Anlässlich der Weihnachtszeit entlässt Sachsens Justizministerin Katja Meier 48 Strafgefangene frühzeitig. Die CDU lehnt diese von Meier eingeführte Praxis ab und argumentiert in irritierender und realitätsverzerrender Weise – und gnadenlos. Und die Sächsische Zeitung übernimmt das Framing der CDU, ohne zu hinterfragen.

Sachsen lässt zum dritten Mal Gnade in der Vorweihnachtszeit walten

Zum dritten Mal hat Sachsens Justiz auf Anordnung von Justizministerin Katja Meier (Bündnis 90 / Die Grünen) kurz vor Weihnachten Strafgefangene vorzeitig aus der Haft entlassen, damit sie die Advents- und Weihnachtszeit im Kreise von Angehörigen verbringen können. Dieses Prozedere wird „Weihnachtsamnestie“ genannt und in allen Bundesländern praktiziert – mit Ausnahme Bayerns.

In diesem Jahr haben die sächsischen Gerichte und Staatsanwaltschaften laut dem Justizministerium bisher die vorzeitige Freilassung für 48 erwachsene Gefangene angeordnet. Es handele sich dabei um Strafgefangene, die ihre Freiheits-, Jugend- oder Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen und die regulär in der Zeit vom 16. November bis 5. Januar entlassen würden.

Menschen, die besonders schwerwiegende Delikte begangen haben oder eine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren verbüßen, werden grundsätzlich nicht für die Weihnachtsamnestie in Betracht gezogen.

Justizministerin Meier: „Weihnachtsamnestie ist Akt der Humanität“

Die Weihnachtsamnestie muss von den infrage kommenden Menschen in Haft beantragt werden. Danach wird etwa geprüft, ob soziale Hilfen und ärztliche Versorgung nach der vorzeitigen Entlassung für die Gefangenen sichergestellt sind und ob sie sichere Wohnumstände haben. Erfüllen sie die Voraussetzungen, die von der Justizministerin in einer entsprechenden Verfügung festgelegt werden, dürfen die Vollstreckungsbehörden die frühzeitige Entlassung anordnen.

Justizministerin Meier begründet die Weihnachtsamnestie damit, dass „positive, enge familiäre Bindungen“ für eine erfolgreiche Resozialisierung entscheidend seien. Gerade vor dem Hintergrund, dass aufgrund der Corona-Maßnahmen auch in diesem Jahr umfangreiche Besuchsbeschränkungen in den Gefängnissen galten, sei die vorzeitige Entlassung wichtig. „Sie hilft den Gefangenen dabei, diese Bindungen zu ihren Kindern, Eltern oder Partnerinnen und Partnern zu pflegen“, erklärt Meier.

Darüber hinaus können die frühzeitig entlassenen Gefangenen die Zeit nutzen, um noch vor Weihnachten Termine bei Behörden und Hilfseinrichtungen wie etwa Suchtberatungen wahrzunehmen. Diese Termine können laut Ministerium entscheidend für die Resozialisierung sein. Als drittes Argument führt Justizministerin Meier die Entlastung der Angestellten im Justizministerium an, „die auch in diesem Corona-Jahr mit besonderem Engagement die Herausforderungen meistern mussten“.

Die CDU kennt keine Gnade

Die CDU lehnt die vom Koalitionspartner eingeführte Weihnachtsamnestie ab. „Sachsens Justizministerin hat es schon wieder getan“, schrieb die sächsische CDU-Fraktion Mitte Dezember auf Instagram, als handele es sich bei der vorzeitigen Entlassung um einen skandalösen Vorgang. Daneben: ein trauriges Emoji.

Was Recht ist, müsse Recht bleiben, so die Argumentation der CDU. „Es ist falsch, wenn die Justizministerin gesprochenes Recht per Gnadenentscheid wieder aushebelt.“ Die CDU hält die frühzeitige Entlassung von Strafgefangenen anlässlich der Weihnachtszeit für ungerechtfertigt und verfassungsrechtlich bedenklich.

In der Rechtslehre ist die Weihnachtsamnestie, die rechtlich gesehen gar keine Amnestie ist, umstritten. Das Kernproblem: Sie ist ein Relikt des Obrigkeitsstaats und steht außerhalb der Kategorien „Recht“ und „Gerechtigkeit“. In einem Rechtsstaat dürfte es sie eigentlich nicht geben, da sie Ausdruck der Willkürlichkeit des Staates ist. In diesem Fall: Zu Weihnachten können frühzeitige Gnadenentlassungen beantragt werden, an anderen Festen im Jahr nicht.

Diese „Bevorzugung von Strafgefangenen“, deren Haftende in die Weihnachtszeit fällt, ist in den Augen der CDU eine nicht hinzunehmende Ungleichbehandlung.

Sie argumentiert allerdings am Kerngedanken der Weihnachtsamnestie vorbei. „Gnade ist letztlich irrational, sie kann nicht verrechtlicht werden. Würde sie das, wäre sie aufgehoben“, schreibt Lorenz Leitmeier, Richter am Amtsgericht München, in einem Aufsatz auf „Legal Tribune Online“. Wer rechtlich gegen die Weihnachtsamnestie argumentiere, spreche sich gegen das Prinzip der Gnade aus.

Interessant ist, dass gerade die CDU, die sich qua ihres Namens auf christliche Werte beruft, die Kategorie der Gnade nicht zu kennen scheint. Selbst der Papst ruft in diesen Tagen die Staatsregierungen dazu auf, Gnade walten zu lassen. Den „Brüdern und Schwestern, die ihrer Freiheit beraubt sind,“ solle angesichts der Weihnachtszeit mit Milde begegnet werden.

Hohe Rückfallquoten?

Titelblatt der Dezember der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 109.
Titelblatt der Dezember der LEIPZIGER ZEITUNG, LZ 109. Foto: LZ

Besonders bedenklich findet die CDU die Weihnachtsamnestie aufgrund der „signifikant hohen Rückfallquote von Amnestierten in den letzten beiden Jahren“, so Martin Modschiedler, der rechtspolitische Sprecher der CDU-Fraktion im Sächsischen Landtag. „Zumal wenn sie wegen schwerer Verbrechen wieder in den Knast gekommen sind!“

Im Jahr 2020 wurden 60 Menschen im Rahmen der Weihnachtsamnestie frühzeitig entlassen, davon begingen zehn erneut eine Straftat oder werden verdächtigt, sich erneut strafbar gemacht zu haben. 2021 konnten 49 Menschen eher nach Hause gehen, 13 davon wird erneut eine Straftat vorgeworfen.

Schaut man sich die Datenlage zu Rückfallquoten an, wird schnell deutlich, dass Modschiedlers Aussage nicht stimmt. Laut einer Studie der Universität Göttingen und des Max-Planck-Instituts für Strafrecht in Freiburg begeht rund ein Drittel (34 Prozent) der Straftäter/-innen später erneut eine Straftat. Streckt man den Beobachtungszeitraum, steigt die Rückfallquote gar auf 44 Prozent.
Die Studie wurde im Jahr 2013 im Auftrag des Bundesjustizministeriums veröffentlicht. Die Rückfallquote der Strafgefangenen, die im Rahmen der Weihnachtsamnestie in Sachsen in den vergangenen Jahren vorzeitig entlassen wurden, ist mit rund 21 Prozent deutlich niedriger als der Durchschnitt, und keinesfalls „signifikant hoch“, wie von der CDU behauptet.

Die Kritik der CDU an der Weihnachtsamnestie-Praxis nimmt fast populistische Züge an. „Es kann nicht sein, dass jetzt ein Opfer eines Gewaltdeliktes, das den Täter hinter Gittern glaubt, ihm am Glühweinstand auf dem Weihnachtsmarkt begegnen kann“, meint Modschiedler. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass der entsprechende Gefangene wenige Wochen später sowieso freigekommen wäre.

In Kombination mit ihrer fragwürdigen Datengrundlage könnte man der CDU gezieltes Angstschüren unterstellen.

Grünen-Fraktionsvize wirft CDU Polemik vor

Aus den Reihen der Grünen wird der CDU-Fraktion nun Polemik vorgeworfen. Valentin Lippmann, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag, kritisierte das Statement des Koalitionspartners öffentlich. Mit einem „wirren Statistik-Voodoo“ verzerre die CDU die Realität, so lautet der Vorwurf.

Zum einen kritisiert Lippmann, dass die CDU durch ihre Formulierung suggeriere, gerade aufgrund der Gnadenentlassung würden die Menschen besonders oft rückfällig. „Die dargestellten Straftaten der Entlassenen wurden nicht im Reststrafzeitraum begangen, sondern danach“, schreibt Lippmann. „Die Taten haben also gar nichts mit der Amnestie zu tun. Hier wird ein Kausalverlauf behauptet, den es nicht gibt.“

Zum anderen stört sich Lippmann an der unsauberen Fachsprache der CDU. Von einer Signifikanz der Fälle könne keine Rede sein. „Hätte man Grundkenntnisse der Statistik vor Verfassen der Pressemitteilung bemüht, wäre klar geworden, dass eine Signifikanz nur besteht, wenn diese erkennbar von der Vergleichsgruppe abweicht“, schießt Lippmann in Richtung CDU. Im Vergleich zu ähnlichen Deliktgruppen fallen die beschriebenen Rückfallquoten keinesfalls hoch aus, so der Grünen-Politiker. Sein Fazit: „Evidenzbasierte Kriminalpolitik geht anders!“

Sächsische Weihnachtsamnestie von Grünen eingeführt

Die Sächsische Zeitung nimmt es derweil mit evidenzbasiertem Journalismus bei diesem Thema nicht so genau und übernimmt den Wortlaut der CDU in ihre Überschrift: „Hohe Rückfallquote bei begnadigten Straftätern in Sachsen“, titelte sie am 12. Dezember auf ihrer Website. Im Artikel werden die Zitate aus der CDU-Pressemitteilung ohne Einordnung oder Hinterfragen der Datengrundlage wiedergegeben.

Bis vor wenigen Jahren gab es diese Möglichkeit der Gnadenfreilassung in Sachsen noch nicht. Nachdem im Jahr 2019 mit Katja Meier erstmals eine Grüne an die Spitze des zuvor fast ausschließlich CDU-geführten Justizministeriums gekommen war, wurde die Weihnachtsamnestie schließlich eingeführt. 2020 kamen erstmals Gefangene auf Grundlage dieser Regelung vorzeitig frei.

„Umstrittene Weihnachtsamnestie: Die CDU kennt keine Gnade“ erschien erstmals am 16. Dezember 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 109 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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