Der Bundesfinanzminister will den deutschen Arbeitnehmern „Lust auf Überstunden machen“ und dazu diese steuerfrei stellen. Klingt das nicht toll? Er meint: „Wir haben im Berufsleben oft die Frage, dass Menschen sich die Karten legen, ob bei ihrem Grenzsteuersatz die Überstunde, die bezahlte, eigentlich lohnt oder nicht Freizeit dann attraktiver sein könnte.“ Zumindest sagt er das in der ARD-Sendung „Caren Miosga“. Es gibt dabei nur mehr offene Fragen als dieser Vorstoß beantworten kann.

Der sächsische Ministerpräsident, Michael Kretschmer, nimmt diese Anregung selbstverständlich freudig auf.

Beide, sowohl Lindner als auch Kretschmer, haben schließlich ein profundes Wissen um die Bedürfnisse von Arbeitnehmern, besonders derer im Mindestlohnbereich.

Überstunden bei Mindestlohn

Nutzen Sie einen Brutto-Netto-Rechner (egal von welchem Anbieter) im Internet, oder schauen Sie als Beschäftigter im Mindestlohnbereich auf Ihren Gehaltszettel. Bei Steuerklasse 3 und einem Kind bezahlen Beschäftigte im Mindestlohnbereich, bei Vollzeit oder bei Vollzeit mit wöchentlich 10 Überstunden, exakt Null Euro Lohnsteuer. Für diese Beschäftigten, also etwa 30 % aller abhängig Beschäftigten, bringt so eine Steuererleichterung Null Komma nichts.

Selbstverständlich bringt diese Erleichterung etwas, wenn auch nicht übermäßig viel, für Beschäftigte im Mindestlohnbereich mit Steuerklasse 1, wir wollen ja bei der Wahrheit bleiben. Steuerliche Anreize für Überstundenarbeit lohnt sich für Besserverdienende, je mehr man verdient, desto mehr Erleichterung.

Gleiches gilt übrigens auch für die bei Lindner beliebte Entfernungspauschale. Merke: Wer so wenig verdient, dass keine Lohnsteuer anfällt, dem nützen Steuererleichterungen nichts.

Überstunden als Normalität etablieren

Wie oben gesagt, ist Christian Lindner bei weitem nicht der einzige Politiker, der so tickt. Immerhin forderte ja der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer schon 2023: „Würde jeder Erwerbstätige in Deutschland nur eine Stunde pro Woche länger arbeiten, würde sich ein großes Potenzial für die Bekämpfung des Fachkräftemangels ergeben.“

Die Lösung, die beide favorisieren, liegt also in der Erhöhung der Tages- und Wochenarbeitszeit, brutal gesagt fordern beide: „Schluss mit dem 8-Stunden-Tag!“ Christian Lindner verpackt das nur besser, er sagt „Wenn Ihr Überstunden macht, dann müsst Ihr dem bösen Finanzminister weniger abgeben.“ Wer ist wohl dieser?

Braucht es mehr Überstunden?

Ein paar Zahlen zu Beginn: Im Jahre 2022 wurden in Deutschland etwas über 1,4 Milliarden Überstunden geleistet, davon waren 839 Millionen unbezahlte Überstunden. Damit sinkt die Anzahl der Überstunden weiter, ist das schlecht?

Zur Entwicklung der Überstunden in Deutschland. Grafik: IAB
Entwicklung der Überstunden in Deutschland. Grafik: IAB

Nein, das ist positiv. Überstunden werden in einem Unternehmen benötigt, wenn die Arbeit in der regulären Arbeitszeit nicht geschafft werden kann. Das kann mehrere Gründe haben, ein Peak im Auftragsvolumen ist ein nachvollziehbarer Grund.

Werden jedoch dauerhaft Überstunden benötigt, dann liegt es an fehlenden Arbeitskräften oder schlechter Organisation im Unternehmen. Beides sollen dann die vorhandenen Arbeitskräfte ausbaden.

Dauerhaft mehr Überstunden bringen aber oft Qualitätseinbußen und die Arbeitsleistung sinkt gegen Ende der regulären Arbeitszeit schon jetzt ab. Wenn dann am Folgetag Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schon übermüdet zur Arbeit erscheinen, dann ist ein Absinken von Leistung und Qualität in der gesamten Arbeitswoche zu erwarten. Langfristig bringen Überstunden mehr Probleme mit sich als sie lösen.

Woher sollen Lindner und Kretschmer das wissen?

Fazit: Die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer leisten Überstunden, obwohl sie vielleicht keine Lust haben. Scheinbar ist die Arbeitsmoral nicht so schlecht. Die Forderung nach mehr Überstunden ist eigentlich eine Forderung nach der quasi-Abschaffung des 8-Stunden-Tages, verpackt als finanzielle Verbesserung, die aber viele in keiner Weise betrifft.

Fast schon witzig ist es, wenn man bedenkt, dass angeblich Digitalisierung und neuerdings KI massenhaft Arbeitsplätze gefährden. Insgesamt kann man diese Forderung als populistisches Wahlkampfgeschwätz bezeichnen, oder was meinen Sie?

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