Die Zahlen sind frappierend - und sie sollten auch die sächsische Politik wachrütteln: 99.000 Fachkräfte werden dem Freistaat Sachsen im Jahr 2020 fehlen, rund 11.000 davon allein in Leipzig. Das ist diesmal kein Ergebnis einer zufälligen Umfrage unter Unternehmern, sondern ein Rechenergebnis in einem neuen Online-Angebot, das die IHK zu Leipzig zur Verfügung stellt: dem Fachkräftemonitor. Und es sind ernst zu nehmende Zahlen.

Den Prototyp dieser Rechenmaschine hat das in Darmstadt ansässige Wirtschaftsforschungsinstitut Wifor entwickelt. Schon 2007, als zwar in Sachsen gerade eine Sachsen LB ins Schlingern kam, die Lehman-Pleite, die 2008 die weltweite Finanzkrise auslösen sollte, noch Zukunftsmusik war. Damals bereitete Wifor das Projekt für Industrie- und Handelskammern in Baden-Württemberg vor. Das Thema lag auch dort auf dem Tisch, meist locker und leger mit “Fachkräftemangel” umschrieben, auch wenn es immer nur einzelne Branchen waren, die einen Mangel an qualifiziertem Fachpersonal meldeten. Die Schwaben wollten aber doch schon gern wissen, wie es über die gesamte Wirtschaft hin aussah – und wie es in den nächsten Jahren aussehen würde.

Die Vorstellung dabei: eine Art Steuermodul, mit dem man frühzeitig auf drohende Engpässe reagieren könnte. 2008, als die Finanzkrise losrollte, war das Ganze fertig. Datenbasis waren nicht nur alle Zahlen zum Arbeitsmarkt von der Bundesagentur für Arbeit (und das sind eine Menge), des Bundesamtes für Statistik, der Kultusministerkonferenz (hier stecken alle Studierendenzahlen drin), der Rentenversicherung (hier stecken die Abgänge in den Ruhestand drin) und – als wichtige Ergänzung – die Zahlen der IHKs, die regelmäßig ihre Mitgliedsunternehmen befragen und regelmäßige Konjunkturdaten vorlegen.

Das Ergebnis ist ein riesiges Datenvolumen, in dem auch die Ausbildungsberufe (mit allen Qualifikationen) stehen, die Bedarfe der Unternehmen, die Nachfragen der auslernenden Schüler, die Berufsbilder der belegten Studiengänge. Damit kann man schon recht genau abgleichen, was an Beschäftigungssuchenden in den nächsten drei bis fünf Jahren auf den Arbeitsmarkt strömen wird – mit genauen Zahlen für die Branchen, über das Qualifikationsniveau und – was bisher so gar nicht möglich war – einer genauen regionalen Zuordnung. Und gleichzeitig erfasst man, weil man ja auch die Daten der IHKs hat, den aktuellen Bedarf – der wird ja regelmäßig abgefragt und die Konjunkturumfragen der IHKs können sehr genau angeben, welche Art Berufe in welchen Branchen tatsächlich gesucht sind, wo es also tatsächlich einen “Fachkräftemangel” gibt.

Doch als der erste Fachkräftemonitor in Baden-Württemberg an den Start gehen sollte, platzte der Ausbruch der Finanzkrise mitten dazwischen. “Da startete die IHK in Stuttgart aber ganz schnell eine ad-hoc-Umfrage bei den Unternehmen, damit wir die aktuelle Konjunkturentwicklung noch mit ins Programm bekamen”, erinnert sich Dr. Dennis A. Ostwald von Wifor an diesen Start. Ein bisschen mit Stolz. Denn die Ergebnisse, die der Fachkräftemonitor ausspuckte, hätten auch ohne diese schnell noch eingespeisten Konjunkturzahlen recht genau gestimmt. So freilich wurde auch der Effekt der Finanzkrise noch mit eingerechnet. Und in Schwaben war man doch recht verblüfft, wie verlässlich der Monitor die Entwicklung von Angebot und Nachfrage vorhersagte. Oder ausrechnete. Es ist ja keine Kaffeesatzleserei, die da im Hintergrund passiert, sondern erstmals werden tatsächlich online und jederzeit aktualisiert alle Zahlen zum ganz konkreten Arbeitsmarkt zusammengeführt, die sonst immer nur in dicken, tabellengespickten Wälzern veröffentlicht wurden. Da saßen Behörden, Kammern und Ämter auf riesigen Datenmengen – aber nirgendwo floss das alles zusammen. Jeder orakelte drauflos.

Da gab es Arbeitslosenzahlen, die einfach jede Debatte um Fachkräftemangel konterkarierten. Da gab es exzellent qualifizierte Fachkräfte, die sich empört zu Wort meldeten und trotzdem keinen Job fanden. Das Problem ist – so betont es auch Dr. Thomas Hofmann, Hauptgeschäftsführer der IHK zu Leipzig, die Einseitigkeit der Betrachtung. Der Arbeitsmarkt ist wesentlich komplexer, als es in der medialen Berichterstattung meist sichtbar wird. Da können die Arbeitslosenzahlen hoch sein – und die Hochtechnologiebetriebe einer Region können trotzdem melden: Uns fehlen die Anlagenbauer, die Elektroniker, die Oberflächenveredler … Wer sich einmal mit den Ausbildungsangeboten der Region Leipzig beschäftigt hat, weiß, wie exotisch die Bezeichnungen zum Teil werden – und wie anspruchsvoll viele Fachausbildungen. Der Teufel steckt – wie immer – im Detail.

“Das Qualifikationsniveau einer Region beeinflusst deren verfügbares Fachkräftepotenzial. Eine langfristige Fachkräftesicherung kann deshalb nur mittels einer zielgerichteten Aus- und Weiterbildungspraxis gelingen. Diese muss sich nach den Anforderungen des Arbeitsmarktes richten. Um hier den verschiedenen Zielgruppen Orientierung zu geben, wurde das Onlineportal entwickelt”, erklärt Dr. Thomas Hofmann, Hauptgeschäftsführer der IHK zu Leipzig. “Der Fachkräftemonitor ist Informationsbasis für sächsische Unternehmen bei ihrer strategischen Ausbildungsplanung und Personalentwicklung, für Jugendliche bei der Berufswahl, für Bildungseinrichtungen bei ihrer Angebotsplanung sowie für die Politik zur Gestaltung der Rahmenbedingungen. Empfehlungen an diese Akteure können nun mit fundierten Zahlen untermauert werden.”

Wer sich auf die seit Donnerstag freigeschaltete Seite klickt, wird all die Effekte wiederfinden, die einerseits ein großes Gesamtbild ergeben (Fachkräfteangebot und -nachfrage für ganz Sachsen bis 2020), andererseits jetzt sichtbar machen, wie es tatsächlich um einige Branchen und spezielle Berufsbilder bestellt ist. Da kann jeder sich durchklicken, kann die Region auswählen (Sachsen oder Leipzig), kann den Wirtschaftszweig auswählen (vom Baugewerbe bis zu Verkehr, Transport und Lagerei) und dann sogar noch nach einzelnen Berufen filtern.Aber die Gesamtprognose bis 2020 für Sachsen ist schon recht deutlich: Seit 2010 klafft eine Lücke zwischen Nachfrage und Angebot auf. Wobei Angebot all die Menschen sind, die sich mit ihrer Qualifizierung auf dem Markt bewerben, Nachfrage sind im Grunde die nicht besetzten Stellen in den Betrieben. 2010 ist deshalb eine Zäsur, weil in diesem Jahr quasi die ersten geburtenschwachen Jahrgänge in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt eintraten. Seitdem gibt es die berühmte “Arbeitsmarktreserve” eigentlich nicht mehr, auch wenn tausende Menschen trotzdem keine Erwerbsarbeit finden – meist deshalb, weil sie entweder eine zu niedrige oder die falsche Berufsqualifikation haben.

Dr. Thomas Hofmann ist hörbar froh, dass die deutschen IHKs schon vor sieben Jahren auf ihr “Bauchgefühl” gehört haben und gewaltig getrommelt haben für alle Berufe in den berühmten MINT-Fächern, nicht nur für Ingenieurberufe, auch für die so wichtigen Facharbeiterberufe in der Metallbranche. Das Ergebnis ist, dass in Sachsen hier zur Zeit das Verhältnis von Angebot und Nachfrage recht ausgeglichen ist. Was aber nicht heißt, dass es so bleibt – denn die berühmte demografische Entwicklung sorgt dafür, dass die Lücke zwischen Berufseinsteigern und Arbeitskräften, die in den Ruhestand gehen, in den nächsten Jahren immer weiter aufklafft. Was die Tatsache, das im Schnitt immer noch jeder zehnte Schulabgänger in Sachsen keinen Abschluss hat und jeder 20. Erwerbsfähige keinen Berufsabschluss, besonders prekär macht. Woher soll man die Leute nehmen, wenn die, die da sind, nicht die nötige Qualifikation haben?

Dr. Thomas Hofmann betont dabei, dass es ohne qualifizierte Zuwanderung nach Sachsen nicht gehen werde. Und auch nicht ohne verstärkte Bemühungen, die Schulabbrecherquote deutlich zu senken.

Der Fachkräftemonitor sagt natürlich nicht, wie das Problem gelöst werden kann. Aber anders als andere Instrumente erlaubt er einen recht zuverlässigen Blick in die Zukunft. Denn die Zahlen der jungen Leute in Ausbildung kennt man ja, man kennt die Bedarfsanmeldungen der Unternehmen, man weiß, welches Personal der öffentliche Dienst braucht, wer in Rente geht und welches Qualifikationsniveau zur Verfügung steht. Man kann also in jeder Branche, in jedem Beruf auf drei bis fünf Jahre genau ausrechnen, ob Nachfrage und Angebot in Deckung sind oder welche Lücken aufklaffen.

Das ist für die Politik genauso lehrreich wie für die Verwaltung, für die Kammern, die Unternehmen und auch die Berufseinsteiger. Denn nichts ist so sinnlos, wie einen Beruf zu lernen, der auf Jahre hinaus schon überlaufen ist, während in wichtigen Fachberufen die Unternehmer händeringend nach Leuten suchen. Auch für Unternehmer ist der Monitor Gold wert, betont Ostwald: Sie können hier für ihre Branche auf Jahre hinaus sehen, wie das Fachkräfteangebot sich entwickelt. Denn hier steht ja auch der Bedarf ihrer direkten Konkurrenten im Zahlenwerk. Und sie können umsteuern, können frühzeitig damit beginnen, sich den benötigten Nachwuchs zu organisieren – zum Beispiel über die Bereitstellung der Ausbildungsplätze. Oder durch rechtzeitige Umschulungs- und Qualifikationsmaßnahmen.

Der Fachkräftemonitor überzeugte nicht nur in Baden-Württemberg. Mittlerweile haben ihn 48 IHKs übernommen. Bayern macht mit, Hessen, NRW, Berlin, Hamburg und mit Sachsen auch das erste Flächenland im Osten. Mit der kleinen Einschränkung: Bislang ist erst die IHK zu Leipzig dabei. Quasi der Pionier im Osten. Aber das Projekt habe vor allem die Ehrenamtlichen in der IHK überzeugt, sagt Hofmann.Jetzt stecken 2 Gigabyte Daten allein für Sachsen im System. Dabei weist das Maschinchen für den Kammerbezirk Leipzig zwar im Großen und Ganzen noch keine Probleme bis 2018 auf – aber für die Zeit danach klafft die Lücke zwischen Nachfrage und Berufseinsteigern sichtlich auf. Für 2020 beziffert der Fachkräftemonitor die Lücke auf rund 11.000 Personen. Was aber nicht heißt, dass in allen Branchen und Berufen gesucht wird. Bei Verkaufs-, Reinigungs- und Bauberufen (mittlere Qualifikation) gibt es sogar Überhänge. Und zwar bedeutende. Denn wo kann man 1.900 Verkaufsfachkräfte unterbringen, wenn sie nirgendwo gebraucht werden? Oder 1.570 Reinigungsfachkräfte? – Ursache des Überangebots sind natürlich forcierte Ausbildungsbemühungen in der Gegenwart. Es wird deutlich über Bedarf ausgebildet – doch wenn die jungen Leute fertig sind mit der Ausbildung, stehen sie vor einem übersättigten Markt.

Dafür fehlen andere Qualifizierungen, deren Bedarf man heute schon kennt. Allen voran 4.700 Fachkräfte in der Unternehmensführung und -organisation, 1.350 in sozialen Berufsfeldern. Man merkt schnell, dass der Fachkräftemonitor auch für Verwaltungen wichtig ist: Wo werden Berufsschulen erhalten (oder gar eröffnet), die diese Berufsfelder ausbilden? Wie wird in den Schulen über Berufe informiert und wie werden die Schüler über ihre Berufszukunft in der Region aufgeklärt? Hofmann betont zu recht, dass die Berufsorientierung in Sachsens Schulen deutlich verbessert werden muss und dass der Fachkräftemonitor auch für Lehrer und Schüler eine wichtige Orientierung ist.

Da macht es wenig Sinn, weitere 10.000 Einzelhandelskaufleute auszubilden, wenn das Angebot heute schon die Nachfrage um 5.000 übersteigt.

Einen Seitenhieb auf den anhaltenden Trend zur Akademisierung kann sich Dr. Thomas Hofmann nicht verkneifen. Nur 10 Prozent der Nachfragelücke im Jahr 2020 würden Akademiker sein, betont er. Die richtigen Löcher klaffen aber bei den qualifizierten Fachberufen auf. Wobei natürlich unübersehbar ist, dass sich alle Arbeitgeber um ein zu kurzes Handtuch prügeln. Wenn es zu wenig Nachwuchs gibt, betrifft das alle. Sachsen kann sich schon längst nicht mehr leisten, 10 Prozent jedes Jahrgangs einfach durchs Raster fallen zu lasen. Dass die Kinder zu 50 Prozent aufs Gymnasium streben, hat ja auch damit zu tun, dass die “Oberschule” in Sachsen schlicht nicht die Ausstattung hat, um wirklich zu einer maßgeblichen Regelschule zu werden, in der nach der Klasse 4 oder 6 nicht die Frage steht “Gymnasium ja oder nein?” sondern: “Welcher Ausbildungsweg bringt mich am besten dahin, wo ich gern sein möchte? Wo eröffnen sich die meisten Chancen?”

Der Fachkräftemonitor ist freigeschaltet. Bis 2020 reichen die Prognosen. “Wir hätten’s gern auch noch viel weiter gehabt”, sagt Hofmann. Aber das wäre dann keine belastbare Rechnung mehr, auch wenn sich für Sachsen und die Region Leipzig zumindest andeutet, dass sich die Fachkräftesituation ab 2020 noch verschärfen wird. Der Fachkräftemonitor bietet jetzt zumindest die Chance, in wichtigen Bereichen gegenzusteuern. Und jedes Jahr nachzujustieren, denn alle neuen Zahlen, alle neuen Konjunkturumfragen fließen gleich wieder ins System.

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