Was der innenpolitische Sprecher der Grünen im Landtag, Valentin Lippmann, im vergangenen Jahr schon befürchtete, hat sich jetzt in einer Antwort des sächsischen Justizministers auf seine neuerliche Anfrage bestätigt: Die sächsische Staatsanwaltschaft beantragt immer mehr Funkzellenabfragen. Immer mehr Telefondaten von immer mehr Bürgern werden gesammelt. Und der Datenberg ist so groß, dass ihn Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) nicht mal auswerten kann.

Für 2015 wurden – so hatten Lippmanns Nachfragen im Landtag ergeben – in Sachsen 360 Ermittlungsverfahren mit Funkzellenabfragen veranlasst. 2016 kletterte diese Zahl auf 371.

Funkzellenabfragen sind Datensammlungen mit dem großen Schleppnetz: In den definierten Funkzellen wird für einen kompletten Zeitraum alles abgefragt, was die Funknetzbetreiber an Verbindungsdaten gespeichert haben. In der Regel handelt es sich um zehntausende Verbindungsdaten. Und in der Regel werden die Betroffenen, die in dem Zeitraum in dieser Funkzelle unterwegs waren, nicht informiert. Das gilt augenscheinlich aus Sicht der sächsischen Staatsregierung als Beifang.

Und so recht nach der Verhältnismäßigkeit fragen augenscheinlich auch die Gerichte nicht mehr. Eine Genehmigung zur Funkzellenabfrage ist schnell geschrieben. Die Sache wird immer mehr zur staatsanwaltlichen Routine.

2017 wurden dann nämlich schon 427 Ermittlungsverfahren mit Funkzellenabfrage genehmigt, die meisten davon nicht überraschend in Leipzig, wo allein 176 solcher Verfahren genehmigt wurden, also praktisch jeden zweiten Tag eines.

Und 2018 sieht es ganz danach aus, als wolle man die Zahl von 2017 noch einmal deutlich überbieten, denn bis zum 14. Juni waren schon 262 solcher Verfahren genehmigt, davon allein 147 in Leipzig. Keine andere Staatsanwaltschaft geht mit dem Instrument mittlerweile so freizügig um. Wenn die Beantragung in den nächsten Monaten munter so weitergeht, wird am Jahresende eine Zahl von 500 Ermittlungsverfahren stehen, der Löwenanteil davon in Leipzig.

Allein die Zahl der beantragten Verfahren lässt darauf schließen, dass mittlerweile jeder Leipziger Handy-Nutzer ein- oder mehrmals von so einer Abfrage erfasst wurde.

Die Frage ist nur: Wer kontrolliert das? Der Sächsische Datenschutzbeauftragte ganz augenscheinlich nicht.

Denn nicht einmal die abfragenden Behörden wissen ja, was sie da alles zusammenfischen.

Valentin Lippmann hatte ja die ganz simple Frage gestellt: „Wie viele Rufnummerninhaber waren jeweils betroffen?“

Das müssten eigentlich Zahlen sein, die man aus den abgefischten Datensätzen einfach ermitteln kann. Aber vier Seiten seiner Antwort verwendet Sachsens Justizminister Sebastian Gemkow (CDU) darauf, dem Landtagsabgeordneten zu erklären, warum diese Frage nicht beantwortet wird. Da fragt man sich dann tatsächlich, was die Ermittler mit diesen ganzen Datenbergen anfangen, wenn sie ihnen augenscheinlich nicht mal elektronisch zum Auslesen vorliegen. Spielen die dann überhaupt eine Rolle in den Ermittlungen? Oder setzt man den Auszubildenden dran, mit der Lupe nach verdächtigen Rufnummern zu suchen?

Die Antwort von Sebastian Gemkow liest sich jedenfalls so: „Die vollständige Erhebung aller angefragten Parameter würde daher den Abgleich der Verfahrensdaten mit den Inhalten der zugehörigen Antwortdateien erfordern, wofür jede einzelne der circa 28.500 Verkehrsdatendateien entsprechend der Fragestellungen ausgewertet werden müsste. Für eine solche umfangreiche Auswertung ist ein Zeitansatz von mindestens 30 Minuten je Verkehrsdatendatei anzusetzen. Dies zugrunde gelegt, wird der bei der Polizei anfallende zeitliche Aufwand auf mindestens 1.781 Arbeitstage für einen Mitarbeiter geschätzt.“

Der erwähnte Azubi würde also fast fünf Jahre daran sitzen, diese Datenberge auszuwerten, nur um die Zahl der erfassten Funkgespräche zu ermitteln.

Es scheint sogar unmöglich zu sein, die gerichtlichen Beschlüsse herauszusuchen, ohne die man die Datenberge gar nicht durchsuchen kann.

Oder mit den Worten des Justizministers: „Darüber hinaus müssten zur Feststellung der jeweiligen Anlasstatbestände von den sächsischen Staatsanwaltschaften die einzelnen, unter Umständen sehr umfangreichen, häufig mehrere Bände umfassenden, nicht elektronisch geführten Verfahrensakten der oben genannten 689 Ermittlungsverfahren gesichtet, die dort enthaltenen, jedoch aktentechnisch nicht besonders ausgewiesenen bzw. gekennzeichneten Gerichtsbeschlüsse, durch die jeweils die Funkzellenabfragen gerichtlich angeordnet wurden, herausgesucht und diese im Anschluss inhaltlich ausgewertet werden, um anhand der jeweils im Beschlusstenor und in den Beschlussgründen enthaltenen Angaben die angefragten Parameter beantworten zu können. Diese Aktenauswertung müsste durch einen Staatsanwalt durchgeführt werden, um eine der Beantwortung fachlich und inhaltlich genügende Aktenauswertung sicherstellen zu können.“

Womit ja genau das verunmöglicht wird, was Valentin Lippmann 2017 schon kritisierte: „Ich habe bereits früher kritisiert, dass die detaillierte Statistik, die bis 2013 geführt wurde, eingestellt wurde. So ist es für mich als Parlamentarier und für die Öffentlichkeit nicht mehr möglich nachzuvollziehen, ob die Ermittlungsverfahren tatsächlich Delikte betrafen, in denen Funkzellenabfragen zulässig sind. Diese Intransparenz ist absolut unbefriedigend und eines Rechtsstaates unwürdig.“

Denn allein schon die ins Uferlose steigende Zahl der Verfahren deutet darauf hin, dass man die Funkzellenabfrage immer öfter auch in Fällen nutzt, wo sie gar nicht zulässig sein dürften. Denn so viele Staatsdelikte, die eine solche Abfrage rechtfertigt, bei der Zehntausende Nutzer betroffen sind, gibt es nicht. Auch nicht in Sachsen.

Der lange Schatten des Überwachungsministers Markus Ulbig

Der lange Schatten des Überwachungsministers Markus Ulbig

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