Dass es in Sachsens Justiz einen derartigen Rückstau an Verfahren gibt, hat vor allem zwei Gründe: Den Personalmangel, der ab 2009 auch die sächsischen Gerichte erfasste, nachdem CDU und FDP ein resolutes Personalsparprogramm aufgelegt hatten, und die Überalterung vieler Richter. Die ist zumindest für den rechtspolitischen Sprecher der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag, Rico Gebhardt, ein deutlicher Grund zur Polemik. Denn 1990 gab es ja einen umfassenden Elitenwechsel.

Er hatte der Staatsregierung zwei Anfragen gestellt – einmal eine zur aktuellen Altersstruktur der Richterinnen und Richter an sächsischen Gerichten und einen zum notwendigen Einstellungsbedarf. Denn die geplanten Personalkürzungen von 2009, die das Landespersonal über sämtliche Ministerien rasierten, kamen zum dümmsten aller Zeitpunkte. Denn von einem kontinuierlichen Personalaufbau konnte die 20 Jahre vorher ja keine Rede sein. 1990 wurde auch die Justiz in Sachsen ja völlig umgekrempelt, die alten Richter aus DDR-Zeiten mussten zum größten Teil gehen, dafür wurden die Richterstellen flächendeckend mit jungen Absolventen aus dem Westen besetzt.

Was nicht nur ein kompletter Elitenaustausch war, sondern eben auch bedeutete, dass die meisten Richterinnen und Richter zur selben Alterskohorte gehörten. Sie wurden nicht nur gemeinsam eingestellt – sie gehen in den nächsten Jahren auch gemeinsam in Ruhestand.

Das aber erzeugt in der sächsischen Justiz etwas, was man sonst eher vom „Schweinezyklus“ in der deutschen Lehrerausbildung kennt: Wenn Lehrermangel herrscht, werden die Ausbildungskapazitäten drastisch hochgefahren und die Studienanwärter massenhaft dazu geworben, Pädagogik zu studieren. Sie kommen dann sechs, sieben Jahre später als geballte Kohorte in den Schulen an.

Da man aber die Ausbildung nicht gleich wieder anpasst, gibt es auf einmal zu viele Lehrer, die auf einmal bei der Arbeitsagentur landen, weil sie partout keine Anstellung finden. Also studieren kluge Kinder die nächsten Jahre lieber nicht auf Lehramt und auf einmal gibt es wieder ein Loch bei den Lehrern … usw.

Was alles weder an den Schule liegt noch an den Lehrern oder den jungen Studierwilligen, sondern an der Personalpolitik der Länder, die augenscheinlich flächendeckend unfähig sind, Studienplätze und Personalbedarf dauerhaft aufeinander abzustimmen.

Aber auch ein kompletter Elitenwechsel ergibt solche Schweinezyklen. Es gibt ihn übrigens nicht nur bei sächsischen Richter/-innen, sondern auch bei Lehrer/-innen, Polizist/-innen usw. Jedes einzelne Ministerium wusste, dass – auch aufgrund des langjährigen Einstellungsstopps – ab 2020 über die Hälfte des Personals in Ruhestand geht und vorher schon völlig überaltert ist.

„Diese Zahlen belegen das Versagen der CDU-geführten Staatsregierungen bei der Personalentwicklung in der sächsischen Justiz. Der heutige Zustand geht nicht zuletzt auch auf den Elitentausch nach 1990 zurück. Das Durchschnittsalter der sächsischen Richterinnen und Richter ist besorgniserregend hoch: Es liegt an den Sozialgerichten bei 52,5 Jahren, in der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei 53,6 Jahren, in der Finanzgerichtsbarkeit bei 54,1 Jahren, in der ordentlichen Gerichtsbarkeit bei 55,8 Jahren und in der Arbeitsgerichtsbarkeit sogar bei 59,1 Jahren“, kommentiert Rico Gebhardt die Antwort der Justizministerin auf seine Anfrage „Entwicklung der Altersstruktur der Richterinnen und Richter“ (Drucksache 7/2119).

„Insgesamt sind die Richterinnen und Richter in Sachsen im Durchschnitt 55,3 Jahre alt. In der Arbeits- und in der Finanzgerichtsbarkeit gibt es keine einzige Richterin und keinen einzigen Richter unter 48!“

Zuvor waren Minister der CDU und der FDP für das Ressort zuständig gewesen. Die rigiden Personalsparpläne von 2009 haben beide Parteien zu verantworten. Erst mit der CDU/SPD-Regierung ab 2014 wurden einige Auswirkungen dieser Sparwut korrigiert, die ja bei Lehrer/-innen und Polizist/-innen auch für eine Menge öffentlicher Kritik gesorgt haben. Dass sich dasselbe Drama auch in den Gerichten abspielte, wurde hingegen kaum wahrgenommen, sorgt aber immer häufiger dafür, dass Prozesse mit Jahren Verspätung erst stattfinden oder ganz ohne Urteil enden, weil die Fristen verjährt sind.

Und jetzt tut sich logischerweise ein riesiger Bedarf an frisch ausgebildeten Jusrist/-innen auf, die in den nächsten Jahren die ausscheidenden Richterinnen und Richter des Jahres 1990 ersetzen müssen.

„Es muss daher alles unternommen werden, um rechtzeitig qualifizierte Juristinnen und Juristen in Sachsen auszubilden und ihnen Anreize für eine Tätigkeit im Freistaat zu bieten. Dazu muss Sachsen attraktive Bedingungen für den Dienst im Richteramt schaffen“, meint Gebhardt. „Sonst kann es passieren, dass immer mehr Ermittlungserfolgen bei der Aufklärung von Straftaten bald keine richterlichen Urteilssprüche mehr folgen. Laut den Angaben des Justizministeriums benötigt Sachsen zwischen 2021 und 2030 insgesamt 1.134 neue Volljuristinnen und Volljuristen im Richteramt und außerhalb (Drucksache 7/2121).“

Die Aufgabe muss jetzt die seit Dezember amtierende Justizministerin Katja Meier (Grüne) lösen. Die meisten Richterstellen sind nämlich nicht erst ab 2025 zu besetzen, sondern schon in den fünf Jahren davor.

„Damit eine verlässliche Rechtsprechung nicht noch stärker gefährdet wird, ist eine vorausschauende Personalentwicklung notwendig“, sagt Gebhardt etwas nur allzu Verständliches. „Diese ist keine Stärke der sächsischen CDU, weder im Justizressort noch anderswo. Justizministerin Katja Meier steht jetzt in der Verantwortung. Andernfalls droht ein erheblicher Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in den Rechtsstaat.“

Wenn dieser Vertrauensverlust nicht längst da ist. Denn wenn selbst bekannte Klein- und Großganoven auf freiem Fuß bleiben, weil die Gerichte sich ihrer jüngsten Straftaten nicht annehmen können, dürfte die Skepsis längst da sein, ob das sächsische Justizwesen überhaupt noch leistet, was es leisten soll.

Und das hat wenig mit dem Elitentausch von 1990 zu tun, aber sehr viel mit der katastrophal falschen Weichenstellung von 2009.

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