Seit Jahr und Tag überträgt die Leipziger Internet Zeitung per Livestream aus den Sitzungen der Leipziger Ratsversammlung. Dafür gab's eine kleine Vergütung der Stadt, um den Aufwand finanziell abzusichern. Eine Sendung, die die Leipziger in Scharen vor die Computerbildschirme zieht, ist das natürlich nicht. Auch weil etliche Stadträte lieber über Persönlichkeitsrechte debattieren als über Transparenz.

Oder über die Möglichkeiten, Stadtratsarbeit tatsächlich einmal transparenter und öffentlicher zu machen. Das überlassen sie dann lieber den Journalisten, die sich ein bis zwei Mal im Monat in ihre Mammutsitzungen begeben und über das berichten, was da beschlossen, vertagt, vergeigt oder nicht gewusst wird. Wenn nicht zwei, drei Medien in Leipzig jedes Mal diesen Aufwand treiben würden, würden die Leipziger so gut wie nichts mitbekommen von dem, was ihre gewählten Stadträtinnen und Stadträte tun und beschließen.

Erst recht nicht, wer da nun wie diskutiert, welche Fraktionen hinter welchen Beschlüssen stehen, welche dagegen sind, wie die Ratsfraktionen immer wieder einknicken, wenn es um Geld geht oder die Anträge anderer Fraktionen dem erklärten Willen von Verwaltung und OBM konträr laufen.

Erst die Berichterstattung macht transparent, dass Politik ein Ringen ist und wie gut oder schlecht sich gewählte Abgeordnete behaupten. Der Livestream ist ein Teil dieser Berichterstattung. Aber er ist mit dem 2014 neu gewählten Stadtrat wieder in die Diskussion geraten, weil nun neu gewählte Stadträtinnen und Stadträte das Gefühl haben, sie müssten nun ausgerechnet im Stadtrat das Thema Persönlichkeitsrecht ausdiskutieren und auch gleichzeitig noch klären, wer den Livestream überhaupt sehen soll.

Der jüngste Vorstoß stammt von der SPD-Stadträtin Nicole Wohlfahrt, die nun mit einer echten Schnapsidee die Welt bezaubert: Am besten sollen nur noch die Mitarbeiter der Stadtverwaltung den Livestream sehen. Quasi: Politik wird in Leipzig nur noch fürs Rathaus gemacht.

Die Bürger interessiert der Quatsch sowieso nicht.

Ihr Antrag für die Ratsversammlung lautet so: “1. Die Ratsversammlung beschließt die Beendigung der Projektphase für den Live-Stream und verzichtet auf eine Neuvergabe als Dienstleistung. 2. Die Übertragung der Ratsversammlung im zukünftigen Intranet der Stadtverwaltung Leipzig wird geprüft.” Intranet heißt: Der Stream kann dann nur noch auf den Computern der Leipziger Stadtverwaltung abgerufen werden – die Leipziger Bürger sind dann raus, egal, ob sie die Reden von Nicole Wohlfahrt und den anderen Stadtratsangehörigen interessieren oder nicht.

Sie begründet ihren Vorstoß so: “Dabei ist dauerhaft zu beobachten, dass die Zuschauerzahlen je Sekunde im mittleren zweistelligen Bereich liegen. Von den ca. 30-60 Personen Zuschauern je Sekunde ist ein nicht unerheblicher Teil Mitarbeiter bzw. Mitarbeiterin der Stadtverwaltung und informiert sich so über die Notwendigkeit seiner Anwesenheit zu bestimmtem Vorlagen oder die Entscheidungen der Ratsversammlung.”

Da hat sie das Ergebnis der Evaluation des jetzigen Livestreams schon sehr eigensinnig interpretiert. Denn da steht zu diesem Thema zu lesen: “Nach Auswertung der bisherigen Testphase ist festzustellen, dass das gesetzte Ziel trotz der Bewerbung auf leipzig.de und der Einbindung u. a. auch auf l-iz.de, dem Portal der Leipziger Internetzeitung, aufgrund der geringen Resonanz von Seiten der Bevölkerung nicht erreicht wurde. Durchschnittlich gibt es pro Ratsversammlung nur zwischen 40 und 80 parallele Zuschauer/innen. Es ist dabei zum Teil von einem thematisch stark involviertem Publikum wie z. B. Journalisten und zum Teil städtischen Angestellten auszugehen. Mit rund 210 parallelen Usern wurde im Frühjahr 2014 die größte Reichweite bei der Ratsbefassung zum Erhalt des Clubs Distillery erreicht. Auch aufgrund der Erfahrungen anderer Kommunen ist nicht damit zu rechnen, dass sich dies bei einer reinen Liveübertragung der Sitzungen ändert und dass die Zuschauerzahlen signifikant steigen werden.”

Die Behauptung, der Stream würde hauptsächlich von städtischen Mitarbeitern gesehen, ist also schlichtweg falsch. Tatsächlich schalten sich interessierte Leipziger natürlich nicht dauerhaft in die Marathonsitzungen des Leipziger Stadtrates ein, sondern gezielt zu den Themen, die sie selbst brennend interesssieren. Das Thema Distillery ist dafür ein typisches Beispiel.

Und Kollegen der Journalistenzunft freuen sich, weil sie sich durch den Livestream den Weg ins Rathaus sparen können und gleich am Redaktionstisch mitschreiben, was so Wichtiges oder Unwichtiges gesagt wurde.

Nicole Wohlfarth (SPD) ist der Meinung, dass mit dem Livestream ein erheblicher Einschnitt in die Persönlichkeitsrechte gegeben ist. Foto: L-IZ.de
Nicole Wohlfarth (SPD) ist der Meinung, dass mit dem Livestream ein erheblicher Einschnitt in die Persönlichkeitsrechte gegeben ist. Foto: L-IZ.de

Aber darum geht es nicht. Auch nicht in der Evaluation. Denn tatsächlich geht es um die Frage, wie man das durchaus sperrige, stellenweise langatmige, komplizierte und langweilige Material so für die Öffentlichkeit aufbereiten kann, dass der Mitschnitt der Reden überhaupt in einen Zusammenhang kommt und das für die Bürger Wichtige auch aufs Wesentliche komprimiert wird.

Im Umfeld der Ratsberichterstattung zeigt ja die L-IZ jedes Mal, wie das gehen könnte. Da wird nicht nur kurz gemeldet, was der Stadtrat nun beschlossen hat, sondern auch, welche Grundpositionen die Fraktionen eingenommen haben, wie sich die Verwaltung äußert und was in den Unterlagen steht, die in der Regel gleich mit verlinkt werden. Die besten Stellen aus den Reden und die wichtigsten Argumente werden zitiert – und dazu kommen in der Regel noch Bilder vom Rednerpult mit den am kompetentesten agierenden Stadträten.

Punkt. Aus. Komma.

Denn die bisherige Regelung macht es unmöglich, das aufgezeichnete Redematerial in irgendeiner Weise journalistisch zu verwerten. Unter anderem weil sich – man lese den Antrag von Nicole Wohlfahrt – einige der gewählten Stadträtinnen und Stadträte für nicht so wichtig für die Öffentlichkeit halten wie andere Parlamentsangehörige.

Original Nicole Wohlfahrt: “Für ehrenamtliche Stadträte, die zwar Personen öffentlichen Interesses, aber nicht mit dem gleichen Status von Europaparlaments-, Bundes- und Landtagsabgeordneten versehen sind, ist damit ein erheblicher Einschnitt in die Persönlichkeitsrechte gegeben.”

Das bezieht sich dann auf das, was mit der Neuvergabe des Streams jetzt eigentlich passieren soll: Mehr Präsenz für die Stadtratsthemen. Denn richtig erkannt hat die SPD-Stadträtin: “Die Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen der Stadt Leipzig ist durch passives Konsumieren von Abstimmungen und Debatten ebenfalls nur mangelhaft.”

Doch sind die Bürger dran schuld, die für gewöhnlich noch arbeiten, Kinder versorgen, Einkaufen und andere Dinge erledigen müssen, bevor sie sich so gegen 20, 21 Uhr endlich vor ihren Heimcomputer setzen können? Denn das ist die Zeit, in der die Aufmerksamkeitswelle durchs Internet schwappt. Man kann die Bürger nicht dazu zwingen, die Dinge zu “konsumieren”, wenn sie passieren. Schon gar nicht unverarbeitet.

Weshalb in der Vorlage der Stadt geschrieben steht: “Da der Zeitpunkt der Sitzung des Stadtrats wochentags ab 14 Uhr in der Kernarbeitszeit der meisten Leipzigerinnen und Leipziger liegt, ist aus Sicht des Referats Kommunikation zur Reichweitensteigerung erforderlich, dass neben dem reinen Live-Stream für einen begrenzten Zeitraum bis zur nächsten Ratsversammlung die Aufzeichnung des Streams auch als „Video on demand“ auf den Seiten von leipzig.de und weiteren Seiten wie z.B. l-iz.de zur Verfügung steht.”

So hätten die Bürger die Möglichkeit, sich dann zu informieren, wenn sie Zeit haben. Hinzu käme die Möglichkeit für Medien, Ausschnitte und Reden einzeln zur Verfügung zu stellen – bis zum Ende der jeweiligen Wahlperiode des Stadtrates.

Denn die schlichte Wahrheit ist: Wer unvorbereitet in eine Leipziger Ratsversammlung kommt, versteht in der Regel auch nur Bahnhof. Man muss sich vorbereiten, die Unterlagen lesen, die Positionen kennen, die Kosten und den Umfang des beschlossenen Projekts. Man muss auch das verwendete Amtsdeutsch übersetzen in normales Leipziger Deutsch. Und dann kann man das Gesehene und Geschehene aufbereiten.

Aber genau das will Nicole Wohlfahrt nicht. Sie will nicht, dass Medien mit dem gefilmten Material aus dem Stadtrat arbeiten. Sie will nicht, dass die Stadtratsreden mit Pro und Kontra bei den erklärenden Artikeln auftauchen, gar kommentiert werden von Journalisten, denen sie vor allem eines zutraut: Verletzung von Persönlichkeitsrechten und Missbrauch des Materials.

Damit ist also wieder eine Runde eröffnet, in der gewählte Abgeordnete, die sich bei ihrer Arbeit nicht zuschauen lassen wollen, alles dafür tun, dass die Medien draußen bleiben. Natürlich hat das mit Transparenz nichts zu tun. Und da wundern sich Stadträtinnen wie Nicole Wohlfahrt, dass sich die Bürger für ihre Arbeit im Stadtrat nicht interessieren.

Da dürften sich denn auch die Leipziger selbst ziemlich veräppelt fühlen, wenn Nicole Wohlfahrt auch noch von einem “Gebot sinnvoller Verwendung der städtischen Haushaltsmittel” redet und die Bürger beim Stream ganz aussperren will.

Die Evaluation des Live-Streams.

Der Antrag von Nicole Wohlfahrt zur Abschaffung des Live-Streams.

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Es gibt 4 Kommentare

Ich finde, durch die Liveübertragung kann man sich als Bürger viel umfassender über die Positionen der einzelnen Stadträte und Fraktionen informieren, als in einem Bericht in der Zeitung. Ich dachte, dies wäre auch so gewünscht?

Wenn es ihre Meinung ist, so lebe sie fröhlich damit weiter.
Wenn sie jedoch glaubt, es wären Persönlichkeitsrechte gefärdet, irrt Frau Nicole Wohlfarth gewalig.
Sie möge inne halten und sich vor einer Handlung braten lassen.
Der Fraktion der SPD hat sie keinen Gefallen getan.

Also, dass “die Bürger” desinteressiert seien, stimmt definitiv nicht. Mag sein, dass bei der Kammmolchweg-Debatte mal grad kein Schwein geschaut hatte, aber bei anderen Themen wird in lokalen Netzwerken sich zugeflüstert, wann der jeweilige TOP drankommt.

Persönlichkeitsrechte? Bitte, wofür wähle ich die Stadträte sogar direkt? Rennen zum Wahlkampf mit offenem Visier herum und drücken mir Luftballons in die Hand, aber wenn es an die politische Arbeit geht, heißt es “Persönlichkeitsrecht” und gleich noch hinterher “Datenschutz”.

Wer sich in die Öffentlichkeit begibt, steht in der Öffentlichkeit. Da gibt es keine Abstufungen.

Macht sich also nach den Leipziger Grünen die örtliche SPD zum Ei und zum Obst und zum Gespött?

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