Am Freitag, 24. Mai, debattierte der Sächsische Landtag nach einer Fachregierungserklärung von Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) über Fachkräfte für Sachsen. Denn Sachsen steuert sehenden Auges mitten hinein in einen gewaltigen Fachkräftemangel. „Bis 2030 fehlen nach heutigen Prognosen über 320.000 Erwerbspersonen in Sachsen. Das ist ein Rückgang der Erwerbstätigen von rund 14 Prozent – in einigen Regionen werden es gar über 20 Prozent sein“, sagte Dulig.

Und weiter: „Jeder fünfte Beschäftigte geht in den nächsten zehn Jahren im Freistaat in Rente. Sachsen hat den höchsten Altersdurchschnitt aller Bundesländer. 2018 meldeten über 40 Prozent der sächsischen Betriebe offene Stellen für Fachkräfte. Davon konnte fast ein Viertel nicht mehr besetzt werden.“

Das Verblüffende ist: die beiden Regierungsparteien CDU und SPD debattierten dann irgendwie nur einen Punkt aus dem ganzen Problemkatalog, den Dulig aufgemacht hatte. Und dann keineswegs mehr verblüffend: Sie empfahlen völlig gegenteilige Lösungen.

Die Tariffrage

Und wenn man bedenkt, dass die Frage nach einem guten Einkommen, das ein Wohnen und Arbeiten in Sachsen erst attraktiv macht, eigentlich eine elementare Frage ist, fragt man sich nach fünf Jahren Koalition mittlerweile: Wie halten es diese beiden Parteien eigentlich miteinander aus?

Die einen fordern – zu Recht – eine ordentliche tarifliche Bezahlung für alle Erwerbstätigen. Und die anderen träumen immer noch davon, sie könnten lauter flexible Arbeitskräfte quasi zum Billigpreis bekommen.

Die Forderung der SPD nach menschenwürdigen Löhnen nannte der wirtschaftspolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Frank Heidan, dann sogar „Sozialromantik“.

Aber dahinter steckte noch etwas anderes: Ein Liebesdienst für die Gutverdiener und Reichen.

„Sachsen muss für Fachkräfte im globalen Wettbewerb attraktiv bleiben! Im internationalen Vergleich werden sie in Deutschland zunehmend durch unsere Steuerpolitik belastet. Denn die Steuerpolitik trifft nicht nur die Unternehmen sondern auch ihre Mitarbeiter“, meinte Heidan am Freitag. Die deutsche Steuerpolitik belastet die Unternehmen nicht wirklich stärker als in anderen Ländern. Das ist ein Märchen. Aber Heidan möchte ja auch eher flexible Billigarbeitskräfte haben. Und wo er sie in Sachsen nicht mehr bekommt, dann eben aus dem Ausland.

„Wir brauchen keine Sozialromantik! Um in Zukunft mit Sachsens Wirtschaft zu bestehen, brauchen wir eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitszeiten und Löhne im Sinne der Mitarbeiter aber auch der Unternehmen. Beide brauchen Spielräume für firmenbezogene Vereinbarungen. Nur so bleiben wir für Fachkräfte im internationalen Wettbewerb in Sachsen attraktiv.“

Entweder hat er es in seiner Baufirma im Plauen noch nicht gemerkt – oder er ignoriert es einfach: Für diese „firmenbezogenen Vereinbarungen“ sind gerade junge Fachkräfte in Sachsen nicht mehr zu haben. Sie wollen ja eine Familie gründen und sich einen Haushalt aufbauen. Da wechseln sie lieber in Unternehmen, die verlässliche Tarife anbieten.

Deswegen hat Heidan mit seiner Plauener Firma ein Problem. Und der arbeitsmarktpolitische Sprecher der CDU-Fraktion, Jörg Kiesewetter, meint die Lösung gefunden zu haben: „Sachsen ist vom demographischen Wandel besonders betroffen. Deshalb ist die gezielte Rekrutierung qualifizierter Fachkräfte ein wichtiges Thema. Sie können zum wirtschaftlichen Wohlstand in Sachsen beitragen. Deswegen ist es wichtig, gute Bedingungen zu schaffen, dass Fachkräfte aus dem Ausland zu uns kommen!“

Mit nichttariflicher Bezahlung?

Wer ist hier eigentlich der Sozialromantiker?

Billiglohnland gewinnt keinen Wettbewerb

Die SPD ist es in diesem Fall nicht.

„Sachsen muss Tarifland werden. Als Billiglohnland werden wir den Wettbewerb um die Fachkräfte der Zukunft nicht gewinnen. Die Fachkräfte werden schlichtweg an Sachsen vorbeigehen oder hier wegziehen“, sagte Henning Homann, der Sprecher für Arbeitsmarkt in der SPD-Fraktion. Betriebliche Mitbestimmung und Tarifbindung müssten in Sachsen endlich selbstverständlich werden. Beides eröffne Chancen für nachhaltige Entscheidungen von Betrieben und Unternehmen.

„So können damit die großen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt positiv gestaltet werden“, sagte Homann mit Blick auf Digitalisierung oder Wirtschaft 4.0. „Das kann am besten vor Ort durch die Betriebsräte und Arbeitgeber organisiert und durch Tarifverträge ausgestaltet werden. Wenn wir diese Chance nutzen, dann wird die Digitalisierung zu einem Erfolgsprojekt für die sächsischen Beschäftigen und Unternehmen.“

Heidan hat sein Plauen nicht extra erwähnt. Das tun CDU-Politiker fast nie, wenn sie über die Fachkräfteprobleme in Sachsen sprechen. Denn dann müssten sie feststellen, dass die jungen, gut ausgebildeten Leute abwandern, weil sie eben lieber tariflich bezahlte Arbeit in den Großstädten annehmen, als beim Handwerksmeister in Plauen aus lauter Liebe zur Heimat zu arbeiten.

Oder in der Lausitz, wo Sachsens Regierung immer noch glaubt, ganze neue Industrien mit Facharbeitskräften hochziehen zu können, die vielleicht mal irgendwann in der Kohlebranche freigesetzt werden.

Noch so ein Stück Sozialromantik.

Traumland Lausitz

Darauf kam Dr. Gerd Lippold als wirtschaftspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion zu sprechen.

„Eines hätte ich mir wirklich noch gewünscht, Herr Staatsminister Dulig. Nämlich eine regionalisierte Betrachtung in der Strategie. Es gibt eben nicht DEN sächsischen Arbeitsmarkt und DIE sächsische Demografie. Die Situation ist vielmehr regional sehr verschieden. Eine boomende Großstadt und eine über längere Zeit stiefmütterlich behandelte ländliche Region stehen da vor völlig verschiedenen Aufgaben. Und die wird man nicht mit denselben Zielen und Mitteln angehen können“, sagte er in seiner Rede im Landtag.

„Ganz besonders klar wird das dort, wo näher hingeschaut wurde. So gibt es eben im Zusammenhang mit der Arbeit der Kohlekommission sehr gründliche Strukturdatenerhebungen in den Kohlerevieren. Und wenn sie dann etwa sehen, dass in der Lausitz bereits in den nächsten 15 Jahren etwa 100.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter fehlen werden, dann sind wirtschaftspolitische Zielstellungen zur Ansiedlung großer neuer Unternehmen mit vielen neuen Industriearbeitsplätzen doch sehr kritisch zu hinterfragen. Wer, bitte, soll dort arbeiten?“

Lippold erklärte dann den großen Steuermännern der sächsischen Fachkräftepolitik auch noch, dass ihnen vor allem die demografische Kompetenz völlig fehlt: „Wer soll investieren, wenn er diese Frage nicht geklärt bekommt? Und wenn Sie dann mit exorbitanter Subventionierung doch so ein Vorhaben umsetzen, holen die sich dann ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den mittelständischen Betrieben ringsum, die heute schon Mangel haben? Denn um wirklich Zuzug zu erreichen, reicht ein Betrieb auf der grünen Wiese nicht. Dazu brauchen Sie vor allem attraktive Lebensverhältnisse. Die Familie ist es nämlich, die zu überzeugen ist. Nachhaltige Wirtschaftspolitik bedeutet dann eben zunächst mal Investition in Bildung und Erziehung, in Kultur und Sport, in Freizeitqualität und Verkehrsanbindung. Anbindung für die ganze Familie! Nicht nur für LKWs und Autofahrer.“

Genau deshalb werden Städte wie Leipzig und Dresden mit ihren Infrastrukturen weiter Arbeitskräfte anziehen und Regionen wie die Lausitz und das Vogtland verlieren. Das ist eine echte Herausforderung. Aber gerade die Leipziger Erfahrungen zeigen: Die Infrastrukturen sind das Entscheidende. Wenn die da sind, wird eine Stadt für junge Leute attraktiv. Und wo sie fehlen, helfen auch Sondervereinbarungen im Betrieb nichts. Und auch keine Anwerbeaktionen im Ausland, denn da steht das nicht wirklich reiche Sachsen schon lange in direkter Konkurrenz mit Regionen, die mit Gehältern anwerben können, von denen man in Plauen nur träumen kann.

Liebe Kinder, lernt aus meiner Geschichte! oder Warum in unserer Welt nichts so eindeutig ist, wie es gern verkauft wird

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