Die LVZ veröffentlichte in der vergangenen Woche einen Brief von zehn bekannten Leipziger CDU-Politikern, den diese am 17. Juni an die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer geschrieben hatten. Tenor, so die LVZ: Die Belange Ostdeutschlands kämen in der Bundespolitik nicht ausreichend zur Geltung. Aber das Problem ist wohl eher: Warum schreiben die Mitglieder der langjährig regierenden Partei so einen Brief? Es könnte an der Illusion liegen, eine Volkspartei zu sein.

Die Stelle dazu liest sich so: „Die Aufgabe der letzten verbliebenen Volkspartei ist es, für Anhänger, Mitglieder und Wähler Antworten auf stets neue Herausforderungen im Wandel der Zeit zu finden.“

Der Wikipedia-Beitrag zu „Volkspartei“ bringt das Dilemma dieses Begriffs sehr schön auf den Punkt.

Denn die erste These bedeutet, dass nun einmal jede Partei, die sich für alle Gesellschaftsschichten öffnet, eine Volkspartei ist: „Als Volkspartei bezeichnet man in der deutschen Politikwissenschaft eine Partei, die für Wähler und Mitglieder aller gesellschaftlicher Schichten, Generationen und unterschiedlicher Weltanschauungen im Prinzip offen ist. Dadurch unterscheidet sie sich von anderen Parteitypen wie der Klassen- oder Interessenpartei sowie der Honoratiorenpartei. Der Begriff Volkspartei wurde in diesem Sinne zum ersten Mal vom Politologen Dolf Sternberger verwendet.“

Wenn man es recht bedenkt, sind eigentlich alle derzeitigen Parteien im Bundestag nach dieser Definition Volksparteien. Es ist also eine ziemliche Anmaßung, sich als „letzte verbliebene Volkspartei“ zu bezeichnen.

Die andere Definition geht auf die Hybris der lange Zeit dominierenden Parteien bei der Verwendung dieses Begriffs ein: „Nach Dieter Nohlen ist Volkspartei ,eine Selbstbezeichnung von Großparteien wie der SPD, CDU und CSU, die durch Ausweitung ihrer Wählerbasis nach möglichst vielen Stimmen für strategische Mehrheiten streben. Ihre politische Rhetorik und werbende Selbstdarstellung stützt sich dabei auf den Anspruch, schichtübergreifend und weltanschaulich verbindend breite Wählerschichten in sich aufzunehmen und in ihrer Interessenvielfalt ausgleichend vertreten zu wollen.‘“

Was ja bedeutet: Wer sich selbst so definiert, baut zwangsläufig Beliebigkeit in seine Politik ein. Der macht politisches Agieren zu einem Brei, weil nicht mehr erkennbar wird, wofür diese Partei wirklich steht.

Oder frei nach Goethe, der das in Bezug auf ein publikumsträchtiges Theater sagte: „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“

Nur ist Politik eben keine Theatervorstellung, auch wenn sie in den Medien gern so inszeniert wird. Die Wähler erwarten von den gewählten Politikern tatsächlich, dass sie für brennende Probleme auch echte Lösungsvorschläge vorlegen. Wenn es nur Theater gibt, aber keine Vorschläge, wandern sie ab.

Denn: Die Demokratie kennt keine Volksparteien. Es gibt kein natürliches Geburtsrecht darauf, stets die Partei mit den meisten Wählerstimmen zu sein oder auch nur von einem einzigen Wähler als eine Partei wahrgenommen zu werden, die für alles steht. Das hat nicht mal die SED geschafft.

Das Erstaunliche an dem Brief ist der augenscheinlich innige Glaube der zehn Unterschreibenden daran, dass ihre Partei KEINE Interessenpartei ist. Woher nehmen sie den eigentlich? Aus den Wahlergebnissen der letzten Jahre? Oder spricht man in den Ortsvereinen selbst so?

Die SPD – das ist ja nun offenkundig – ist in eine ähnliche Denkfalle gelaufen, zerfleischt sich selbst und versucht selbst auf Parteitagen, auf denen es hoch hergeht, „die Verbindung von Tradition und Moderne sowie eine Symbiose aus starker Wirtschaft und innovativen Lösungen“. Das ist jetzt gemein, denn der Satz stammt aus dem CDU-Brief. Aber er beschreibt das Denkproblem in beiden Parteien: Nachdem sie seit 1949 ziemlich ununterbrochen die Geschicke der Bundesrepublik gesteuert haben, haben sie augenscheinlich wirklich die Illusion verinnerlicht, sie würden für das ganze Volk sprechen.

Was sicher nicht nur aus Sicht einiger Interessenparteien eine Anmaßung ist.

Demokratie kennt keine Volksparteien, sondern nur Interessenparteien. Und deswegen ist es schwierig darüber zu diskutieren, die CDU habe einfach nur an „Glaubwürdigkeit“ verloren. Sie hat sich viel eher in der Illusion verlaufen, eine Partei des ganzen Volkes zu sein und eben keine Interessenpartei.

Aber wer das eigene Interesse als Partei nicht mehr zu formulieren vermag – und davon erzählt ja der ganze Brief – wofür will der eigentlich gewählt werden?

Ich frage das jetzt nur.

Genauso wie ich mich frage, warum die zehn erst so einen Brief schreiben und nicht einfach auf dem nächsten Kreisparteitag beschließen, was die aus ihrer Sicht „ostdeutschen Interessen“ sein sollen und was sie dafür als politische Lösung vorschlagen. Und dasselbe auf dem nächsten Landesparteitag. Nach meiner Erfahrung funktioniert Willensbildung in Parteien so – zumindest in denen, die noch Interessen haben und diese auch konkret zu formulieren vermögen.

Denn eines war nie außer Kraft: Der Wettbewerb zwischen den Parteien um die besseren Vorschläge und Ideen.

Der Topos „Volkspartei“ kann keine Entschuldigung dafür sein, das man keine greifbaren Vorschläge mehr hat.

Und das geht nicht erst bei den Themen los, bei denen sich der Leipziger Kreisverband völlig überhebt (Russland, Youtube, Klimapolitik), sondern ganz konkret im Lokalen. Denn die Wahlen vor Ort, egal ob Stadtratswahl oder demnächst die Landtagswahl, werden nicht gewonnen oder verloren, weil die Bundesvorsitzenden der Partei irgendetwas tun oder nicht tun (auch wenn es indirekt Einfluss hat), sondern weil die Wähler den konkreten Kandidat/-innen vor Ort Kompetenz zuschreiben oder eine stringente Interessenvertretung in den Parlamenten zutrauen.

Und der Blick auf die Wahlergebnisse zum Leipziger Stadtrat am 26. Mai zeigt eben, dass die CDU nur noch von 17,5 Prozent der Leipziger als Interessenvertretung wahrgenommen wird. Das liegt nicht an Angela Merkel und auch nicht an Annegret Kramp-Karrenbauer, sondern an der wahrnehmbaren (oder halt nicht mehr wahrnehmbaren) Arbeit in der Stadtpolitik.

Es gibt eine ganze Reihe Möglichkeiten, mit denen Parteien Profil gewinnen können. Die Beliebigkeit einer „Volkspartei“ gehört bestimmt nicht dazu.

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