Berlin kann man nicht übersehen. Und jetzt bleiben wir mal ganz im Wirtschaftlichen. Denn Wirtschaft braucht Strukturen. Sie siedelt sich dort an, wo sie die besten Strukturen zum Wachsen findet. Das erzählen wir jetzt mal nur unter uns. Wenn das die deutschen Wirtschaftsexperten mitbekommen, werden die nur verwirrt. Das widerspricht ja all ihren täglich verlautbarten Orakeln.

Aber wie löst man sich davon, wenn man 1.) damit aufgewachsen ist, 2.) seit 40 Jahren alle Lehrstühle von einem mathematisch besessenen Modelldenken besetzt sind, 3.) einschlägige Medien und reihenweise Regierungen sich mit dem Zahlensalat nur zu gern berauschen und 4.) ein Andenken gegen den prozentebesoffenen Hokuspokus kaum wahrgenommen wird? Denn die ganze Gemeinschaft der Wirtschaftsexperten ist ja nun einmal auf die Berechnung von BIP und BIP-Wachstum getrimmt. Damit kann man ungebildete Regierungschefs zum Lächeln bringen und ratlose Wirtschaftsminister vor sich her treiben.

Das heilige BIP!

Wie kommt man da raus?

Prof. Udo Ludwig vom Institut für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH) versucht es zumindest, wenn er jetzt so eine Art Ausblick wagt ins nächste Jahr und versucht, die Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland zu erraten. Mit Berlin, versteht sich. Was ja schon eine Freude ist, weil selbst Bundesinstitutionen 26 Jahre nach der großen Einheitsfeier Berlin noch immer in den Westen hineinrechnen.

Weil sie einfach nicht verstehen, dass Wirtschaftsentwicklungen auf den beliebten deutschen Föderalismus – na ja – pfeifen. Man hält sich zwar viel zugute auf den gepredigten deutschen Wirtschaftsverstand. Aber auf der politischen Bühne wird er schmerzlichst vermisst. Da müssen wir von Europa oder den USA gar nicht reden. Es wird – mit ziemlicher Sicherheit – einmal Zeiten geben, in denen richtige Wirtschaftsforscher sich einfach an den Kopf fassen: „Computer und Internet haben sie schon erfunden – aber ihr Wirtschaften war eine einzige Katastrophe.“

Wetten?

Wir werden die Wette bloß nicht einlösen können, weil das viel zu lange dauert. Die jungen, kritischen Ökonomen im Land können ein Lied davon singen. Sie prallen an den seit 40 Jahren aufgebauten Mauern des statistischen, formelversessenen Wirtschaftsdenkens in den deutschen Wirtschaftslehrstühlen ab. Da sitzen heute die Schüler jener Professoren, die auf den meisten Lehrstühlen den bekannten neoliberalen Schmalkost-Salat als aller Weisheit letzten Schluss etabliert haben, der ungefähr 90 Prozent dessen, was Wirtschaft eigentlich ist, ausblendet.

Wie Ludwig das Jahr 2016 einschätzt, lassen wir hier mal weg. Das können Sie unten in der verlinkten Pressemiteilung nachlesen.

Interessant ist der Versuch, das Jahr 2017 zu skizzieren.

Bruttoinlandsprodukt

„Im Jahr 2017 wird das Bruttoinlandsprodukt in Ost- wie in Westdeutschland mit 1,3 % im Gleichschritt expandieren. Der Wachstumsvorsprung der ostdeutschen Wirtschaft (einschließlich Berlin) in den beiden Vorjahren ist bereits im Jahr 2016 geschmolzen, so dass der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands insgesamt erneut stagniert.“

Es war tatsächlich so – außer bei den Statistikern, die Berlin immer noch in den Westen hineinrechnen: Das Bruttoinlandsprodukt wuchs 2015 in Ostdeutschland mit 1,9 Prozent etwas stärker als im gesamten Bundesgebiet (1,7 %), 2016 wird es mit 2,0 gegenüber 1,9 Prozent ganz ähnlich sein.

„Im Jahr 2017 wird die ostdeutsche Wirtschaft weiterhin von der Verlagerung der Antriebskräfte der gesamtwirtschaftlichen Konjunktur in Deutschland vom Ausland auf das Inland profitieren“, meint Ludwig. „Impulsgeber dürften vor allem die konsumnahen Branchen des Produzierenden Gewerbes und des Dienstleistungsbereichs sein.“

Man merkt, wie er versucht, die Entwicklung im klassisch engen Sinn über die Nachfrageentwicklung nach Wirtschaftsbereichen zu begreifen. Immerhin ist hier zu bemerken: Noch vor wenigen Jahren hätten sich die deutschen Wirtschaftsanalytiker ganz allein auf die exportorientierte Industrie beschränkt. Das ist der Heilige Gral, mit dem die Wirtschaftsentwicklung im Westen jahrzehntelang scheinbar ganz gut beschrieben werden konnte. Ein Land wie Deutschland muss ja wohl exportieren. Wenn es viel exportiert, brummt „die Wirtschaft“. Dienstleistung kam in dieser Weltbetrachtung gar nicht vor.

Mittlerweile gab es mehrere Aha-Effekte (insbesondere seit Ausbruch der Finanzkrise 2007/2008), die auch in den Wirtschaftsinstituten die Erkenntnis reifen ließen, dass die Dienstleistung (der sogenannte tertiäre Wirtschaftssektor) wohl doch nicht so ganz beiläufig ist – und schon gar nicht nur ein Anhängsel der Industrie. Im Gegenteil: Gerade in den Jahren, in denen die versammelte deutsche Wirtschaftselite einen Einbruch der Wirtschaftsleistung herbeiorakelte, sorgte ausgerechnet das beharrliche Wachstum der Dienstleistungswirtschaft dafür, dass es ganz und gar keinen Abbruch oder Absturz gab.

Moderne Wirtschaften haben viel mehr mit einem lebendigen und selbstregulierenden Organismus zu tun, als es die Formelbesessenen wahrhaben wollen. Was nicht heißt, dass man diesen Organismus nicht auch kaputtmachen oder kaputtsparen kann.

Aber ich schätze, über die gnadenlos dumme Austeritätspolitik deutscher Finanzminister werden wir 2017 noch eine Menge zu schreiben haben.

Aber ganz bekommt auch Udo Ludwig die alte Denkweise aus seiner Analyse nicht heraus: „Zudem erholt sich die Weltkonjunktur nur mäßig, so dass die Exporte, aber auch die Belieferung der westdeutschen Produzenten von Exportgütern mit Vorleistungsgütern aus Ostdeutschland wohl nur leicht an Fahrt gewinnt.“

Da ist noch der alte Glaube daran, dass es der Industrieexport ist, der die Wirtschaft brummen lässt.

Wäre das so und wäre das auch in den Köpfen der maßgeblichen Politiker verankert, wir hätten sowohl in Deutschland als auch in der EU eine völlig andere Außen- und Finanzpolitik. Es ist auch eine gnadenlos falsche Außenpolitik, die Europas Wirtschaft zerrüttet. Und ein klügerer Bundesfinanzminister hätte schon vor sechs Jahren begriffen, dass man Länder wie Griechenland, Italien und Spanien mit echter Wirtschaftspolitik stabilisieren muss, um deren Probleme zu lösen, die längst auch unsere sind. Wir tun nur immer so, als ginge uns das alles nichts an.

Demografie

Und dann dieses komische Ding mit der Demografie. Udo Ludwig: „Zwar dürften auch nach wie vor demographische Faktoren die Entwicklung von Nachfrage und Angebot in den ostdeutschen Flächenländern belasten, der Bevölkerungszuwachs in Berlin und die dort verstärkte Ausweitung der Kreativwirtschaft werden sie aber wohl weitgehend ausgleichen.“

Nur mal so als Zwischengedanke: Dass überhaupt so viel über demografische Faktoren geredet wird in (Ost-)Deutschland, hat auch damit zu tun, dass sämtliche Landesregierungen so tun, als würde sie irgend so etwas wie geschlossene und abgrenzbare Wirtschaftsräume verwalten. Berliner Wirtschaft, sächsische Wirtschaft, mecklenburg-vorpommersche Wirtschaft. Der ganze Quatsch, der mit den realen Wirtschaftsstrukturen im Osten gar nichts zu tun hat.

Der Osten hat genau drei, bei etwas mutigerer Rechnung vier Großstädte, die die Grundbedingungen dafür bieten, dass sie als Metropolkerne funktionieren. Den größten kann nun auch Udo Ludwig nicht mehr übersehen: das ist Berlin, von dessen zunehmender Stabilisierung als Wachstumskern auch Brandenburg mittlerweile erstaunlich profitiert.

Und Berlin hat sich in den vergangenen zehn Jahren zum Wachstumskern vor allem als Dienstleistungsstadt gemausert. Die modernen Waren, die unser Leben immer stärker bestimmen, sind Dienstleistungen. Und Dienstleistungen gibt es nicht ohne Menschen, die die Arbeit machen. Was dann dem eigentlich leergefegten ostdeutschen Arbeitsmarkt wieder Bewegung macht.

Udo Ludwig im Rückblick auf das dann doch auch für die wahrsagenden Theoretiker überraschende Jahr 2016: „Im Gefolge der robusten Grundtendenz der Entwicklung der Produktion war die Lage am ostdeutschen Arbeitsmarkt im Jahr 2016 recht günstig. Die Zahl der Erwerbstätigen nahm um 81.000 Personen bzw. 1,0 % zu. Mehr als die Hälfte des gesamten Beschäftigungsaufbaus in Ostdeutschland entfiel auf Berlin. Der Anstieg der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung lag mit etwa 1,8 % erneut deutlich über der Zunahme der Erwerbstätigkeit. Fast der gesamte Aufbau an sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen erfolgte in den Dienstleistungsbereichen.“

„Fluchtmigration“

Das Herumraten darüber, was die Bewältigung der „Fluchtmigration“ an wirtschaftlichen und personellen Effekten hatte, lassen wir mal weg. Das ist noch viel zu wenig mit echten Daten unterlegt, als dass irgendjemand diesen Beschäftigungseffekt wirklich berechnen könnte.

Aber wie stellt sich Ludwig das nun im Jahr 2017 vor? „Im Jahr 2017 wird die Beschäftigung wegen der etwas schwächeren Entwicklung der Produktion nur um 0,4 % zunehmen (Westdeutschland: +0,6 %). Positiv wirkt sich dabei die weitere Zunahme des – an sich schon hohen – Stellenangebots aus. So nahm die Zahl der offenen Stellen im dritten Quartal 2016 gegenüber dem Vorjahr um 9,6 % zu (Westdeutschland: 9,2 %). Insgesamt waren 200.000 Stellen auf dem ersten Arbeitsmarkt frei. Im Verlauf des Jahres 2017 wird die Arbeitslosigkeit wohl nicht mehr so stark sinken wie im Vorjahr, da dann die Zahl der arbeitslos registrierten Personen im Kontext von Fluchtmigration zunehmen dürfte. Insgesamt wird im Jahr 2017 die – auf die Erwerbspersonen bezogene – Arbeitslosenquote 7,8 % betragen.“

Die 200.000 Stellen entstehen nicht irgendwo und auch nur zum kleinen Teil in der Industrie. Das meiste sind Dienstleistungsarbeitsplätze. Und was Ludwig an der Stelle leider weglässt: 90 Prozent davon entstehen in den „Schwarmstädten“ (wenn wir mal das Wort Metropole vermeiden wollen, das bislang so nur auf Berlin zutrifft). Was übrigens bedeutet, dass diese „Schwarmstädte“ weiter wachsen werden, vielleicht auch in ihr Umland hinein. Sowohl das Wirtschafts- als auch das Bevölkerungswachstum konzentrieren sich auf diese Städte. Und während sie wachsen, erzeugen sie neue Bedürfnisse – vor allem im Dienstleistungssektor.

Deswegen werden Themen wie Nahverkehr, bezahlbarer Wohnraum, neue Bildungsstrukturen und Bürgerbeteiligung 2017 noch wichtiger.

Eine belastbare Integrationspolitik übrigens auch. Wer ein wenig nachdenkt darüber, der merkt, wie die deutschen Rechtsaußen gerade das versuchen zu demolieren mit all ihrem fehlenden Sachverstand. Das Jahr 2017 wird leider spannend.

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