Grünau ist der wohl am besten erforschte Stadtteil von Leipzig. Schon die Erbauer in der DDR-Zeit hatten so ihre Bauchschmerzen, wie diese erste große Satellitensiedlung der Stadt Leipzig von ihren neuen Bewohnern angenommen werden würde. Dass die sich über Warmwasser und dichte Dächer und Zentralheizung freuen würden, war zu erwarten. Aber dann? Seit 1979 werden die Grünauer also systematisch befragt.

Immer wieder finden sich dann Einzelauswertungen zum Stand der Dinge auch in einem aktuellen Quartalsbericht der Stadt. Den ersten Teil des „Geburtstagsberichts“ zu  40 Jahre Grünau gab es schon im ersten 2016er Quartalsbericht. Auch der war von der seit Jahren herangewachsenen Skepsis getragen. Die Grünauer selbst haben so ihre Probleme mit der Außenwahrnehmung, seit einige Zeitungen sich seit den 1990er Jahren alle Mühe gaben, Grünau ganz ähnlich zum sozialen Katastrophengebiet hochzustilisieren wie die Gegend um die Eisenbahnstraße. Und ein schlechtes Image strahlt natürlich aus, verhindert Zuzug und damit wieder eine bessere soziale Mischung.

Denn gerade in der Wegzugphase Ende der 1990er Jahre drohte dem einst für über 100.000 Bewohner geplanten Neubaugebiet eine soziale Schieflage. Zehntausende jüngere Grünauer hatten ihre neu erworbenen Westautos bepackt und waren zur Arbeit in den Westen abgewandert. Zurück blieben vor allem die Älteren. Aber mit den jungen Familien waren auch die Kinder und Jugendlichen verschwunden – Schulen und Kitas wurden geschlossen. Die Mieten waren niedrig. Das war dann wieder der Grund für sozial eher schwache Familien, in Grünau eine Zukunft zu suchen.

Und jahrelang wusste auch die Stadtverwaltung nicht, was sie mit der Siedlung anfangen sollte. Bis 2005 ungefähr dominierte die Sicht, dass man lieber einen Großwohnblock nach dem anderen abreißen sollte, um den Ortsteil wieder zu stabilisieren und die gewonnenen Freiräume mit Grün und Spielplätzen zu versehen. Die Abrisse gingen bis in die 2010er Jahre weiter. Vor allem die Punkthochhäuser wurden geopfert. Da galt noch immer der Konsolidierungsplan, Grünau von den Rändern her zurückzubauen. Die Wohnungsgesellschaften liefen Sturm, denn sie hatten überall ihre Wohnbestände.

Und sie merkten als erste, dass der seit Jahren anhaltende Bevölkerungsverlust sich abbremste. Die älteren Grünauer lebten sowieso gern da in Wohnungen, die nach und nach auch energetisch saniert wurden. Man lebte preiswert und trotzdem mit viel Grün drumherum. Seit zwei, drei Jahren ist auch die Talsohle durchschritten. Von 85.000 Einwohnern im Jahr 1987 ist Grünau im Lauf der Jahre auf 42.000 zusammengeschmolzen. Aber mit dem starken Bevölkerungswachstum der Stadt Leipzig erlebt auch Grünau wieder Zuzug. Und zwar nicht nur in die neu gebauten Eigenheime in Schönau oder Lausen, die besonders bei Besserverdienenden beliebt sind. Auch die großen Wohnblöcke sind wieder nachgefragt, auch und gerade bei jungen Familien, die sich anderswo in Leipzig Wohnraum nicht mehr leisten können.

Was nicht unbedingt heißen muss, dass Grünau in eine neue Schieflage rutscht. Auch wenn es von manchem (Alt-)Grünauer so empfunden wird. Die Hälfte der für die neueste Befragungswelle Interviewten attestiert Grünau zwar eine sichtbar positive Entwicklung. Doch je kleinteiliger nachgefragt wird, um so mehr schmilzt der Zustimmungswert. Wenn es ums Haus, in dem die Befragten wohnen, geht, sind es nur noch 23 Prozent, die zustimmen.

„Als wesentliche Gründe für die kritische Perspektive auf das Haus werden keine baulichen, sondern soziale Aspekte, die die Nachbarschaft betreffen, genannt“, schreiben die Autoren des Artikels. „Beispiele dafür sind: ‚Keine Reaktion des Vermieters auf Probleme‘, ‚Das Niveau der neuen Bewohner. Man pflegt kaum noch Kontakt miteinander.‘“

Was ja auf die gewachsene Grünauer Mentalität verweist. Da die meisten Häuser zum selben Zeitpunkt bezogen wurden, haben sich gleich frühzeitig aktive Hausgemeinschaften gebildet, die einen Kellerraum zum Gemeinschaftsraum ausgebaut haben und die Pflege der Grünanlagen gemeinsam angepackt haben. Man wurde gemeinsam älter. Da sind natürlich die zuziehenden Neuen wie die Neulinge auf dem Dorf. Keine leichte Gemengelage. Erst recht, wenn die Älteren sich in ihrer Heimat Grünau schon richtig tief eingelebt haben. Sie sind auch diejenigen, die deutlich reagieren, wenn „ihr Grünau“ kritisiert wird.

Die Befragung zum Wohlfühlen macht es noch deutlicher: Fast 80 Prozent der über 65-Jährigen fühlt sich in Grünau wohl, bei den 45- bis 65-Jährigen sind es noch rund 65 Prozent, bei den 18- bis 25-Jährigen dann nur noch 38 Prozent. Mit Betonung auf nur noch.

Denn die Grünauer Innensicht passt nicht immer mit der Leipziger Gesamtsicht überein. Denn auch wenn die Werte hoch zu sein scheinen, sind sie verglichen mit Leipziger Innenstadtquartieren (ganz ohne die üblichen Hausgemeinschaften) spürbar geringer. Da hilft der Blick in die „Bürgerumfrage 2015“. Danach hatten die Bewohner von Grünau-Nord (dem einstigen Abrisskandidaten Nr. 1) mit 52 Prozent die niedrigsten Grünauer Zufriedenheitswerte, die höchsten gab es mit 75 Prozent in Schönau.

Nur zum Vergleich: Die zufriedensten Leipziger leben im Zentrum-Süd (92 Prozent), im Waldstraßenviertel (92 Prozent), in Böhlitz-Ehrenberg (92 Prozent) und – das dürfte schon überraschen – im grantigen Meusdorf (93 Prozent), wo sich zumindest eine Gruppe Bewohner gewaltig über eine geplante Unterkunft für Asylsuchende echauffiert. Manche Leute verwechseln die Zufriedenheit mit ihrem Wohnviertel augenscheinlich mit Sonntagsruhe.

Und wenn jetzt einer nach den Leuten im wilden Süden fragt: In der Südvorstadt liegt die Zufriedenheit mit dem Wohnviertel bei 86 Prozent, in Connewitz bei 79 Prozent. Da treffen also, wenn Menschen aus innerstädtischen Quartieren hinaus nach Grünau ziehen, auch unterschiedliche Erwartungen aufeinander. Dasselbe wäre wohl auch in Meusdorf so, wenn man sich da mal hinverirren sollte.

Was Grünau natürlich verändern wird. Vielleicht ist genau das das Unbehagen der älteren Einwohner, die sich über Jahrzehnte nicht wirklich mit neuen Hinzuziehenden beschäftigen mussten. Die Neuen bringen mehr Unruhe und neue Erwartungen in den Stadtteil. 30 Prozent der Befragten sind erst in den letzten sechs Jahren nach Grünau gezogen – etliche natürlich auch in die neuen Wohnquartiere, die ja auch wieder neben den alten Blöcken gebaut werden. Da gibt es dann auch auf anderer Ebene mentale Konflikte, etwa wenn in Lausen-Grünau eine große Gruppe von Bewohnern mit niedrigem Haushaltseinkommen deutlich unterschieden ist von einer Bewohnergruppe, die über ein deutlich höheres Haushaltseinkommen verfügt. In Lausen-Grünau ist das statistisch genauso nachweisbar wie in Grünau-Ost, während Grünau-Mitte und Grünau-Nord sozial sehr homogen sind.

Aus dem Rahmen fällt natürlich die neue Eigenheimsiedlung Schönau, wo die Einkommen insgesamt deutlich überm Einkommensniveau der Grünauer liegen.

Aber die finanziellen Unterschiede werden auch schon innerhalb der Einzelsiedlungen sichtbar. Das kann der Beitrag aber nur andeuten. So detaillierte Erhebungen finden dann auf Blockebene auch in Grünau nicht statt.

Aber der Beitrag macht zumindest deutlich, dass in Grünau einiges in Bewegung gekommen ist und dass auch so eine Art Generationenwechsel begonnen hat. Es beginnt die Zeit, da nicht mehr die Erstbezieher aus den 1980er Jahren den Stadtteil dominieren, sondern ein anderes, wesentlich inhomogeneres Völkchen, teilweise auch aus aller Herren Länder. Und auch das differiert in Grünau. Obwohl die städtischen Gemeinschaftsunterkünfte in Grünau-Ost und Lausen-Grünau zu finden sind, ist der Ausländeranteil in beiden Ortsteilen mit 5,5 und 5,1 Prozent im Stadtvergleich noch unterdurchschnittlich. 8,1 Prozent war der Leipziger Durchschnitt im Jahr 2015. Da kam nur Grünau-Mitte mit 11,7 Prozent drüber. Was für Grünau der Spitzenwert ist, aber nicht vergleichbar mit Neustadt-Neuschönefeld und Volkmarsdorf, wo es 24,2 und 29,1 Prozent waren. Was auch damit zu tun hat, dass Migranten natürlich versuchen, in der Nähe von Bekannten und Verwandten eine Wohnung zu finden. Das bestimmt dann die Wohnmuster verschiedenster Migrantengruppen in Leipzig.

Dazu morgen mehr.

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