Trotz aller geographischen, rechtlichen, soziologischen und strukturellen Unterschiede gäbe es etwas, was man als die „menschliche Ursituation des Gefangenseins“ bezeichnen könne, bemerkten der schweizerische Jurist Alfred Abegg und der deutsche Kriminologe Rüdiger Herren schon im Jahr 1965: „Ist ein Mensch in die ‚Grenzsituation des Gefangenseins‘ gestellt, so tauchen oftmals archetypische Angst- und Todesvorstellungen aus dem Dämmer seines Unbewussten auf. Auch beim modernen Strafgefangenen bricht manchmal die Urangst, die Existenzangst in nackter Form, durch und ergreift Besitz von seinem Bewusstsein.“

Vielleicht ist es dies, was auch Maria Lindner vor vielen Jahren durchlebt, nachdem das Landgericht sie wegen Mordes an einem Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt hat. Die heute 62-jährige Frau, die in Wahrheit anders heißt und seit mehreren Jahren wieder auf freiem Fuß ist, hat sich gegenüber der LZ in einem mehrstündigen Gespräch geöffnet und von der langen Zeit im Strafvollzug erzählt. Über den ersten Teil berichteten wir in der letzten LZ-Ausgabe.

Das Urteil wird rechtskräftig

Nachdem sie ihr Urteil „lebenslange Haft“ erhalten hat, kehrt Maria zunächst in die damalige Justizvollzugsanstalt nach Stollberg zurück, wo sie zu diesem Zeitpunkt schon mehr als ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht und sich nur mühsam an das raue Knastleben, die ihr fremden Gepflogenheiten, das Leben in der Zelle mit mehreren anderen Frauen und den harten Umgangston gewöhnt hat.

Ihr Anwalt hatte vergebens versucht, eine geringere Haftstrafe für Maria wegen Totschlags herauszuholen. Er legt gegen das Urteil Revision ein. Dass bei der Prüfung tatsächlich ein kleiner Verfahrensfehler zum Nachteil seiner Mandantin festgestellt wird, hat auf den Richterspruch keinen Einfluss. Der Verteidiger kann nichts mehr tun – und Maria weiß, sie muss sich darauf einstellen, abzüglich der U-Haft-Zeit noch mehr als 13 Jahre hinter Gittern zu sitzen. Mindestens.

Es ist selten wie im Film

Im viel gelobten Film „Die Verurteilten“ (1994) entsteht im Gefängnis eine Freundschaft zwischen dem Neuzugang Andy Dufresne (Tim Robbins) und Mithäftling „Red“ (Morgan Freeman).

In der Realität ist so etwas nie ausgeschlossen, aber selten – so erlebt es jedenfalls Maria. „Die meisten sehen zu, dass sie unbeschadet durch die Zeit kommen, ihren Tabak und ihren Kaffee haben. Das ist es, was die meisten als das Wichtigste erachten“, erinnert sie sich.

Und Maria tut sich erst recht schwer, Anschluss zu finden. Sie ist anders als viele Mitinsassinnen, weil sie vor ihrer Inhaftierung nie straffällig war, weil sie den rohen Umgang nicht gewohnt ist, der sich auch mal darin zeigt, dass sich eine Mitgefangene einfach nur über Marias Schrecken ergötzt, wenn sie gegen deren Zellentür geschlagen hat.

So bleibt Maria eher eine Einzelgängerin, trifft im Laufe der Zeit nur wenige Frauen in der Haft, mit denen sie auch mal über Themen wie einen guten Roman oder einen Film reden kann. „Es war schwer, jemanden zu finden, der deinen Ansprüchen gerecht wird. Das klingt ein bisschen überheblich, aber es ist so“, meint Maria in der Rückschau.

Subtile Psychospielchen

Und sie begreift schnell: Es ist weniger das Prahlen mit dicken Muskeln, auf das es ankommt, es ist nicht so sehr die physische Gewalt, vor der sie sich hüten muss – auch wenn sie mal Ohrfeigen oder Haare-Ziehen bei anderen Frauen mitbekommt. Doch der psychische Druck durch Mitgefangene ist omnipräsent und alles andere als harmlos.

Maria, sensibel, belesen und Klassik-Liebhaberin, erlebt es immer wieder, dass plötzlich Drohungen im Raum stehen, oder Geschichten, die sie in ein schlechtes Licht rücken. Manchmal wird sie wegen angeblicher Äußerungen auch zu Bediensteten zitiert und muss sich rechtfertigen. Auf diese Art entsteht eine mentale Belastung ganz eigener Art: „Es ist alles subtiler und weniger greifbar. Ich glaube, ich hätte lieber mal in die Fresse gekriegt, als diesen Psychoterror mitzumachen“, formuliert sie es drastisch.

Vor allem Gefangene mit viel Haft-Erfahrung kennen das System von innen her genau und finden geschickt ihre Wege, auch mit dem Personal gut klarzukommen.

„Mir stand der Arsch voller Tränen“

Ein Fortschritt ist es immerhin, als Maria 2001 in den neu gegründeten Strafvollzug für Frauen nach Chemnitz wechselt, denn hier kann sie endlich eine Einzelzelle beziehen und muss sich zumindest nicht mehr auf engem Raum mit anderen Häftlingen arrangieren. Doch trotz dieser äußeren Verbesserung fühlt sie sich zunehmend deprimiert und einsam.

Nach wie vor fordert ihr der Gefängnisalltag viel Kraft ab, auch wenn er äußerlich wenig Überraschungen aufweist: Lebendkontrolle, Wecken, Frühstück, Ausrücken zur Arbeit – Maria hatte sich schon am Anfang der Haft erfolgreich um einen Job in der Näherei gekümmert, um auf andere Gedanken zu kommen.

Doch die ständige Fremdbestimmung, die Tatsache, nichts selbst entscheiden zu können – das zerrt an den Nerven. Maria durchlebt ein Wechselspiel verschiedener Arten, mit ihrem Status als Strafgefangene umzugehen: Rückzug in sich selbst, eine Fassade aus Arroganz oder betont freches Auftreten. „Ich habe alle drei Phasen durch.“ In der harten Erkenntnis, eine Mörderin zu sein, die einem Menschen das Leben genommen hat, geht Maria innerlich zunächst hart mit sich selbst ins Gericht. Sie lässt sich gehen, will sich nicht schick zurechtmachen, weil sie denkt, sie verdient, dass es ihr schlecht geht.

Später versucht sie es mit scheinbarer Gleichgültigkeit, lässt psychische Gewalt von Mitgefangenen vermeintlich unbekümmert an sich abperlen. Doch die gespielte Coolness kostet Kraft. „Dabei ging mir das so nahe, mir stand der Arsch voller Tränen.“

Wenn die Weitsicht verloren geht

Zu den bitteren Knast-Lektionen Marias gehört zudem, dass auf die soziale Spielregel des Gebens und Nehmens hinter Gittern kein Verlass ist. Die damals etwa 40-Jährige entwickelt zeitweise eine Art Mutter-Syndrom, kümmert sich auch mal um jüngere Mitinsassinnen, von denen viele wegen Betäubungsmitteldelikten einsitzen – die „Drogenmädels“, wie Maria sie nennt. Sie versucht ihnen etwas Trost und Hilfe zu bieten. Trotzdem schlagen sie sich nicht auf ihre Seite, wenn Maria selbst Beistand braucht, sondern beteiligen sich sogar noch an Schikanen.

In dieser eigentümlichen Melange des Haftlebens aus Ödnis und Härte verliert Maria zunehmend die Weitsicht – im wahrsten Sinne des Wortes. In ihrer Chemnitzer Zelle hat sie, anders als vorher in Stollberg, nicht nur eine hohe und schmale Luke, sondern ein Fenster, das sie selbst öffnen kann. Beim Blick auf das nahe Rapsfeld tränen ihr die Augen – weil das Sehorgan schlicht nicht mehr auf die Ferne geschult ist. Die Reduktion von Sinneseindrücken Strafgefangener – auch dieses Phänomen ist bei Fachleuten schon lange bekannt.

Jahrelange Selbstzweifel

Die ersten sieben, acht Jahre im Gefängnis droht Maria zu zerbrechen – immer wieder fragt sie sich, ob es ihr als „Lebenslänglicher“ gelingt, die gefühlte Ewigkeit durchzustehen, bis sie die Chance auf eine Entlassung hat, und ob es danach überhaupt eine normale Zukunft für sie geben kann.

Suizidgedanken? „Die hat man mit diesem Urteil auf jeden Fall.“ Maria lernt andere Frauen kennen, die schon an einer Haftstrafe von zwei Jahren verzweifeln. „Da konnte ich dann auch nicht mehr unterstützend sein.“ Über einen Ausbruch denkt sie dagegen nie ernsthaft nach, zumal sie keine Ahnung hat, wohin sie dann überhaupt fliehen sollte.

Irgendwann wurde es besser

Gruppenanschluss, Religion, exzessiver Sport – Häftlinge können kreativ werden, wenn es darum geht, Anpassungs- und Überlebensstrategien in ihrer Lage zu entwickeln. Maria findet ihren eigenen Weg: Neben Naikan, einer japanischen Methode, die zur Selbsterkenntnis führen soll, wird die klassische Musik zum unverzichtbaren Begleiter. „Musik ist wie ein Lebensretter in Haft, wenn du so richtig in deine Welt abtauchen kannst!“, beschreibt es Maria.

Seit ihrer Verlegung nach Chemnitz erhält sie zudem regelmäßigen Besuch von einer Freundin, die nach wie vor zu ihr hält. Auch dieses Highlight baut sie auf.

Es ist vielleicht diese Mischung aus Überlebenswille und dazu Marias pragmatische Art, die ihr helfen, irgendwann an den Punkt zu kommen, wo sie sich sicher ist: Nein, sie wird ihrem Leben kein Ende setzen, sondern sie will die Haftzeit durchstehen.

„Dialoge, wo die Ironie tropfte“

Maria wird selbstbewusster. Sie eignet sich ein gesundes Maß an Durchsetzungsvermögen an, auch gegenüber den Bediensteten, deren Niveau sie als sehr unterschiedlich erlebt. Manchmal sei der Umgangston grenzwertig gewesen – andere dagegen waren, wie sich Maria erinnert, „richtig cool“ und nehmen sich auch mal Zeit für ein Gespräch.

Von dummen Sprüchen über die Bücher in ihrer Zelle und anderes lässt sie sich nicht mehr irritieren, fordert zumindest grundlegenden Respekt von den Aufsehern ein, von denen manche eher mal wegschauen, wenn Gefangene von anderen drangsaliert werden.

„Da gab es Dialoge, wo die Ironie tropfte, aber sie haben es auch verstanden“, sagt Maria. Und meint, es sei nicht nur das Machtgefälle, sondern auch der schlichte Wunsch nach einem ruhigen Dienst, der erklärt, warum es manchmal problematisches Verhalten beim Gefängnispersonal gab.

Nach zehn Jahren die erste Baumberührung

Sie selbst spielt längst nicht immer ganz nach dem Regelwerk, gibt sie zu. So beteiligt sie sich beim „Ansetzen“ von Hefe, um an Alkohol zu kommen – eigentlich strikt verboten hinter Knastmauern. „Bei 15 Jahren Haft kann man nicht nur geradlinig laufen“, meint Maria. Doch im Wesentlichen versucht sie, das Beste aus ihrer Situation zu machen, beginnt eine Ausbildung, um die Zeit zu nutzen, von der sie im Gefängnis reichlich zur Verfügung hat.

Es vergehen zehn lange Jahre, bis Maria auf eine sozialtherapeutische Station nach Dresden verlegt wird – und zum ersten Mal in Gruppenbegleitung wieder nach draußen darf, in eine Welt, die sich verändert hat. Der Moment, als sie einen echten Baum berührt – Gänsehaut! Doch noch hat sie fünf Jahre Strafvollzug vor sich.

Lesen Sie in der nächsten Ausgabe: Marias Entlassung – Freude ohne Euphorie, Kritik an der Resozialisierungspraxis und wie Maria heute auf ihre Vergangenheit schaut.

„15 Jahre hinter Gittern – eine Ex-Gefangene erzählt (Teil 2): „Psychoterror, Resignation, Zuversicht“ erschien erstmals am 28. Januar 2022 in der aktuellen Printausgabe der Leipziger Zeitung (LZ). Unsere Nummer 98 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar