normale Lungenentzündungen verkauft (was in Russland zu einer drastischen Verzögerung der Shutdown-Maßnahmen geführt hat).

Wieder andere Länder haben sehr viele Menschen getestet, auch solche, die gar keine Krankheitssymptome haben. All das muss man mitbedenken, wenn man jetzt die Grafiken betrachtet, die Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) aufbereitet hat.

Was zum Beispiel die hohen Werte in Luxemburg erklärt bei den gemeldeten Covid-19-Fällen. In einem Großherzogtum mit 626.108 Einwohnen ist es natürlich leichter, mehr Menschen zu testen als in einem 80-Millionen-Einwohner-Land wie Deutschland.

Was dann dazu führt, dass Luxemburg bei der Zahl der an Covid-19 Erkrankten je 100.000 Einwohner mit 614 einsam an der Spitze liegt – weit vor Ländern, die ja tatsächlich heftig mit der Epidemie zu kämpfen haben wie Spanien (454), Italien (337), den USA (306) oder dem Vereinigten Königreich (248).

Wobei schon der Vergleich ein gewisses Problem darstellt, weil der Ausbruch der Epidemie von Land zu Land zeitlich variiert. In Italien herrschte schon Notstand, als in Deutschland noch mit einer gewissen Lässigkeit über nötige Schutzmaßnahmen diskutiert wurde. Und in Großbritannien und den USA wurde noch breitbrüstig behauptet, die Sache sei gar nicht gefährlich, als Spanien und Frankreich schon längst im Griff des Virus waren.

Gemeldete Covid-19-Todesfälle je 1 Million Einwohner in den EU-Staaten, den USA und Großbritannien. Grafik: BIAJ
Gemeldete Covid-19-Todesfälle je 1 Million Einwohner in den EU-Staaten, den USA und Großbritannien. Grafik: BIAJ

Wobei Spanien und Frankreich auch Beispiele dafür sind, dass einige Infektionsherde für besonders dramatische Zahlen sorgten (wie im Elsass oder in Madrid), im Rest des Landes aber viele Regionen nur schwach betroffen sind. So ähnlich ist es ja auch in Deutschland, wo im Bundesländervergleich eindeutig Bayern mit 321 Covid-19-Fällen vor Baden-Württemberg (285), dem Saarland (258) und Hamburg (247) herausragen, vom Niveau der gemeldeten Erkrankungen also knapp hinter Italien, das ja mit dem Ausbruch der Epidemie in Bergamo wochenlang die Schlagzeilen beherrschte.

Was übrigens etwas sichtbar macht, was in der Diskussion um die Zahlen auch gern vergessen wird: Die Landeszahlen sagen wenig über die tatsächliche Verbreitung der Epidemie. Epidemien entstehen punktuell und breiten sich zuallererst in der Region aus und sorgen dort dafür, dass die Gesundheitssysteme überlastet werden – was in Bergamo ja geschehen ist. Bayern ist zwar ähnlich stark betroffen wie ganz Italien – aber nicht so stark wie die Region Bergamo. Und es hat ein noch deutlich besser ausgebautes Krankenhaussystem.

Gemeldete Covid-19-Fälle nach Bundesländern. Grafik: BIAJ
Gemeldete Covid-19-Fälle nach Bundesländern. Grafik: BIAJ

Der Blick auf die europäische Skala zeigt auch, dass einige Länder, die ebenso stark betroffen sind, überhaupt keine Schlagzeilen produziert haben, weil auch bei ihnen die punktuellen Belastungen (wie in Madrid, London oder New York) ausgeblieben sind, die Erkrankungen sich also stärker übers Land verteilen und damit auch bewältigbar sind. Ein Beispiel dafür ist Irland (IE) das mit der Pro-Kopf-Zahl der Covid-19-Erkrankungen gleich nach Luxemburg, Spanien und Belgien folgt, noch vor Italien.

Es macht also sehr viel Sinn, im Fall einer solchen Pandemie in den ersten Schritten sämtliche Massenveranstaltungen abzusagen (von denen einige längst als Keim jeweils lokaler Ausbrüche identifiziert werden konnten), internationalen Flugverkehr zu untersagen (denn das Virus SARS-CoV-2 wurde nun einmal von Flugreisenden rund um die Welt verbreitet) und die im Epizentrum betroffenen Regionen streng abzuriegeln, um dort die Epidemie in den Griff zu bekommen.

Dass es ganz ohne weitergehende Einschränkungen im öffentlichen Leben zumindest über einen gewissen Zeitraum im ganzen Land nicht geht, zeigt das Beispiel Schweden, das mit 198 Covid-19-Fällen je 100.000 Einwohner mittlerweile vor Deutschland mit 192 Fällen liegt. Frankreich ist übrigens mit seinen drastischen Maßnahmen mittlerweile auch hinter Deutschland zu finden.

Deutlich wird der Erfolg der Schutzmaßnahmen freilich bei der Zahl der Todesfälle. Denn wenn auch jüngere Erkrankte an Covid-19 sterben können, sind es vor allem die Alten und die Menschen mit Vorerkrankung, die daran sterben. Sie haben nicht mehr die nötigen Abwehrkräfte, diese schwere Lungenerkrankung zu überstehen. Und sie stellen auch die meisten Toten in jenen Regionen, wo die Epidemie das Gesundheitswesen völlig überfordert. Wo ihr Schutz nicht gelingt, steigen die Todeszahlen rapide an.

Und da zeigt die entsprechende Grafik einen sehr deutlichen Verlauf und sieht man auch, welche Länder es nicht geschafft haben, diese gefährdete Bevölkerungsgruppe zu schützen. Und da liegt diesmal Belgien mit 655 Covid-19-Todesfällen je 1 Millionen Einwohner deutlich an der Spitze vor Spanien mit 517, Italien (459) und Frankreich (359). Alles Länder, in denen der Ausbruch der Epidemie auch entsprechende Schlagzeilen produziert hat.

Die Covid-19-Todesfälle nach Bundesländern. Grafik: BIAJ
Die Covid-19-Todesfälle nach Bundesländern. Grafik: BIAJ

Deutschland liegt mit 76 Fällen deutlich darunter, hat also ganz ähnlich wie Dänemark und Österreich am Ende wohl vieles richtig gemacht. Anders als Großbritannien, das jetzt schon bei 392 Fällen liegt. Und auch die USA stehen mit 160 Fällen nicht wirklich gut da. Sie haben den ersten Ausbruch der Epidemie an der Ostküste schlicht nicht rechtzeitig in den Griff bekommen. Das desolate Gesundheitssystem kommt noch dazu.

Und für Europa fällt natürlich auf, dass Westeuropa viel stärker betroffen ist als Osteuropa, was natürlich auch damit zu tun hat, wo heute wirklich die großen Metropolen und Ballungsräume sind und die besonders mobilen Bevölkerungsgruppen. Im Osten kommen dann noch große deindustrialisierte Räume hinzu, wo die Ansteckungsgefahr deutlich geringer ist. Das trifft ja auch auf die innerdeutschen Verhältnisse zu.

Während die südlichen Bundesländer ähnlich stark wie die westlichen Nachbarländer von Covid-19 betroffen sind, liegen die ostdeutschen Bundesländer vom Niveau der Erkranktenzahlen her eher zwischen Estland (126) und Finnland (89). Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern liegen sogar noch drunter. Sachsen liegt bei 112 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Und das Bild ändert sich auch bei den Todesfällen nicht wirklich.

Dem Osten kommt also durchaus zugute, dass hier die Bevölkerungsdichte deutlich geringer ist als im Westen. Da aber überall gleichermaßen Kontaktsperren verhängt wurden, zeigt natürlich keine Grafik, was ohne diese Schutzmaßnahmen passiert wäre. Und: All diese Grafiken sind auch wieder nur eine Momentaufnahme. In keiner zeigen sich logischerweise die Folgen der seit Ostern immer stärker gelockerten Regelungen. Die wird man auch erst frühestens nächste Woche sehen.

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 78: Wie Corona auch das Leben der Leipziger verändert hat

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