Auf den ersten Blick ist man verwirrt: Will der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir jetzt die deutsche Autobranche retten? „Wie wir die Verkehrswende organisieren“, lautete sein Beitrag auf „Zeit Online“ am 30. Juli. Natürlich ging es um das große Autokartell, das jetzt aufflog und die Diesel-und Abgasaffäre, die aber etwas ganz anderes deutlich machte. Etwas, was die deutschen Wähler wirklich besorgt machen sollte.

Es taucht im dritten Absatz auf, wo Özdemir sich an ein ganz ähnlich konstruiertes Debakel der deutschen Politik erinnert: „Die Autobranche und die althergebrachte Verkehrspolitik stehen vor einem großen Scherbenhaufen. Die Situation ist sehr vergleichbar mit 2011, bei der die Energiekonzerne und die klassische Energiepolitik nach Fukushima vor einem Trümmerfeld standen. Damals wie heute war aus der Gemengelage aus Politik und Industrie eine innovationsfeindliche Blase entstanden, die sich auf den traditionellen Technologien ausgeruht hatte, anstatt aggressiv und mit hoher Geschwindigkeit die Marktführerschaft bei den sauberen Zukunftstechnologien zu suchen.“

Natürlich ist das für die Grünen allgegenwärtig. Das sind ihre Kernthemen, mit denen sie auch 1998 schon in den Wahlkampf zogen. Denn damals lagen alle notwendigen Fakten schon auf dem Tisch. Rio de Janeiro lag erst sieben Jahre zurück, wo ziemlich deutlich von der Staatengemeinschaft formuliert wurde, wie eng das Zeitfenster ist, in dem die Menschheit noch umsteuern könnte – und was dafür getan werden könnte.

Die Besitzstandswahrer vernahmen nur ein Signal: „Jetzt werden wir wieder bevormundet und müssen verzichten …“

Sie überhörten aber vollkommen, dass die Hauptbotschaft von Rio tatsächlich lautete: Die Menschheit kann noch handeln. Sie hat die Kraft, das Wissen und die wirtschaftlichen Möglichkeiten dazu. Vielleicht noch nicht alle ganz ausgereift. Das Problem an modernen Technologien ist, dass sie meist erst ausreifen und bezahlbar und praktikabel werden, wenn sie in die Massenanwendung gehen. Alle Narren der Automobilträumerei reden dieser Tage von den genialen deutschen Erfindern Otto und Diesel. Und haben das Wichtigste übersehen: Wirklich zum Massenmobil wurde das Auto erst durch einen Mann namems Henry Ford, der aus dem Luxusfahrzeug, mit dem sich keine Volkswirtschaft hätte mausern können, ein auf Taktstraße produziertes Massenprodukt machte.

Nicht Otto und Diesel haben den Grundstein für die heutige Autoindustrie gelegt, sondern Henry Ford und nach ihm all jene, die die amerikanischen Fertigungsmethoden nach Europa importierten.

Oder mal so formuliert: Hätte man es den Deutschen überlassen, wären Autos heute noch Luxusgüter für die Reichen.

Das Problem dabei ist die enge Verquickung von Politik und Großkonzernen. Das war schon zu Ottos und Diesels Zeiten so. Es sind die großgewordenen und immobilen Konzerne der Vergangenheit, die in den entscheidenden Gremien, Kammern und Bundesämtern sagen, wo es langgeht. Und in der Regel geht es nirgendwo lang, sondern immer geradeaus. Auf den alten, schnurgeraden Straßen. Motto: „Das haben wir schon immer so gemacht.“  Der augenblickliche Erfolg der deutschen Wirtschaft trügt, weil er verschleiert, wie groß der Einfluss der Deutschland AG immer noch und noch viel stärker auf die Bundespolitik ist.

Özdemir hat Recht: Das Autokartell ist nur das aktuellste Beispiel. Statt wirklich offensiv die Entwicklung und Massentauglichkeit von E-Fahrzeugen samt Tanknetz voranzutreiben und dabei praktikable Strukturen zu entwickeln, hat man die Lobbyarbeit lieber dem Staat bzw. den Kommunen überlassen. Man hat lieber die Abgaswerte der hochgezüchteten Dieselfahrzeuge manipuliert, als an der Produktion eines – sagen wir mal so – E-VW zu arbeiten. Einen, der alltagstauglich ist und für die normalen Käufer bezahlbar.

Und die aktuelle Bundesregierung hat es zugelassen. Hat das Spiel sogar mitgespielt. Autominister Alexander Dobrindt steht mittendrin im Schlamassel. Und wenn die deutsche Regierung ein wenig Gefühl für die Notwendigkeiten des Wirtschaftsstandorts Deutschland hätte, wäre der Mann längst gefeuert worden. Denn Özdemir hat Recht: Wer so fahrlässig wie Deutschlands Autokonzerne den Wechsel auf eine neue, zukunftsfähige Technologie ausbremst, der untergräbt die eigene Wettbewerbsfähigkeit.

Dasselbe – auch da hat er Recht – trifft auf die deutsche Energiepolitik zu. Die bis 2011 auf einem guten Weg war. Die Weichen der Energiewende waren gestellt. Doch auch mit den großen Energiekonzernen pflegte die Bundesregierung einen Kuschelkurs, der dazu führte, dass man – statt klare Zielvorgaben zu machen – den Bossen der damals noch gewinnstarken Konzerne freie Hand ließ. Die Konzerne bauten nicht vor, suggerierten ihren Auftragnehmern sogar, sie würden noch weitere Großkraftwerke bauen.

Und man stolpert beim Lesen auch darüber, dass das auf andere Konzerne der Deutschland AG ebenfalls zutrifft. Genauso wurde die Regulierung der Bankenbranche verhindert, das Trockenlegen von Steueroasen und ein Ende der Cum-Cum-Geschäfte, die den deutschen Staat Milliarden an Steuereinnahmen gekostet haben.

Und nicht zu vergessen der Kuschelkurs mit den großen Agro-Konzernen und der Bauernlobby, die ihre Pfründe aus EU-Subventionen und Nicht-Verantwortung für die biologische Vielfalt nicht verlieren wollten.

Es ist ja nicht so, dass niemand über die Folgen dieses alten Wirtschaftens Bescheid wüsste. Aber mit all den Bundesregierungen der letzten Jahre wurde sichtbar, wie schwach Politik wird in der Gestaltung notwendiger Korrekturen, wenn sie sich derart abhängig vom guten Willen (all-)mächtiger Manager macht. Sie traut sich nicht mehr gegenzuhalten, notwendige Leitlinien zu beschließen und die Modernisierung des Wirtschaftsstandorts voranzutreiben. Noch fließen ja Gewinne und Steuereinnahmen, oder?

Es sieht nur so aus. Denn der Blick ins Detail zeigt, wie viel der deutsche Staat nicht mehr bezahlen kann, wie er knausert, spart und von der Hand in den Mund lebt – seien es die kommunalen Infrastrukturen oder der so wichtige Bereich von Forschung und Bildung.

Was übrigens auch wieder mit dem von Özdemir angesprochenen Thema „Verkehr der Zukunft“ zu tun hat. Denn E-Mobilität ist nur ein Teil der Mobilitätszukunft. Anderen Teilen fehlt schlicht das Geld für Zukunftsinvestitionen. Und das betrifft vor allem den ÖPNV. Die Städte ersticken ja am rollenden Mobiliar. Das kann nicht der Weg sein, Deutschland mobil zu halten. Geradezu närrisch ist, wenn pünktlich zum Ferienbeginn in den westdeutschen Ländern von neuen Super-Staus berichtet wird.

Natürlich sind Veränderungen unbequem. Aber Bequemlichkeit ist kein Wettbewerbsfaktor. Und die letzten Bundesregierungen haben eine ganze Reihe wichtiger Chancen vertan, regulierend einzugreifen, um eine behäbig gewordene Deutschland AG zur Innovation zu zwingen. Man hat lieber freundlich zugeschaut und die Sache „dem Markt“ überlassen. Das klingt immer, wenn davon geredet wird, wie Wirtschaftskompetenz. Es ist aber keine. Es ist nur Bequemlichkeit und die Angst davor, sich unbeliebt zu machen. Denn die großen Elefanten verfügen auch über riesige Budgets, mit denen sie jede Politik torpedieren können in konzertierten Aktionen, wenn sie ihnen unbequem erscheint.

Und so bekamen die Deutschen eine freundliche Ich-tu-keinem-was-zuleide-Politik. Die in aller Freundlichkeit einen Wirtschaftsskandal nach dem anderen produziert. So verliert ein Land tatsächlich seine Wettbewerbsfähigkeit. Da ist ein nettes „Wir schaffen das schon“ viel zu wenig.

Die ganze Serie „Nachdenken über …“

In eigener Sache: Abo-Sommerauktion & Spendenaktion „Zahl doch, was Du willst“

Abo-Sommerauktion & Spendenaktion „Zahl doch, was Du willst“

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Die Deutschland AG gibt es schon lange nicht mehr. Die Aktienpakete liegen bei Hedgefonds, großen Vermögensverwaltern, ausländischen Staaten (Kathar z. Bsp.), ausländischen Großbanken, Pensionsfonds.

Viel entscheidender dürften der kurze Berichtszeitraum und die hohe Renditeerwartung sein.

Schreiben Sie einen Kommentar