Wenn Städte zum „shooting star“ werden, freut das vor allem die Investoren und Immobilienkäufer – die Preise steigen, Häuser werden zu Wertsteigerungsanlagen und – die Mieten steigen. Und das sorgt dafür, dass vor allem zuerst die kreativen Mieter unter Druck geraten. Passiert ist das jetzt dem markanten Verlag Hentrich & Hentrich. Zum 1. September 2018 hat der auf jüdische Kultur und Zeitgeschichte spezialisierte Hentrich & Hentrich Verlag seinen Hauptsitz von Berlin nach Leipzig verlagert. Ein paar Fragen, die Verlegerin Dr. Nora Pester gleich mal ausführlich beantwortet hat.

Was ist der Auslöser für Ihren Umzug?

Wie viele Firmen und Privatpersonen in Berlin können auch wir unser bisheriges Mietverhältnis nicht fortsetzen. Nach zweimaligem Verkauf des ehemaligen Buchgewerbehauses Lüderitz & Bauer in der Wilhelmstraße an Investorengruppen sehen wir uns mit einer grundsätzlichen Mietsteigerung von rund 150 Prozent konfrontiert, würden wir hier bzw. in der Innenstadt bleiben. Wir haben uns deshalb entschieden, nicht in die Peripherie Berlins zu ziehen und lange Anfahrtswege in Kauf zu nehmen, sondern einen Neustart in Leipzig zu planen.

Warum haben Sie sich für Leipzig entschieden?

Nach insgesamt über dreißig Jahren in Berlin schreiben wir nun ein neues Kapitel in unserer Verlagsgeschichte. Das Ende unseres Mietvertrags nehmen wir, der einzige deutschsprachige Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte, zum Anlass, neun Jahre nach unserer Neugründung und den fast 400 in dieser Zeit entstandenen Buchprojekten neue Ideen rund ums jüdische Buch zu entwickeln und zu verwirklichen.

Leipzig bietet uns dafür ideale Rahmenbedingungen. Sie ist eine der schönsten und traditionsreichsten, zugleich jüngsten und dynamischsten Großstädte Deutschlands – und meine Heimatstadt.

Wir haben in Leipzig mit dem Haus des Buches am Gutenbergplatz im grafischen Viertel einen idealen Standort und Partner gefunden. Zugleich wurden wir im Rathaus sofort herzlich willkommen geheißen und mit Rat und Tat unterstützt. Hier ist man sich der Verantwortung für Vergangenheit und Zukunft überaus bewusst. Leipzig war eben nicht nur die deutsche Buch- und Messestadt. Leipziger Kultur und Geschichte ist ohne seine jüdischen Verleger, Künstler, Gelehrten, Händler und Industriellen nicht denkbar. Und in der Gegenwart freuen wir uns auf die Zusammenarbeit mit der sehr aktiven und lebendigen Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig.

Weil der Verlag zudem im gesamten Bundesgebiet aktiv ist, bietet uns die Mitte Deutschlands auch einen verkehrstechnischen Vorteil. Außerdem sind unsere Grafik und Herstellung schon seit Jahren in Leipzig ansässig. Es besteht also bereits eine enge Bindung zu dieser Stadt.

Was verbindet den Verlag weiterhin mit Berlin?

Sehr viel, und damit meine ich nicht nur den Zusatz im Verlagsnamen. Es gibt auch zukünftig ein „Team Berlin“, und ich werde weiterhin persönlich in Berlin präsent und für unsere Partner, Autoren und Herausgeber vor Ort ansprechbar sein. Leipzig und Berlin trennen gerade einmal 65 Bahnminuten. Auch inhaltlich bleiben wir Berlin, seiner jüdischen Geschichte und Gegenwart verbunden. Ein jüdischer Verlag ist per se kosmopolitisch.

Neuer Verlagssitz: das Haus des Buches. Foto: Ralf Julke
Neuer Verlagssitz: das Haus des Buches. Foto: Ralf Julke

Ist der Umzug nach Sachsen auch ein politisches Statement?

Dieser Verlag ist ein Demokratieprojekt und damit nicht an einen bestimmten Standort gebunden, sondern an eine funktionierende Demokratie. Um Friedrich Ebert zu zitieren: „Demokratie braucht Demokraten.“ Leipzig nimmt schon immer eine politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Sonderstellung in Sachsen ein. Und selbstbewusste jüdische Stimmen braucht es in ganz Deutschland.

Wir möchten uns daher endlich wieder ganz auf unsere Kernaufgaben konzentrieren und nicht darauf, ob und wie lange wir in Berlin noch eine Bleibe gehabt hätten. Diese Entwicklung belastet nicht nur Unternehmen, sondern auch deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Da hilft meines Erachtens auch keine selektive Verlagsförderung für Einzelne nach subjektiven Kriterien, sondern nur eine objektive Infrastrukturförderung. Schlussendlich entscheidet der Standortwettbewerb.

Und getreu meinem Motto „Wer, wenn nicht du? Wann, wenn nicht jetzt?“ ist es genau der richtige Zeitpunkt, um als jüdischer Verlag in Sachsen historisch und politisch Position zu beziehen.

Haben Sie bereits Veranstaltungen in Sachsen geplant?

Ja, wir freuen uns, dass unser Autor Arye Sharuz Shalicar auf Einladung der Konrad Adenauer Stiftung – Politisches Bildungsforum Sachsen ab 25. September mit seinem neuen Buch „Der neu-deutsche Antisemit. Gehören Juden heute zu Deutschland?“ zuerst auf Lesereise in Sachsen sein wird, wo man ihn u.a. in Leipzig, Zwickau und Bad Muskau erleben kann. Ab 4. Oktober wird zunächst in Chemnitz, kurz darauf in Leipzig und Dresden die Ausstellung Bruch|Stücke. Die Novemberpogrome in Sachsen 1938 gezeigt, deren Begleitband bei uns erscheint. Und am 19. Oktober wird Konstantin Seifert die Biographie von „Hans Serelman. Mediziner, „Rassenschänder“, Interbrigadist …?“ im Schloss Glauchau vorstellen. Es ist uns wichtig, mit unseren Themen hier auch unmittelbar vor Ort präsent zu sein und mit unseren Leserinnen und Lesern ins Gespäch zu kommen. Unsere offizielle Eröffnungsfeier in Leipzig wird übrigens Ende November stattfinden.

Seine Neuerscheinungen präsentiert der Verlag auch auf der Frankfurter Buchmesse vom 10. bis 14. Oktober 2018 in Halle 4.1, Stand E59.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar