Man kann die Diskussion über TTIP und CETA nicht nur auf Arbeitsplätze beziehen. Auch wenn das durchaus immer wieder beeindruckt, wenn Politiker mit dem Versprechen, hunderttausende Arbeitsplätze zu schaffen, für solche Freihandelsabkommen werben. Aber es ist bei CETA genauso wie bei TTIP: Die Gefahr, dass das Abkommen Arbeitsplätze vernichtet, ist größer als die Chance, welche schaffen zu können.

Das Problem ist der unhinterfragte Glaubenssatz, dass Beseitigung von Handelshindernissen und Abbau von Marktregularien dafür sorgen, dass mehr Waren gehandelt werden und damit auch mehr Arbeitsplätze entstehen. Das hat historisch funktioniert, weil erst so die Globalisierung in Gang kam und ein weltweiter Handel fast ohne Beschränkungen möglich wurde. Der Prozess dauerte rund ein Jahrhundert und ist eigentlich abgeschlossen, auch wenn die Befürworter neuer Freihandelsabkommen etwas Anderes behaupten.

Tatsächlich ist die Welt an einem Punkt angekommen, an dem – wie es die Bündnisse gegen TTIP und CETA fordern – über neue Regularien nachgedacht werden muss. Denn die neuen Formate von Freihandelsverträgen, die in den letzten 40 Jahren ausgehandelt wurden, haben vor allem einen Effekt gehabt: ganze Weltregionen als gleichberechtigte Teilnehmer des Weltmarktes lahmzulegen (und damit als Absatzmärkte für europäische Produkte zu zerstören). Seit 40 Jahren wird von Schwellenländern geredet. Meist sind damit die BRIC-Staaten gemeint. Doch außer China hat es keines dieser Riesenländer (Brasilien, Russland, Indien) geschafft, die Schwelle zu den führenden Industrie-Nationen zu überschreiten.

Ganz zu schweigen vom Rest Südamerikas und gar Afrika, die mittlerweile regelrecht dabei sind, sich in reine Rohstofflieferanten zu verwandeln, ohne dass die Nationen davon profitieren. Ergebnis: politische Dauerkrisen, Bürgerkriege, zerstörte Staaten. Um sich überhaupt wieder als gleichwertige Handelspartner etablieren zu können, brauchen diese Staaten tatsächlich völlig andere Handelsverträge: mit starken Regularien.

Die EU braucht solche eigentlich auch, wenn sie nur ansatzweise ernst nimmt, was selbst SPD-Chef Sigmar Gabriel in der CETA-Diskussion verspricht: Ohne starke Regularien zum Schutz von Umwelt und Arbeitswelt können weitere Verträge nur neue Effekte des Dumpings erzeugen. Schon jetzt haben die Deregulierungen in europäischen Ländern – wir erinnern einfach mal an Philip Thers Buch 2Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent2 – zu massiven politischen Verwerfungen und vor allem zu einem überall aufflammenden neuen Nationalismus geführt. Die neoliberale Medizin hat sich als Gift für das Projekt Europa erwiesen.

Und das Fatale ist: Statt endlich eine sichtbare Wirtschaftskompetenz aufzubauen, die sich mit den konkreten wirtschaftlichen Ursachen der politischen Krisen der Gegenwart beschäftigt, wollen die Freihandelsgläubigen dem Kontinent nun die nächste Dosis einflößen. Und es ist Kanada, das betont, es wolle CETA nicht nachverhandeln. Als wäre Europa ein Bettler, das bei Kanada darum bitten muss, einen Freihandelsvertrag abschließen zu dürfen.

Andersherum wird ein Schuh draus: Europa ist der Markt, auf den die Kanadier möglichst ohne Regularien wollen, die US-Amerikaner sowieso. Aber dann ist das politische Projekt Europa tot. Genau davon erzählen ja die neuen nationalistischen Bewegungen. Sie sprechen die um sich greifende Angst der Unter- und Mittelklassen an, in einem weiter deregulierten Wirtschaftsraum überhaupt keine Chancen auf ein einigermaßen wohlständiges Leben mehr führen zu können. Und die Bürger ahnen zumindest auch, woher dieses Gefühl tiefsitzender Verunsicherung kommt und wie sehr es mit den neoliberalen Methoden der Deregulierung zu tun hat.

Denn die sorgen für eine Umkehrung der Werte. Nicht mehr der Mensch und das Wohlergehen der Gesellschaft stehen an der Spitze der Prioritätenliste, sondern „der Markt“ und die Renditen der Großkonzerne. Denn nichts anderes bedeutet ja ein Klagerecht der Konzerne, wenn sie sich durch politische Entscheidungen in ihren Eigentumsrechten verletzt sehen.

Dass die von Managern dirigierte EU überhaupt bereit war, über solche Verträge zu verhandeln, zeigt recht deutlich, wie sehr das seit über 40 Jahren anhaltende Trommelfeuer des Neoliberalismus das Denken verändert hat. Leitsätze aus der Bibel der Chicago-Boys werden wie Handlungsanweisungen für Politik betrachtet.

Wir haben an dieser Stelle oft genug von Managern in den Chefetagen der EU gesprochen. Auch Berufspolitiker sind nichts anderes als Manager, oft genug sogar Leute, die es als selbstverständlich ansehen, dass die Vertreter von Konzernen ungehinderten Zutritt in Regierungsbereiche haben und an Gesetzen mitschreiben.

Warum eigentlich?

Es ist dieses – ebenfalls zutiefst neoliberale – Denken, dass Wirtschaftsvertreter am besten wüssten, wie ihre Branche tickt, welche Rahmenbedingungen sie braucht und wie die entsprechenden Regeln auszusehen haben. Gern wird dann darauf verwiesen, dass ja Nichtregierungsorganisationen ebenso häufig an Beratungen beteiligt seien.

Das Problem liegt woanders: In der Inkompetenz der politischen Entscheider. Sie haben sich keine unabhängige, wissenschaftlich fundierte Sachkompetenz aufgebaut. Und damit sind nicht die ganzen – oft genug nur einer einzigen Glaubensrichtung anhängenden – Wirtschaftsinstitute gemeint, wie sie die Bundesregierung zum Beispiel als „Wirtschaftsweise“ zur Beratung heranzieht.

Sondern eine wirklich unabhängige Wirtschaftsforschung, die die komplette Welt aller wirtschaftlichen Beziehungen in einer Gesellschaft erfasst und sich nicht auf billige Rechenmodelle beschränkt, mit denen mögliche Wachstumsraten, Verdrängungseffekte oder ähnlich kleinteiliger Blödsinn berechnet werden.

Eine unabhängige Forschungseinrichtung, die allein von der EU bezahlt wird – ohne den ebenso neoliberalen Hang, die Hälfte der Energie mit der Jagd nach Drittmitteln vergeuden zu müssen. Eine Forschungseinrichtung, die ihre Resultate für alle EU-Bürger öffentlich macht – gedruckt und online. Und die vor allem auch verpflichtet ist, die kompletten Beziehungen einer Gesellschaft rsp. Staatengemeinschaft darzustellen.

Und die vor allem auch Schulungen für Politiker anbietet. Denn nur unwissende Politiker tanzen so sehr nach der Pfeife der „Märkte“, wie wir es in den letzten Jahren erlebten, gründen Troikas, um ein bis über die Ohren verschuldetes Land zu „retten“, versuchen Freihandelsverträge durchs EU-Parlament zu prügeln und lassen eine Europäische Zentralbank agieren, als könnten ein paar Spielereien an der Stellschraube in den europäischen Staaten kein Unheil anrichten. Allein die Politik der EZB würde – wenn man es nüchtern betrachtet – monatliche Berichte über die Auswirkungen der Null-Zins-Politik auf jedes einzelne EU-Mitglied erzwingen.

Das passiert aber nicht. Was auch wieder sichtbar macht, dass es in Brüssel niemanden gibt, der überhaupt einschätzen kann, wie EU-Politik sich wirtschaftlich tatsächlich auswirkt, keine wahrnehmbare kompetente Steuerungsgruppe, kein Modell zur Korrektur.

Aber das hat ja schon in den Zeiten gefehlt, als der Euro eingeführt wurde und – wirtschaftlich völlig ahnungslose – EU-Politiker stillschweigend zugeschaut haben, wie die Mittelmeerländer sich heillos in Schulden verstrickten.

Wie man sieht, sieht man nichts: Ein kompletter Kompetenzbereich fehlt einfach. An seiner Stelle rennen Lobbyisten aller Farben und Konzerne in den EU-Dependancen rein und raus, schreiben an Gesetzen mit und sorgen dafür, dass erst ein völlig sinnloser Berg an Regelungswut entsteht, der dann gern der EU-Bürokratie angelastet ist, aber eigentlich nur eines kaschiert: Das Eigentliche passiert einfach nicht. Man laboriert ohne wirklich wissenschaftliche Kompetenz vor sich hin.

So aber wird Politik auf europäischer Ebene inhaltsleer. Eine Null-Politik.

Denn die schlichte Wahrheit ist: Gesellschaft ist in all ihren Beziehungen immer auch Wirtschaft.

Wer nicht weiß, wie die eigene Wirtschaft funktioniert, sollte von Freihandelsverträgen lieber die Finger lassen.

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