Bei seiner Wiederwahl am 16. September 2020 standen am Ende 50 von rechnerisch 70 möglichen Stimmen des Leipziger Stadtrates in der heutigen Zusammensetzung für weitere sieben Jahre Bürgermeisterei zu Buche. Die AfD-Fraktion hatte mit neun damals anwesenden Stadträt/-innen den Saal verlassen. Man darf also davon ausgehen, dass nahezu alle verbliebenen und nicht erkrankt fehlenden Stadträt/-innen Heiko Rosenthal (Die Linke) an diesem Tag in der Kongresshalle am Zoo ihre Stimme zur Wiederwahl gaben. Umwelt- und Klimaschutz, Ordnung und Sport schienen bei ihm also in besten Händen. Nun verlangt eine Petition Rosenthals Rücktritt oder die Abwahl durch den Stadtrat.

Im Kern geht es um einen seit Jahren in Leipzig heiß umstrittene Duldung von Zuständen, wie sie erstmals im April 2021 unübersehbar in Anger-Crottendorf aufploppten. Nach jahrelangem Druck des Bürgervereins Anger-Crottendorf war es zu einem Ratsbeschluss über ein neues Parkraummanagement im Viertel gekommen.

Ein Beschluss, der das Leipziger Ordnungsamt in Bewegung setzte, welches sich de facto völlig aus dem Gebiet zurückgezogen hatte. Wie stark dieser Rückzug war, konnte man feststellen, als es aktiv gegen Bürgersteigparken und andere wilde Zustände vorging.

Die Reaktionen waren heftig, als ein scheinbares Gewohnheitsrecht der Autobesitzer/-innen als das deklariert wurde, was es auch in den Jahren zuvor war: ein Unrecht, welches mit Bußgeldern zu ahnden und bei Gefährdung des (Fuß-, Rad-, Auto-) Verkehrs vom dafür zuständigen Ordnungsamt umgehend durch Abschleppungen zu beseitigen ist.

Schon da stand die Frage im Raum, wie es eigentlich weit über Anger-Crottendorf hinaus dazu kommen konnte, dass sich ohne echte Kontrollen an den Straßenrändern der Stadt eine Art stehende Blechvermehrung (auf 231.000 private Pkw plus rund 100.000 Pendler, Stand 2021) vollzog.

Herumstehende Autos, die zunehmend Kreuzungsbereiche zuparkten, Geh- und Lieferwege blockierten, Sichtachsen für Kinder bei der Straßenüberquerung einschränkten, Radler/-innen die Fahrbahn nahmen und sogar Bahnen (Georg-Schwarz-Straße) und Rettungsfahrzeuge wie Feuerwehren an der Durchfahrt hinderten.

Erst bildeten sich Initiativen wie die „Abschleppgruppe“, dann stieg der Druck durch Bürger-Nachfragen und massive Hinweise auf anhaltende Duldungen von „Falschparkereien“ in immer mehr Vierteln.

Indem sich in Anger-Crottendorf auf einmal etwas im wahrsten Wortsinne bewegte, fiel eigentlich erst so richtig auf, was fast schon Jahrzehnte seitens der Kommune rechtswidrig zugelassen und von Jahr zu Jahr steigender Automassen in Leipzig zu einem gefühlten Gewohnheitsrecht geworden war: das Auto direkt vor der Tür, zwei Räder auf dem Gehweg oder anderweitig wild geparkt, kostenfrei natürlich.

Bis in den Stadtrat hinein wurde die Frage ausgefochten, wann nun ein Eingriff in den Straßenverkehr durch einen regelwidrig abgestellten Pkw durch konsequentes Beseitigen des Regelverstoßes, also durch Abschleppung, zu beenden sei.

Die Pirouetten, die dabei auch Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) drehte, sind ebenso Legende, wie die ungewollte Auskunft durch Heiko Rosenthal bereits 2020 im Stadtrat, dass es an Wochenenden praktisch keine Kontrollen in Leipzig gäbe.

Denn das unausgesprochene Gegenargument des für die anwachsende Misere zuständigen Ordnungsbürgermeisters war stets, dass es in vielen Vierteln bis auf die schiere Reduktion der Pkw gar keine andere Lösung mehr gibt.

Und zwar mit Repressionsdruck statt guter Worte, jetzt, wo die Lage längst überhandgenommen hat.

Der bisherige Weg der Stadtverwaltung

Nicht grundlos läuft also seit Jahren – um dem Weg des konsequenten Durchgreifens zu entgehen – auch das „Henne-Ei-Spiel“. Zuerst müsse der ÖPNV in Leipzig ausgebaut werden und dann könne es an die (selbstredend freiwillig stattfindende) Reduktion der Privat-Pkw in der Stadt gehen. Gleichzeitig ist diese Anzahl stetig gestiegen, Jahr um Jahr kamen mehr Pkw hinzu.

Was aus dem angeblich so unglaublich unattraktivem ÖPNV in Leipzig ein nur halb berechtigtes Argument macht, sind zwei andere Fakten: Auto fahren ist für viele Menschen längst gelebte Ideologie, Schutzraum und manchmal gar zweites Wohnzimmer geworden. Sie führen ein „Autoleben“, bis hin zur berühmten Spritztour zum Bäcker oder einen (stets argumentierten) Arbeitsweg (überwiegend allein), den viele jedoch locker mit dem Rad oder der S-Bahn fahren könnten.

Was man über übermotorisierte, übergroße Autos und mangelnde Potenz bei Männern sagt, stimmt im Übrigen auch: Bewegungsmangel führt nicht gerade zu besseren Fitnessdaten.

Mancher ist so an sein Scheinsymbol freier Mobilität gefesselt, dass er oder sie auf Nachfrage Geh-, ÖPNV- oder Radfahrzeiten für innerstädtische Strecken mangels praktischer Eigenversuche noch nicht einmal mehr kennt. Von den genauen Kilometerangaben einzelner Strecken einer gerade einmal rund 25 x 25 Kilometer ausgedehnten Stadt Leipzig ganz zu schweigen.

Der zweite übersehene Fakt, der einem gemütlichen ÖPNV-Umbau und dem dann (auch nur sehr, sehr langsam) folgenden Ausstieg aus dem Automobilistenleben entgegensteht: Die Klimakrise könnte die Zeit für eine sanfte Entziehungskur einer autosüchtigen Gesellschaft nicht mehr vorhalten, die Uhr läuft systematisch und immer schneller herunter.

Nicht nur für den Verbrenner oder das E-Mobil, sondern vor allem für den privat besessenen Verbrenner oder E-Mobil mit Nutzungsgraden von rund 3 Prozent Fahrzeit im ganzen Lebenszyklus. Jene Blechteile also, die Leipzigs Straßen bevölkern, Kinderwägen ebenso den Weg versperren wie Fußgängern und Radler/-innen, ganz so, als ob sie hier wohnen würden und nicht Menschen.

Die Rücktrittsforderung

Rund 16 Jahre ist Heiko Rosenthal nunmehr dafür zuständig, das Dilemma zu lösen. Wie er das tut, kann man an den unzähligen Berichten über zugeparkte Viertel und den ungebremsten Autoaufwuchs in Leipzig sehen.

Oder auch am aufgeregten Gegacker der Leipziger Verkehrszeitung, wenn sich auch nur ein klein wenig in Richtung Auto-Entwöhnung bewegt, samt falscher Forderung, die Kommune oder der Staat sei zuständig, Parkplätze für Bewegungsmittel zu schaffen, die sich Menschen in privaten Entscheidungen kaufen.

Also übersieht man nachweislich im Leipziger Ordnungsamt unter seiner Ägide bis heute ganze Straßenzüge, Stadtviertel und Gegenden Leipzigs. Wenn es dann zu arg auffällt, ist auch mal mangelndes Personal schuld. Seit wenigen Tagen steht nun ein ganz anderer Verdacht, nämlich der des absichtsvollen Wegschauens im Raum.

Was Alexander John, Leipziger und begeistertet Radfahrer, zu einer Petition veranlasst, die unumwunden fordert: „Der Dezernent für Umwelt, Ordnung, Sport und Klima (Heiko Rosenthal) soll, sofern er nicht freiwillig zurücktritt, durch die Ratsversammlung abgewählt werden.“ Erste Unterstützer hat er bereits.

In der Begründung dazu heißt es weiter:

„Heiko Rosenthal wusste von der Praxis der Duldungen des verbotswidrigen Gehwegparkens und hat die Öffentlichkeit belogen. In Leipzig wird mit Wissen Heiko Rosenthals, Claudia Geißler-Ploog (Abteilungsleiterin) und Michael Binder (Sachgebietsleiter) das Parken in ca. 100 Straßenabschnitten geduldet. Diese Duldungen führen dazu, dass der Fußverkehr behindert und eine Verkehrswende wie vom Stadtrat beschlossen nicht umsetzbar ist. Rosenthal verhindert somit als Klimadezernent, dass die Stadt bis 2040 klimaneutral werden kann.“

Starker Tobak, aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Vielleicht braucht Leipzig tatsächlich ein/en Bürgermeister/-in, die stark genug ist, in Schritt 1 zu formulieren: Es reicht, die Stadt ist voll mit Blech. Und im Schritt 2 die StVO auch im ruhenden Verkehr wieder über offenkundig Einzug gehaltene Gewohnheitsrechte stellt und damit rechtskonform und nicht opportunistisch handelt.

Das würde auch das „Henne-Ei“-Problem zugunsten der Henne entscheiden: erst bekommt Falschparken via Knöllchen und Abschleppungen den Preis, den es kostet. Und dann reden wir wieder über den „überteuerten ÖPNV“ oder neue Radwege.

Dass Heiko Rosenthal die Kraft dazu hat, darf schon länger bezweifelt werden. Was nicht ausschließt, dass auch bei ihm ein Umdenken Einzug hält. Denn ob sich jemand anderes findet, der sich mit der Autoideologie, den Pkw-Abhängigen und ihrem medialen Sprachrohr LVZ anlegt, ist ebenso wenig sicher.

Aber es könnte einen Versuch wert sein. Hier jedenfalls geht es zur Petition im Netz.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Michael Freitag über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Es gibt 4 Kommentare

@EarlGrey
AC war eher ein Wiederbeleben. Richtig los ging es bereits 2012 mit der Brockhausstraße in Schleußig. Da brodelte es seit ungefähr 2010. Als dann 2012 ein Kind von Volker Holzendorf auf dem Gehweg fast überfahren wurde und dann auch noch die Politessen an den Gehwegparkern vorbei gingen, gab es eine Fachaufsichtsbeschwerde bei der Landesdirektion. Im Sommer 2013 nutzte das VTA die Chance des Bürgermeisterwechsels (zur Nedden/Dubrau) und stellte Fahrradbügel in die Kurven, machte Markierungen. Im Herbst 2013 ging es dann so richtig ab mit Bürgerversammlungen etc. pp. Das war dann auch der Auslöser, weshalb Dubrau es von Anfang an schwer hatte in Leipzig. Dass Rosenthal aber schon lange (seit 2006) Bürgermeister für Ordnung war, wird gern vergessen. Er wusste die gesamte Zeit schon, dass sein Ordnungsamt Gehwegparken in Größenordnungen duldet. Es hat ihn nur nicht interessiert.

@Michael Freitag: Aus meiner Sicht, würden kurzere , nicht so stark verschachtelte Sätze, den Lesefluss sehr zugute kommen.

Schreiben Sie einen Kommentar