Dass Mark Zuckerberg nicht begriffen hat, was er da mit seinem Facebook eigentlich entfesselt hat, das war ja schon mehrfach Thema an dieser Stelle. Sein Problem ist nicht die Ökonomie. Sein Problem ist die nur halb verstandene Psychologie. Denn was ihn Milliarden scheffeln lässt, ist auch der Grund dafür, dass sich der Mob austobt und unsere Gesellschaften sich immer mehr mit Aggression aufheizen. Nicht nur „Facebook“ funktioniert auf diese Weise falsch.

Ein Problem, auf das Annika Brockschmidt in ihrem „Zeit“-Artikel „Machen Gruppen dumm?“ eher kurz eingeht. Dort wird Twitter als Beispiel genannt.

„Das Worst-Case-Szenario von heutiger Kommunikation ist Twitter“, zitiert sie Daniel Richardson, Experimentalpsychologe am University College London. Denn, so stellt sie fest: „Auf 140 Zeichen muss ich plakativ und oberflächlich argumentieren. Vor allem aber entscheidet bei Twitter die Zahl der Follower über Macht und Einfluss. Wer die meisten Follower hat, gibt den Ton an. In dessen Gunst wollen alle stehen. Darum buhlen alle um seine Aufmerksamkeit.“

Die menschliche Gruppendynamik kommt voll zur Geltung. Das funktioniert übrigens immer und überall. Weshalb auch unsere Gesellschaft so ist, wie sie ist: von Gruppendynamiken getrieben. Nicht nur wenn es um Demonstrationen oder Randalen geht. Sie laufen immer und überall ab. Und praktisch alle Menschen sind bemüht, sich als Teil einer anerkannten Gruppe zu fühlen.

Brockschmidt: „Gruppen hindern uns also unter Umständen daran, für eigene Ideen einzustehen. Wenn wir einer Gruppenmeinung widersprechen, wird nämlich der Teil unseres Gehirns aktiv, der für die Angst vor Zurückweisung zuständig ist: die Amygdala, das ergab eine Studie des Neurologen Gregory Berns. Akzeptierter Teil einer Gruppe zu sein ist ein gutes Gefühl.“

Akzeptierter Teil einer scheinbar allein ordnungsgemäßen bürgerlichen Mitte zu sein, ist ebenso ein gutes Gefühl. Man singt im Chor, ordnet sich ein, sagt, was die großen Tiere sagen. Denn zur Gruppendynamik gehört, dass Gruppen ganz und gar nicht mehr selber denken. Im Gegenteil: Es setzen sich dominierende Meinungen durch, vertreten in der Regel durch die persönlichen Schwergewichte in der Gruppe. Alle ordnen sich ihnen unter und bestätigen die Meinung dieser Schwergewichte. Was lauter gute Gefühle des Dazugehörens auslöst.

Die Angst fängt erst an, wenn man aneckt und die Gefahr besteht, dass man von der Gruppe ausgeschlossen werden könnte. Was dann in der Regel dazu führt, dass die Protagonisten noch willfähriger und radikaler bestätigen, was zum Mainstream in dieser Gruppe gehört.

Nur sind die Denk- und Arbeitsergebnisse denkbar bescheiden, wie die Forscher feststellten. Denn etwas Wesentliches geht verloren: Die Kompetenz des Einzelnen. Statt dass jeder für sich seinen ganz eigenen Beitrag zur Problemlösung findet, entsteht ein Anpassungsdruck, in dem sich die Mehrheit genötigt fühlt, sich der herrschenden Meinung anzudienen. Oder der am lautesten vorgetragenen.

Es gibt keine konkurrierenden Lösungsvorschläge mehr. Die Gruppe beginnt eine Dynamik der Homogenisierung zu entfalten. Was in den sogenannten „sozialen Medien“ gut zu beobachten ist. Das Meiste, was dort passiert, ist vor allem verbalisierter Bestätigungsdruck. Wer zur Gruppe gehören will, verstärkt deren Kernaussagen. Wer widerspricht oder gar Zweifel anmeldet, wird fast sofort zum Außenseiter und erntet einen Shitstorm.

Wie gesagt: Das ist nicht neu. Und es ist auch im realen Leben nicht so, dass das immer ausgelevelt wird. Im Gegenteil. Prozesse des Gruppendrucks und der gruppenbasierten Aggression gehören zu unserer Geschichte. Auch zur politischen. Wer „Wir“-Positionen definiert und Andersdenkende ausgrenzt, sorgt genau dafür, dass solche Dynamiken in Gang kommen. Und sie sind leicht zu erzeugen, wenn man nur die nötigen Kommunikationskanäle in der Hand hat – wie bei jedem einzelnen Krieg der letzten 200 Jahren nachweisbar ist. Friedliche Nachbarn verwandeln sich binnen weniger Wochen in „Erzfeinde“ – und die friedlichsten Bürger sind der festen Überzeugung, dass man nur noch mit Gewalt Lösungen erzielen kann. Was auch bedeutet: Solche Gruppendynamiken können in kürzester Zeit selbst ein zivilisiertes Volk in eine zum Nachdenken nicht mehr fähige, formbare Menge verwandeln.

Und jedes Mal sind elementarste Emotionen daran beteiligt.

„Der Zusammenhalt in der eigenen Gruppe wird also durch synchrone Handlungen gestärkt, gleichzeitig steigt aber die Gewaltbereitschaft gegenüber anderen“, schreibt Brockschmidt. Na hoppla: Passiert das nicht gerade wieder? Vor unser aller Augen? Es ist schon erstaunlich, wie viele einstmals seriöse Medien bereit sind, alle Vorsicht fahren zu lassen und diese Stimmung anheizen.

Die zu einem auf keinen Fall geeignet ist: zu einer gemeinsamen Lösungssuche. Denn wenn man die eigene Gruppe als einzig Gültige definiert, sorgt man auch dafür, dass es gar keine gemeinsame Lösungssuche mehr gibt. Die anderen haben sich ja irgendwie disqualifiziert. Allein schon dadurch, dass sie sich nicht der eigenen Gruppe angeschlossen haben und das gemeinsame Mannschaftslied singen.

Dass Gruppendynamiken nicht nur einschüchtern und selbst Nachbarn vorsichtig machen, was sie den Nächsten nun noch sagen und wessen Lied sie da pfeifen, sondern bei ordentlich Zunder auch ordentlich Bockmist ergeben, zeigt beispielhaft der Brexit.

Das „gemeinsame Drauflosdenken“ führt augenscheinlich dazu, dass die Meisten dann lieber aufhören zu denken und sich dem Mainstream unterordnen. „Wenn in einer Gruppe versucht wird, ein Problem zu lösen, kann das sogar gefährlich werden“, schreibt Brockschmidt.

Was übrigens in Parteien dazu führt, dass eigensinnige Akteure und Querdenker sich ganz schnell kaltgestellt sehen. Sie kommen dem vorherrschenden Gruppendenken dubios und gefährlich vor. Was übrigens in dem knallbescheuerten Wort „Schulterschluss“ steckt. Damit werden Parteien dem Angleichungsdruck unterstellt. Die Deutungsmacht wandert ab. Nach oben, zu denen, die dann irgendwann ganz allein angeben, wohin der Marsch geht.

Oder so als kleine Zwischenerkenntnis: Parteien neigen zur Ausschaltung kreativen Denkens und zur Bevorzugung von Angepassten und Stromlinienförmigen. Der Opportunismus wird zur Hauptqualifikation für Spitzenämter.

Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten den Start mehrerer mutiger Parteien gesehen, die behauptet haben, es anders machen zu wollen. Aber das richtige Rezept, die Dynamiken des Gruppenzwangs zu mindern oder gar auszuschalten, hat noch niemand gefunden.

„Unsere sozialen Strukturen hemmen uns – wir wollen nicht anecken und stimmen deshalb eher der Gruppenmeinung zu, als dass wir unsere eigene, vielleicht singuläre Meinung vertreten“, schreibt Brockschmidt. Und zitiert dann wieder Daniel Richardson: „Weil das jeder denkt, entsteht ein sich selbst verstärkender Effekt und hat eine extreme Polarisierung bei gemeinsam getroffenen Entscheidungen zur Folge.“

Eben nicht nur in den „social media“, obwohl da der Effekt fast ohne Hemmnisse und Hemmungen am besten zu beobachten ist. Verbal eskaliert dort jede Menge und die von Facebook bezahlten Aufräum-Truppen beschäftigen sich nur mit den Folgen, nicht mit den Ursachen, den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Grundhaltungen, die sich dort, wo sie durch keine Korrektur gebremst werden, zunehmend radikalisieren. Und dann natürlich pures Unverständnis zeigen, wenn einer kommt und sagt: Das ist aber Blödsinn, was ihr hier treibt.

Im Gegenteil: Derjenige riskiert die ganze Aggression der Gruppe.

Wenn Medien anfangen, um Reichweite zu buhlen, werden sie übrigens selbst Teil dieser Dynamik. Sie verlieren ihre emotionale und kritische Distanz. Und damit fallen sie als Ort der gesellschaftlichen Kommunikation und Lösungssuche quasi aus.

Sie sehen, der Artikel rutscht schon beinah in die Serie „Medienmachen in Fakenews-Zeiten“. Denn die Geschichte verweist auf einen Aspekt, der den neuen Medien-Machern à la Mark Zuckerberg überhaupt nicht bewusst zu sein scheint und den alten immer mehr abhanden kommt: Dass das „Sich nicht gemein machen“ vor allem heißt, dass man sich als Medium solchen Gruppenzwängen nicht unterwerfen sollte, wenn man überhaupt noch einigermaßen distanziert und aus kritischer Distanz berichten möchte.

Sie sehen: Jede Menge Stoff zum Weiterdenken.

Die Serie „Nachdenken über …“

Die Serie „Medien-Machen in Fakenews-Zeiten“.

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