Eine seltsame Entwicklung: In der Welt schwelt und kracht es, täglich schwirren uns neue Meldungen von Katastrophen, Terror und eventbetonter Zwischenfälle in Bautzen um die Ohren und was macht der Mitmensch? Er hält zunehmend alles für UNFASSBAR. Politiker sind „unfassbar erschüttert“ über den Zustand der sächsischen Bevölkerung, die WELT hingegen findet schon lange, dass es Deutschland „unfassbar gut“ im Vergleich zu 1974 gehe und dass griechische Richter „unfassbar langsam“ seien. „Unfassbar“ – der DUDEN erklärt das Adjektiv, das vor allem gerne als Verstärker für andere Adjektive verwendet wird, mit „so, dass man es nicht begreifen kann“.

Wenn das so ist, können wir offensichtlich immer weniger begreifen, je mehr geschieht – trotz immer besserer PISA-Ergebnisse. Unfassbar füreinander bleiben doch eigentlich nur Liebende, wenn sie am Flughafen oder im Zug mittels Glasscheiben voneinander getrennt wurden. Das ist traurig, begreiflich, aber konkret. Vielleicht handelt es sich mit dem „Unfassbaren“ aber auch nur wieder um eine spätadoleszente Sprachgrille, die im nächsten Jahr durch eine andere weggezirpt sein wird.

Trotzdem kann man doch ruhig auch einmal zugeben, dass man etwas nicht begreift:

Ich begreife nämlich nicht, dass Sachsen immer Sieger sein will. In Sachen Abschiebungen zum Beispiel. Da macht es sich wirklich eines unverzeihlichen Strebertums strafbar. So hat man laut LVZ bereits im ersten Quartal dieses Jahres  ganze 140 Menschen mehr als im gesamten Jahr 2014 ausgeschafft – insgesamt 1.177 Flüchtlinge. „Bis Jahresende werden wir die Zahl der Menschen ohne Bleiberecht in Sachsen deutlich reduzieren“, machte Innenminister Markus Ulbig (CDU) der hiesigen Bevölkerung Mut und den anderen Feuer unterm Popo: Es sei von vornherein empfehlenswert, das Land freiwillig zu verlassen.

Solch auf rechts gedrehte Tüchtigkeit macht nachdenklich. Besonders jetzt, da der September gestern dann doch zu kippen wusste. Umzufallen und damit sein wahres Gesicht zu zeigen – das eines gemeinen Cheaters. Eben noch sonnt sich die Seele unterm golden glänzenden Gestrüpp und baumelt mit den Beinen von der Hollywoodschaukel spätsommerlichen Lebens, schon sind heute schon wieder jene zu preisen, die ein wärmendes Wams ihr eigen nennen können. Oder eine behagliche Behausung. Wir wissen doch: „Wer jetzt kein Haus hat,  …“

Rilke greift in der Realität aber nicht immer. Manchmal heißt es einfach lapidar: Abends Aronal, morgens Frontex.

Denn wenn etwas bei uns funktioniert, dann ist das – neben dem Erstliga-Fußball – der Shuttle-Service zum Flughafen. Fleißig wird um vier Uhr morgens unangekündigt bei Familien geklingelt, die dann schnellstens mit ihren paar Taschen in den Bus verfrachtet werden. „Wir holen jeden ab, wo er steht“ heißt eine beliebte Abgedroschenheit der letzten Jahre, jetzt gehen wir sogar noch weiter: Wir holen jeden ab, wo er stört. In Sachsen ganz besonders gerne und beherzt.

Auch die Fluggesellschaften klatschen in die Hände: Sie können sich um die von Frontex bezuschussten Flüge für die Sammelabschiebungen bewerben. Dabei kommt gar nicht so wenig Kohle rüber. Keine Not, von der nicht wenigstens einer profitierte.

Aber im Ernst, es beschleicht einen doch ein beschissenes Gefühl beim Gedanken: Vier Uhr früh holen Menschen andere Menschen aus ihrer Wohnung raus. Kein Klingelscherz, kein besoffener Nachbar, der sich in der Wohnung geirrt hat. Da stehen Uniformen mit einschneidender Weisungsbefugnis.

„Es muss doch aber sein“, werden jetzt wieder viele sagen, es gehe doch nicht um Leben und Tod, aber woher nehmen wir unsere Sicherheit darüber? Wir holen Menschen ab und nehmen in Kauf, sie gegebenenfalls ihrer Lebensperspektive zu berauben, damit sie nicht die schlimmste aller Todsünden begehen: Uns mit ihrer Armut zu infizieren.

Ist es dabei eigentlich für uns tröstlicher oder für die Abgeschobenen, dass man ihnen Seelsorger mitgibt ins Flugzeug, statt Handgepäck? Ich frage.

Feststeht: Es werden Menschen von Menschen abgeholt. In Deutschland. 2016. Ohne dass sie besonders ineinander verliebt zu sein scheinen oder ein Verbrechen begangen worden wäre. In den allermeisten Fällen zumindest.

Unfassbar?

Nein. Wer jetzt kein Herz hat, kann sich doch eines fassen.

Begreiflich wäre das allemal.

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