Es ist wieder so weit: Während die einen schon ihre Urlaubskoffer packen, wälzen andere noch Belege, Pauschalen und Formulare für die jährliche Steuererklärung. Bis zum 31. Juli muss diese für 2024 abgegeben werden. Ein alljährliches Ritual, das Zeit, Nerven und oft auch Geld kostet. Doch was wäre, wenn das bald Geschichte sein könnte? Die Deutsche Steuer-Gewerkschaft, in Person von Florian Köbler, dem Bundesvorsitzenden der DSTG, hat eine klare Vision: Weg mit der Steuererklärung für Arbeitnehmer und Rentner.

Die Absurdität des derzeitigen Systems liegt auf der Hand: Das Finanzamt kennt über die elektronische Lohnsteuerkarte sämtliche Einkommensdaten der Arbeitnehmer. Die meisten abzugsfähigen Ausgaben bleiben unter dem Arbeitnehmer-Pauschbetrag. Trotzdem müssen Millionen Menschen jährlich Formulare ausfüllen. Oft ist das nur erforderlich, um sich zu viel gezahlte Steuern zurückzuholen. Gleichzeitig beschäftigen sich in den Finanzämtern tausende Beamte mit der Prüfung dieser Standardfälle.

Ausgerechnet der Chef der Deutschen Steuer-Gewerkschaft sagt: Das muss aufhören. Florian Köbler ist seit 2022 Bundesvorsitzender der DSTG und damit Interessenvertreter der Beschäftigten in der Finanzverwaltung. Er fordert nichts Geringeres als die Abschaffung der Steuererklärung für Arbeitnehmer und Rentner.

Wir trafen Florian Köbler zum Gespräch über seine Reformpläne für die Zukunft der deutschen Steuerverwaltung und die Frage, ob aus dem Plan eine Win-win-Situation für Bürger und Staat werden kann.

Herr Köbler, schön, dass es so schnell mit einem Gespräch geklappt hat. Zum Anfang die Frage: Geht es Ihnen ausschließlich um die Forderung nach Abschaffung der Steuererklärung für Arbeitnehmer und Rentner?

Es ist mehr als nur eine Forderung, es ist ein Masterplan für die Zukunft. Meine Vision geht weit über die reine Abschaffung von Formularen hinaus. Mit der „Steuerrevolution 2030“ hat die DSTG einen ambitionierten 10-Punkte-Plan vorgelegt, der die deutsche Steuerverwaltung fit für die Zukunft machen soll. Die Entbürokratisierung bei Arbeitnehmern und Rentnern bildet dabei die Punkte 2 und 3 des Reformkatalogs.

Ergänzend dazu hat die Gewerkschaft einen „DSTG-Aktionsplan 2025 entwickelt – ein Konzeptpapier mit fünf konkreten Initiativen für Politik und Finanzverwaltung. Die erste Initiative widmet sich explizit der Abschaffung der Steuererklärung für Millionen von Bürgern durch Automatisierung, mit dem Versprechen hoher Zeitersparnis und dem vollen Genuss aller zustehenden steuerlichen Vorteile.

Gesprächspartner Florian Köbler
Gesprächspartner Florian Köbler. Foto: Thomas Köhler

Was ist eigentlich die DSTG und was hat Sie zu den Forderungen im 10-Punkte-Plan veranlasst?

Die DSTG, die Deutsche Steuer-Gewerkschaft, ist mit rund 75.000 Mitgliedern die Interessenvertretung aller Beschäftigten in der deutschen Finanzverwaltung. Steuergerechtigkeit liegt uns Finanzbeamtinnen und -beamten in der DNA. Das ist der Kern unserer Arbeit, dafür stehen wir jeden Tag auf. Und genau deshalb hat die DSTG den Aktionsplan entwickelt – weil das derzeitige System dieser DNA nicht mehr gerecht wird.

Wir erleben täglich einen fundamentalen Widerspruch: Auf der einen Seite haben wir in Deutschland ein eklatantes Problem mit Finanzkriminalität und Steuerbetrug. Milliardenschwere Umsatzsteuerkarusselle laufen ungehindert, in der Bargeldbranche wird in einigen Betrieben täglich hinterzogen, und wir sind dort personell und technisch nicht optimal ausgestattet. Gleichzeitig beschäftigen sich tausende unserer Kolleginnen und Kollegen mit Bagatellfällen, die kaum steuerliche Auswirkungen haben – Arbeitnehmer, die sich ein paar Euro Werbungskosten zurückholen wollen, oder Rentner mit Standardfällen. Das passt nicht zusammen!

Andere Länder machen es uns seit Jahren vor: In Österreich oder den skandinavischen Ländern ist die Steuer in wenigen Augenblicken erledigt. Auch wir müssen den Ehrlichen, die mitspielen, den bestmöglichen Service bieten. Und gleichzeitig null Toleranz zeigen gegenüber denjenigen, die das System und damit alle Ehrlichen systematisch ausnutzen.

Dazu kommt die demografische Herausforderung: Bis 2030 rechnen wir in der Steuerverwaltung mit rund einem Drittel weniger Personal. Die Babyboomer gehen in den wohlverdienten Ruhestand und der Nachwuchs bleibt aus. Ähnlich dramatisch sieht es übrigens bei den Steuerberatern aus. Das gesamte steuerliche Ökosystem steht vor einem Kollaps.

Unser Credo ist deshalb klar: Wir müssen die vorhandenen Kräfte endlich intelligent und effizient einsetzen – nicht nur zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger, sondern auch der Wirtschaft. Denn nur eine funktionierende Steuerverwaltung garantiert einen handlungsfähigen Staat. Unser Aktionsplan ist unsere Antwort auf diese multiplen Krisen.

Es geht um drastische Vereinfachungen, konsequente Digitalisierung und den Mut zu echten Reformen. Die Zeit des Klein-Kleins ist vorbei – wir brauchen jetzt große Würfe, sonst wird der Staat in wenigen Jahren nicht mehr handlungsfähig sein.

Wie sehen Ihre Pläne konkret aus?
Unser Plan sieht zwei Schritte vor: In einem ersten Schritt, der für das Steuerjahr 2026 realisiert werden könnte, wollen wir die Amtsveranlagung nach österreichischem Vorbild einführen. D.h. das Finanzamt sammelt die direkt verfügbaren Daten (z. B. Beiträge Krankenversicherung) und stellt den Bürgern im Februar des Folgejahres den Entwurf einer Steuerklärung in einem digitalen Bürgerportal mit individuellem Bürgerkonto zur Ansicht zur Verfügung.

Jetzt haben die Bürger einige Wochen Zeit, potenzielle Ergänzungen vorzunehmen. Mitte des Jahres erfolgt dann vom Finanzamt eine automatisierte Festsetzung, die alle Steuervorteile berücksichtigt – und in der Regel eine Steuererstattung.

Das ist jetzt noch nicht der große Schritt, aber man muss bedenken, dass derzeit über 10 Millionen Arbeitnehmer keine Steuererklärung abgeben und auf den Lohnsteuerabzug vertrauen, der oftmals zu hoch ist. Es würden dann alle exakt die Steuer zahlen, die sie gesetzlich schulden. Dieses Vorgehen wäre kurzum sozial gerechter und dadurch schon mal bürgerfreundlicher. In Österreich sind rund 84 % mit der zur Verfügung gestellten Steuererklärung zufrieden und haben keine Änderungen vorgenommen.

Wie würde der zweite Schritt aussehen?

In einem zweiten Schritt würden wir das Jahr 2028 in den Fokus nehmen. Ab diesem Jahr wird die elektronische Rechnung für Unternehmer untereinander verpflichtend. Man könnte diese Pflicht, wie in anderen Ländern auch, auf den B2C-Bereich ausweiten, zumindest für steuerlich relevante Daten. Beispiel: Die Kita-Gebühren haben Relevanz für die Steuererklärung.

Wenn auf der elektronischen Rechnung beim Empfänger die Steuer-ID vermerkt ist, könnte die Rechnung direkt ins jeweilige Bürgerkonto fließen.

Jetzt kommt der zu entwickelnde digitale Lohnsteuerabzug ins Spiel: Dieser soll aus einem digitalen Regelwerk bestehen. Man kann sich das wie einen intelligenten Filter vorstellen: Oben kommen alle Daten rein, wie beispielsweise die Kita-Rechnung, unten kommt dann der 100 % richtige Einkommensteuerabzug raus. Mit der Folge: Es gibt keine Abweichung mehr zwischen der Lohnsteuer, die im Moment sehr pauschal berechnet wird, und der tatsächlich festzusetzenden Einkommensteuer. Die Steuererklärung wäre dann obsolet.

Wenn ich mir die ELSTER-Formulare ansehe, dann gibt es viele Posten, die Arbeitnehmer eintragen können und die oft den Arbeitnehmer-Pauschbetrag übersteigen. Ich denke an Fernpendler, die täglich 100 Kilometer zur Arbeit fahren. Wie wollen Sie solche individuellen Ausgaben in Ihrem digitalisierten System berücksichtigen? Brauchen wir höhere Pauschbeträge?

Genau da liegt einer der Schlüssel für erfolgreiche Digitalisierung: Je mehr wir pauschalisieren können, desto einfacher wird es, das System zu automatisieren. Ich freue mich sehr, dass die Regierungskoalition die Arbeitstage-Pauschale prüfen will.

Zur Erklärung: Das ist eine Idee, die wir als DSTG in der BMF-Expertenkommission „Bürgernahe Einkommensteuer“ entwickelt haben.

Die Arbeitstage-Pauschale würde Entfernungspauschale, Homeoffice-Pauschale und häusliches Arbeitszimmer zusammenfassen. Jeder Arbeitnehmer erhält einen festen Euro-Betrag pro Arbeitstag – völlig unabhängig davon, ob er ins Büro fährt, im Homeoffice arbeitet oder eine Mischform praktiziert. Das Fernpendler-Problem würde elegant gelöst: Für Strecken, die nicht über die Arbeitstage-Pauschale abgedeckt sind, gibt es weiterhin eine feste Cent-Pauschale pro Kilometer, die der Arbeitgeber bei der Lohnsteuer berücksichtigen kann, da er weiß, wie die Arbeit aufgesucht wurde.

Bei Rentnern stellt sich das Problem ganz anders dar. Da gibt es das typische Szenario: Ein Ehepaar geht in Rente, dann verstirbt ein Partner, der Hinterbliebene bekommt Witwenrente und ist mit 80 Jahren plötzlich zum ersten Mal im Leben steuerpflichtig. Wie lösen Sie dieses Drama?

Das ist schlimm! Menschen, die über Jahrzehnte ausschließlich auf den Lohnsteuerabzug vertraut haben, müssen dann erstmals im Seniorenalter eine Steuererklärung abgeben. Die Ursache liegt im System der nachgelagerten Besteuerung: Während des aktiven Berufslebens können Aufwendungen für die Altersvorsorge steuerlich abgesetzt werden – dafür muss dann aber die Rente versteuert werden. Das war das politische Versprechen der Rentenreform 2005.

Das Problem verschärft sich: Aufgrund der Rechtsprechung steigt der steuerpflichtige Ertragsanteil der Rente kontinuierlich an – von 50 Prozent im Jahr 2005 auf 100 Prozent ab 2040. Immer mehr Rentner rutschen dadurch in die Steuerpflicht, auch wenn sie nie damit gerechnet haben. Dazu kommt die demografische Entwicklung: Die Zahl der Rentner steigt massiv. Unsere Lösung ist der Quellensteuerabzug für die Rente – quasi eine Art Lohnsteuer auf Rentenbezüge.

Wir haben dieses Konzept bereits in der Expertenkommission beim Bundesfinanzministerium ausführlich erläutert und konnten damit viele überzeugen.

So würde es funktionieren: Man schaut, wie viel Steuer im Vorjahr tatsächlich angefallen ist, und verteilt diesen Betrag dann gleichmäßig auf die einzelnen monatlichen Rentenzahlungen. Der Betrag wird von den Rentenkassen einbehalten und direkt abgeführt. Die Konsequenz wäre, dass eine Steuererklärung nicht mehr erforderlich wäre. Unser Ziel ist klar: Wer sein Leben lang Steuern gezahlt hat, soll im Ruhestand seine Rente genießen können – ohne Formulare, ohne Stress, ohne böse Überraschungen.

Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es aber auch Ausnahmefälle, bei denen der Wegfall der Steuererklärung nicht greift, etwa bei Menschen mit geringem Nebeneinkommen aus selbständiger Tätigkeit?

Absolut richtig, bei klassischen Gewinneinkünften bleibt die Steuererklärung bestehen. Aber auch hier gibt es Ideen: Für Kleinstunternehmen bis 25.000 Euro Umsatz könnte man pauschalisierte Betriebsausgaben einführen – genau wie in Österreich seit 2020.

Beispiel: Ein Webdesigner mit 15.000 Euro Nebeneinkommen setzt einfach 3.000 Euro pauschal ab – völlig egal, was er tatsächlich ausgegeben hat. Es besteht selbstverständlich die Möglichkeit weiterhin eine Einnahme Überschuss Rechnung (EÜR) einzureichen.

Das entlastet nicht nur Hunderttausende Kleinstunternehmer, sondern auch die Finanzämter – die können sich endlich auf echte Steuerkriminalität konzentrieren, statt auf Bagatellbeträge. Das sollte sich für die Staatskasse deutlich mehr auszahlen.

Sie haben eingangs erwähnt, dass Deutschland ein „eklatantes Problem mit Finanzkriminalität“ hat, während sich tausende Ihrer Kollegen mit Bagatellfällen beschäftigen müssen. Können Sie das konkretisieren? Wie groß ist das Problem tatsächlich, und warum gelingt es Deutschland nicht, die „großen Fische“ zu fangen? 

Wir schätzen, dass dem deutschen Staat jedes Jahr durch Steuerbetrug über 100 Milliarden Euro verloren gehen – das ist Geld, das uns allen fehlt: etwa für Schulen, gute Straßen oder eine starke Gesundheitsversorgung. Besonders häufig geschieht dieser Betrug bei der Umsatzsteuer, durch die bekannten Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte und in Bereichen, in denen viel Bargeld im Umlauf ist. Aber wir dürfen nicht nur auf die Probleme schauen – es gibt auch bemerkenswerte Fortschritte.

So hat Nordrhein-Westfalen kürzlich einen großen Erfolg gemeldet: Die Ermittler konnten einen Steuerbetrug im Influencer-Milieu aufdecken – mit einem geschätzten Steuerschaden von 300 Millionen Euro allein in NRW. Das zeigt, worum es uns im Kern geht: Wir wollen moderne Technik, etwa KI, mit dem geballten Erfahrungswissen unserer Kolleginnen und Kollegen kombinieren und so den Steuerbetrug gezielt bekämpfen.

Unser gemeinsamer Aktionsplan setzt genau darauf – Innovation und Teamarbeit. Das Beispiel aus NRW beweist: Echte Erfolge gibt es dann, wenn kluge Ermittlungsarbeit auf den klaren politischen Willen trifft, wirklich etwas zu ändern.

Herr Köbler, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Anmerkung des Autors: Es gibt selbstverständlich offene Fragen, das Interview diente zur Vorstellung des Konzepts der DSTG. Sind die Finanzbehörden zum genannten Zeitpunkt ausreichend digital aufgestellt? Wie erfolgt der erforderliche Behördenübergreifende Datenaustausch, kann man den ablehnen? Gibt es dafür eine opt-in oder opt-out Lösung?

Wer kann auf die personenbezogenen Daten, die dann in großen Mengen bei den Finanzbehörden vorliegen, zugreifen, besonders wenn mit „VeRA“ eventuell doch die Palantir-Software der Ermittlungsbehörden eingesetzt wird? Wie sieht es aus mit Datenschutz und Datensicherheit?

All diese Fragen werden wir Florian Köbler, mit dem wir in Kontakt bleiben, und anderen Akteuren zu einem späteren Zeitpunkt stellen.

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