Am Donnerstag, 1. November, hatte Sachsens Verkehrsminister Martin Dulig die Nase voll. Seit 2014 versucht der SPD-Minister, endlich ein modernes Nahverkehrskonzept für den Freistaat auf die Beine zu stellen. Jetzt zieht er die Reißleine, nachdem jeder Vorstoß am provinziellen Kleinklein im Land verebbte. Jeder Landrat hat augenscheinlich völlig andere Vorstellungen von dem, was er sich wünscht.

„Eines meiner Hauptziele als Verkehrsminister ist ein moderner, bürgernaher und preiswerter öffentlicher Nahverkehr. Das habe ich auch immer offensiv vertreten“, sagte Dulig am Donnerstag.

„Die dafür vom Landtag im Jahr 2015 eingesetzte ÖPNV-Strategiekommission sollte gemeinsam mit den zuständigen Zweckverbänden Lösungen aufzeigen, wie wir dieses Ziel noch in dieser Legislaturperiode bestmöglich umsetzen können. Leider war eine konkrete Umsetzung der Ergebnisse mit den Vorsitzenden der Zweckverbände nicht möglich. Ich habe deshalb heute mein Ministerium beauftragt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, eine Landesverkehrsgesellschaft zu gründen.“

Grund für den Ärger: Ein Großteil der Landräte, die Vorsitzenden der ÖPNV-Zweckverbände, hat sich aus Duligs Sicht im Laufe der Verhandlungen weit von den Vorschlägen distanziert, die noch mit den Geschäftsführern der Zweckverbände im Dezember 2017 in der ÖPNV-Strategiekommission erzielt worden sind.

Martin Dulig: „Trotz intensiver Gespräche mit den Landräten war eine einvernehmliche Lösung nicht möglich. Wir sind jetzt an einem Punkt angelangt, wo ich abwägen muss, ob der noch übrig gebliebene Minimalkonsens ausreicht und ob wir für die Bürgerinnen und Bürger wirklich das erreicht haben, was wir wollten. Dies ist aus meiner Sicht nicht der Fall.“

Der Minimalkonsens, der nichts bringt

Am derzeitigen Zustand des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) würde sich durch den Minimalkonsens, der dem SMWA in der vergangenen Woche vorgelegt wurde, kaum etwas für die Bürgerinnen und Bürger verbessern:

– So gibt es zwar Anpassungen an den Tarifgrenzen. Der geforderte „echte“ Sachsentarif wurde jedoch auf die ferne Zukunft verschoben.

– Statt des in der ÖPNV-Kommission vereinbarten überregionalen Takt- und PlusBus-Netzes gibt es nur einen Vorschlag, die vorhandenen Netze besser miteinander zu vertakten. Dies würde jedoch nur zu einer teilweisen Verbesserung beitragen, wovon vor allem der ländliche Raum nicht profitieren würde.

– Für das im Jahr 2014 im Koalitionsvertrag prioritär vereinbarte und von Ministerpräsident Michael Kretschmer und Vize-MP Martin Dulig nicht nur im „Zukunftspakt“ geforderte landesweite und kostengünstige Bildungsticket wurde kein Konzept vorgelegt.

Dafür bieten die Zweckverbände ein Ausbildungsticket im jeweiligen Verbundraum für 48 Euro an, für den jeweils benachbarten Zweckverband würden weitere 5 Euro anfallen.

Für Schüler sollte es nach dem Willen der Zweckverbände neben den bereits bestehenden – unterschiedlich teuren – Schülertickets ein zusätzliches Freizeitticket für 10 Euro pro Monat geben. Gültig soll dieses nur innerhalb des jeweiligen Verbundraumes sein.

Dulig hat vom lokalen Egoismus die Nase voll

„Meine Schlussfolgerung ist: Einen zukunftsfähigen ÖPNV werden wir nur erhalten, wenn wir lokale Egoismen überwinden und der Freistaat die Verantwortung wieder selbst übernimmt, indem er die Zuständigkeiten in eine Landesverkehrsgesellschaft überführt. Sie soll für den SPNV, ein Busnetz mit landesweiter Bedeutung, die Umsetzung des Sachsentarifs als Dachtarif und die Verwaltung der Mittel für das landesweite Bildungsticket zuständig sein. Dazu werden wir die Regionalisierungsmittel künftig zweckgebunden direkt an die Landesverkehrsgesellschaft übertragen“, erläutert Verkehrsminister Martin Dulig.

Bildungsticket, Sachsentarif, PlusBus-Netz

Bereits von 1996 bis 1998 hat eine vom Freistaat Sachsen errichtete Landesverkehrsgesellschaft den Schienenpersonennahverkehr zentral organisiert, geplant und ausgestaltet. Dann wurde diese Aufgabe vom SMWA durch Rechtsverordnung auf die aus Landkreisen und Kreisfreien Städten gebildeten fünf Zweckverbände übertragen. In Deutschland gibt es nur noch in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz kommunale Zweckverbände. Alle anderen Länder organisieren – zumindest ihren Schienen-Personennahverkehr (SPNV) – in eigener Hoheit.

Im November 2014 legte die Regierungskoalition aus CDU und SPD im Koalitionsvertrag ein klares Bekenntnis für den ÖPNV ab. Der Punkt Bildungsticket wurde darin sogar als prioritäre Maßnahme beschlossen. Vor einem Jahr wurde dies erneut im „Zukunftspakt“ der beiden Koalitionspartner festgeschrieben.

Zudem gab die Regierung den Zweckverbänden erstmals eine langfristige Planungs- und Finanzierungssicherheit: In der 2017 verabschiedeten Finanzierungsverordnung wurden die Zuweisungen der Regionalisierungsmittel über Jahre festgeschrieben. Bis 2027 wird sich somit der Anteil dieser Zuweisungen kontinuierlich erhöhen. Allein im Jahr 2018 werden rund 460 Millionen Euro Regionalisierungsmittel an die Zweckverbände für den ÖPNV ausgereicht.

Im Jahr 2015 wurde die ÖPNV-Strategiekommission vom Landtag einberufen, in der ganz bewusst neben den Vertretern der Zweckverbände auch Vertreter verschiedener Organisationen, Verbände und aller politischen Parteien vertreten waren. In einem aufwendigen und sehr intensiven Gestaltungsprozess wurden durch die Kommission viele Einzelprozesse untersucht, Maßnahmen separiert und vertiefend betrachtet.

Als konkrete Einzelmaßnahmen wurden damals ein landesweites Bus-Grundnetz aus Plus- und TaktBus-Linien, die Digitalisierung des Vertriebes, ein Sachsentarif, eine Steuerungsgruppe ÖPNV und ein sachsenweites Bildungsticket für alle Schüler und Auszubildenden zur weiteren Umsetzung beschlossen.

Was sagen die Parteien dazu?

„Verkehrspolitik mit dem Holzhammer!“

Frank Heidan, wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU-Fraktion: „Der Plan der Gründung einer Landesverkehrsgesellschaft kam für uns als CDU-Fraktion überraschend. Das ist Verkehrspolitik mit dem Holzhammer!

Wir haben als CDU-Abgeordnete im Arbeitskreis Wirtschaft, Arbeit und Verkehr sehr intensiv und konstruktiv mit den Landräten an einer gemeinsamen Lösung gearbeitet. Vom Verkehrsminister lag jahrelang kein Konzept vor! Die Gespräche mit den Landräten waren zuletzt auf einem guten Stand und ich hätte erwartet, dass der Verkehrsminister sie zum Erfolg führt.

Das Risiko der geplanten Landesverkehrsgesellschaft ist, dass der ländliche Raum ausgedünnt wird, Strecken geschlossen werden und nicht durch Ersatzverkehre abgedeckt werden können.

Sicher kann Sachsen eine Aufgabe wie den ÖPNV zentralisieren. Die Frage ist jedoch, ob er damit besser wird. Wir werden als CDU die Sache kritisch begleiten und die Interessen der Kunden in den Mittelpunkt unserer Betrachtung stellen.“

Der Geduldsfaden ist gerissen

Thomas Baum, Sprecher für Verkehrspolitik der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag: „Die angekündigte Gründung einer Landesverkehrsgesellschaft ist die konsequente Schlussfolgerung aus den zähen und letztlich gescheiterten Verhandlungen für einen modernen und bezahlbaren Nahverkehr“, erklärt Thomas Baum.

„Um Ross und Reiter zu benennen: Die Vorsitzenden der Zweckverbände sind vier Landräte. Sie haben sich immer weiter von dem entfernt, was nach den Empfehlungen der ÖPNV-Strategiekommission im vergangenen Jahr noch Konsens war. Sie haben damit das Bildungsticket, den Plus-Bus und einen einheitlichen Sachsentarif verhindert. Diese Landräte halten an lange eingeübter Kleinstaaterei fest und sperren sich gegen Veränderungen. Sie haben wichtige Verbesserungen ausgebremst. Der Geduldsfaden ist jetzt gerissen!

Wichtig ist, dass künftig weiterhin vor Ort entschieden wird, ob und wann ein Bus in der Region fährt“, so Thomas Baum. „Der ländliche Raum darf nicht weiter abgehängt werden. Andere Bundesländer mit Landesverkehrsgesellschaften machen vor, wie das zu schaffen ist.“

Duligs Verzweiflungstat kontra CDU-Landräte offenbart gescheiterte CDU/SPD-Verkehrspolitik

Marco Böhme, mobilitätspolitischer Sprecher der Linksfraktion im Sächsischen Landtag: „Die Absichtserklärung des Koalitionsausschusses von CDU und SPD vom 11. Dezember 2017, die Voraussetzung für die Wahl von Michael Kretschmer zum Ministerpräsidenten war, ist auf einem für Sachsens Zukunft zentralen Politikfeld nur noch Makulatur: Sehr spät zieht Kretschmers Stellvertreter Dulig die Reißleine und versucht, die CDU-Landräte auszubooten, die jeden Fortschritt blockieren – Stichwort Bildungsticket.

Deshalb begrüße ich, dass nun der Ausweg in der Gründung einer Landesgesellschaft gesucht wird, wobei für uns klar ist, dass es in jedem Fall ein regionales Management überall in Sachsen geben muss: Denn Buslinien in der Lausitz oder im Vogtland können nicht bedarfsgerecht in Dresden geplant werden.

Damit räumt Dulig ein, dass die Regierung mit dem Versuch gescheitert ist, gemeinsam mit den Zweckverbänden zu einer praktikablen Lösung im Interesse der Bevölkerung zu kommen. Die angekündigte Zerschlagung der Zweckverbände und Zentralisierung der Verkehrspolitik ist aber mehr eine Verzweiflungstat als ein Befreiungsschlag.

Faktisch handelt es sich um die Aufkündigung der Koalition bei einem wichtigen Thema. Wir werden darauf drängen, dass gute Vorschläge der ÖPNV-Strategiekommission abseits von parteipolitischem Gerangel schnell umgesetzt werden – darauf wartet die Million Menschen, die nach diesen Konzepten neu an den öffentlichen Nachverkehr angeschlossen werden können, und insbesondere all die Jugendlichen, die bisher zu überteuerten Beförderungstarifen im wahrsten Wortsinn auf der Strecke bleiben.“

Duligs Auftrag zur Landesverkehrsgesellschaft zeugt von echter Torschlusspanik

Katja Meier, verkehrspolitische Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Sächsischen Landtag: „Grundlegende und auf Jahrzehnte ausgerichtete Weichenstellungen in der Verkehrspolitik in einer Pressemitteilung anzukündigen, zeugt von echter Torschlusspanik. Im aktuellen Haushaltsentwurf bildet sich die Neugründung einer Landesverkehrsgesellschaft nicht ab. Die größte Herausforderung besteht aber darin, dass die gesetzlichen Grundlagen überhaupt erst geschaffen werden müssten. Ich halte es für unwahrscheinlich, die Versäumnisse der gesamten Legislaturperiode so kurz vor der Landtagswahl aufholbar sind.

Die Hau-Ruck-Aktion des Wirtschaftsministers zeigt, dass er mit der Umsetzung der selbst gesteckten Ziele gescheitert ist. Die geplanten, aber nicht durchgeführten Treffen der eigens für diese Belange eingerichteten Strategiekommission wären der geeignete Ort für seine Idee gewesen. Die Gründung einer Landesverkehrsgesellschaft erfordert ein transparentes Verfahren bei dem die Fachöffentlichkeit einbezogen werden muss. Dafür müsste zuerst eine konkrete Zielstellung erarbeitet werden.“

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