LZ/Auszug Ausg. 61Der Titel dieser Folge stellt eine bewusst „dumme Frage“. Nicht, dass die Antwort offensichtlich wäre, sondern ganz im Gegenteil: Sie ist so gestellt, dass sie kaum sinnvoll beantwortet werden kann. Das hat damit zu tun, dass schlichte Schuldzuweisung, wenn es um Ökonomie geht, zu einer Fokussierung auf oberflächliche Erscheinungsformen tendiert. Wo doch eine Analyse tieferliegender Wirkungszusammenhänge angezeigt wäre.

Davon sang schon ein gewisser Karl Marx das eine oder andere scharfzüngige Lied. Und darum ging es ja, jedenfalls dem Anspruch nach, in dieser Artikelreihe von Anfang an: Ökonomie und Politik der Wohnungsversorgung jenseits gern wiedergekäuter Alltagsmythen verständlich zu machen.

Beim Thema Gentrification scheint das in besonderem Maße nötig. Noch immer geistern bestimmte Erzählungen darüber, wie die „Aufwertung“ von Stadtteilen vor sich geht. Nicht nur in Gesprächen im Bekanntenkreis, sondern auch durch Medienberichte – Erzählungen, die vor allem mit bestimmten Bildern von städtischen Räumen arbeiten, eben: oberflächlichen Impressionen. Das ist ein Stück weit durchaus nachvollziehbar. Wer etwa den Wandel des einen oder anderen Leipziger Stadtteils während der letzten zehn Jahre miterlebt hat, registriert natürlich, dass Läden, in denen einst ein ramschiger An- und Verkauf oder ein spießig wirkendes Bestattungsunternehmen anzutreffen war. Oder noch öfter: einfach Leerstand, wo heute mehr oder weniger schicke Cafés beheimatet sind.

Solche Veränderungen für bedeutsam zu halten, ist auch nicht falsch. Wenn sie jedoch in Zusammenhang mit einem gleichzeitig zu beobachtenden Anstieg der Mieten in der Umgebung gebracht werden, wird es oft verdammt schnell unscharf.

Was ist hier Ursache, was Wirkung, was nur Symptom – und was gehört womöglich zu einem gänzlich anderen Themenfeld?

Die verschiedenen sozialwissenschaftlichen Ansätze, Gentrification zu erklären, kann man ganz grob in nachfrage- und angebotsseitige Theorien unterteilen. Nachfrageseitige Perspektiven sind näher an der Alltagswahrnehmung, dass Gentrification etwas mit sich verändernden baulichen Nutzungen und Bevölkerungsstrukturen zu tun haben. Ein ausschließlicher Blick auf die Zuziehenden, die dabei bisweilen in „Pioniere“ und eigentliche „Gentrifier“ unterteilt werden und deren Wohn- und Konsumpraktiken, muss sich jedoch den Vorwurf gefallen lassen, übermäßig „kulturalistisch“ zu argumentieren. Man landet dann rasch bei der eingangs aufgebrachten und verworfenen Schuldfrage. Als Verursacher von Mietsteigerungen und der Verdrängung ärmerer Haushalte gelten dann wahlweise „Künstler“ oder „Kreative“, „Studierende“, „die grüne Mittelschicht“ oder „urbane Kosmopoliten“ und dergleichen.

Wer die bisherigen Folgen dieser Artikelserie aufmerksam gelesen hat, müsste an dieser Stelle aufschreien: Und was ist mit der Immobilienwirtschaft? Wer verdient denn auf der Anbieterseite Geld damit, dass ein Haus eine höhere Miete erzielt als vorher? Und: Macht es nicht einen Unterschied, ob ein Gebäue zuvor leerstand und jetzt beispielsweise von einem genossenschaftlichen Wohnprojekt instand gesetzt wird?

Oder aber ob es bereits bewohnt war und nun von einer Briefkastenfirma luxussaniert wird, wobei die bisherigen Mieterinnen stören und deswegen mit mehr oder weniger unsanften Methoden rausgeekelt werden? Wieso soll von „hippen Cafés“, die zunächst einmal auch bloß (Gewerbe-)Mieter sind, eine so mächtige ökonomische „Ansteckung“ ausgehen? Und wenn es so wäre: Wieso steigen die Mieten dann auch dort, wo es ziemlich weit bis zum nächsten hippen Café ist?

Die Zeichen an den Schildern - Auf und Abwertungen gehen Hand in Hand. Foto: L-IZ.de
Die Zeichen an den Schildern – Auf und Abwertungen gehen Hand in Hand. Foto: L-IZ.de

Tatsächlich bietet gerade die Entwicklung Leipzigs während der letzten Jahre ein anschauliches Beispiel dafür, dass es für immobilienökonomische Verwertungsprozesse in einer Boomphase auf die Mikrolage kaum ankommt. In manchen Vierteln zogen die Angebotsmieten etwas schneller an als in anderen – oft da, wo es mehr Leerstand gab und das Ausgangsniveau tiefer war. Hier wirkt die bereits in früheren Folgen erklärte „Ertragslücke“: Wo der Abstand zwischen aktuellen und potentiell erzielbaren Einnahmen besonders groß ist, lohnt sich eine Investition mit Blick auf die Gewinnaussichten am meisten.

Ortslagen mit diesen Eigenschaften sind aufgrund tiefer Mieten in der Anfangsphase gerade für die (vermeintlich) typischen „Pioniergruppen“, namentlich Studierende, attraktiv. Folglich fällt deren Zuzug oft in ein ähnliches Zeitfenster wie die beginnende bauliche Aufwertung. Dennoch ist weder das eine noch das andere für sich genommen Ursache von Gentrifizierungsprozessen.

Das zeigt sich schon daran, dass im Schatten dieser viel diskutierten innenstadtnahen Viertel, namentlich im Westen und Osten Leipzigs, in den vergangenen Jahren auch gänzlich „unscheinbare“ Gebiete von denselben ökonomischen Mechanismen erfasst worden sind. Die Zahlen zu Grundstücksverkäufen und Mietpreisen zeigen deutlich, dass es zumindest innerhalb des gründerzeitlichen Gürtels kaum noch Ecken gibt, an denen Sanierung und Neuvermietung nicht für ein lohnendes Geschäft gehalten wird. Wo keine bunte Alternativkultur greifbar ist, die man in der Vermarktung der Wohneinheiten ausschlachten könnte, wird halt auf gute Verkehrsanbindungen oder nahe gelegene Grünflächen verwiesen.

Kommt man aus einer angebotsseitigen Perspektive auf die Eingangsfrage zurück, so kann man einen überladenen Begriff wie „Schuld“ durchaus mal abräumen, aber dennoch nach Verantwortlichkeiten, oft ganz persönlichen, fragen. Einerseits sind natürlich primär die Regeln eines Systems, in dem der natürlicherweise knappe Boden eine unbewegliche, aber dennoch handelbare Ware ist, das zentrale Problem. Und nicht mehr oder weniger verwerflich handelnde einzelne Kapitalisten. Andererseits ist niemand gezwungen, ausgerechnet aus dem Grundbedürfnis Wohnen ein profitmaximierendes Geschäft zu machen.

Das beweist das Vorhandensein funktionierender nichtprofitorientierter Alternativen innerhalb der marktwirtschaftlichen Ordnung, auf die in dieser Artikelserie immer wieder verwiesen worden ist. Namentlich bestimmte Genossenschaftsformen, in denen Wohnformen gemeinschaftlich und demokratisch im Eigeninteresse (geringe Mieten, möglichst hoher, umweltschonender Komfort) bewirtschaftet werden.

Viele einzelne Prozesse auf persönlicher Ebene

Gedanken über Verantwortung für die eigene Rolle in der komplexen Ökonomie der Wohnungsversorgung kann man sich jedoch als in der einen oder anderen Hinsicht privilegierter Stadtbewohner durchaus auch auf einer persönlichen Ebene machen. Denn dass es kurzsichtig ist, einen einzelnen schicken Eisladen oder dergleichen für Prozesse verantwortlich zu machen, die maßgeblich von der Logik des globalen Kapitalismus angetrieben werden, bedeutet umgekehrt nicht, dass kleinteilige Entscheidungen die daraus entstehenden Ungleichheiten nicht verstärken können. Wer sich beispielsweise eine scheinbar kleine Mieterhöhung lieber mal leistet, als sich auf den Papierkrieg mit dem Vermieter einzulassen, unterstützt indirekt die zukünftige Verdrängung jener potentiellen Nachmieterin. Für diese könnten genau diese paar Euro mehr den Unterschied zwischen einer bezahlbaren und einer unbezahlbaren Miete ausmachen.

Dabei ist auch zu bedenken, dass für vier Studierende, die sich als WG eine Miete teilen, derselbe Betrag wahrscheinlich etwas anderes bedeutet, als für eine alleinerziehende Person mit drei Kindern, die eine Wohnung ähnlicher Größe benötigt. Manchmal also sind Nachmessungen von tatsächlichen Mietquadratmetern abzüglich eventueller Dachschrägen, Feststellungen von Mängeln und die Verhandlung mit dem Vermieter auch über das eigene Mietverhältnis hinaus relevant.

Am Wasser und im Grünen wohnen - durchaus möglich in Leipzig. Foto: L-IZ.de
Am Wasser und im Grünen wohnen – durchaus möglich in Leipzig. Foto: L-IZ.de

Und auch der Blick auf scheinbar „weiche“, „kulturelle“ Faktoren ist selbstredend nicht in jeder Hinsicht ungerechtfertigt – und von ökonomischen Fragen gar nicht immer sauber zu trennen. Wenn es etwa an einer Straße nur noch preislich und/oder sozial exklusive gastronomische Einrichtungen gibt, Grünflächen und Parkbänke fehlen, dann ist ein Teil der Bevölkerung von einer wichtigen Art der Teilhabe an urbanem Leben – sitzen, innehalten, beobachten, Interaktionen abwarten – ausgeschlossen. Davon sind die meisten Leipziger Ortslagen noch weit entfernt, doch der Druck steigt.

Ethnische Einflüsse in Leipzig?

Auch die ethnische Aufladung von Gentrifizierungsprozessen, die etwa in den USA stets mitschwingt, scheint hier auf den ersten Blick keine große Rolle zu spielen. Doch dass die Eröffnung eines Lokals in der Nähe der Eisenbahnstraße im Internet mit den Worten „finally not a Döner place“ kommentiert wird, zeigt, dass diese Dimension von Ungleichheit auch hier nicht irrelevant ist.

Dabei gibt es im alltäglichen Reden über Gentrification eine Tendenz, verschiedene Bevölkerungsgruppen zu exotisieren und/oder zu romantisieren und ihnen gedanklich eine Position in einem zeitlichen Ablauf von Auf- oder Abwertung zuzuweisen. „Schön, dass es hier kulturell etwas vielfältiger wird – aber die Old-School-Ossi-Läden verschwinden halt – bald gibt’s nur noch so Öko-Familien – gut wäre, wenn es die richtige Mischung wäre“ und so weiter.

Städtische Vielfalt ernst zu nehmen, würde jedoch verlangen, nicht in solchen „wohlmeinenden“ Zuschreibungen zu verharren. Vielmehr gilt es, im Sinne einer „urban citizenship“ allgemeine und spezifische (Rechts-)Ansprüche auf Teilhabe an der sozialen Infrastruktur städtischen Lebens und an lokalen Entscheidungsbefugnissen zu definieren und einzufordern. Und für die Befriedigung individueller und kollektiver Bedürfnisse – insbesondere nach Wohnraum – zu sorgen.

Als Gentrifizierung (von englisch gentry „niederer Adel“), auch Gentrification, bezeichnet man den sozioökonomischen Strukturwandel großstädtischer Viertel durch eine Attraktivitätssteigerung für zahlungskräftigere Eigentümer und Mieter als vorher. Damit verbunden ist der Austausch ganzer Bevölkerungsgruppen. Der Begriff ist theoretisch und in der Frage der Wechselwirkungen (Henne und Ei) nach wie vor nicht eindeutig erklärt.

Zur Reihe: Die Mieten in Leipzig steigen. Darüber wird – endlich – immer mehr diskutiert. Doch oft ist die Debatte noch von Halbwahrheiten und Missverständnissen geprägt. Diese Artikelreihe soll dabei helfen, Wohnungsmarkt und Wohnungspolitik besser zu verstehen und auf gewisse Mythen nicht mehr reinfallen zu müssen. Alle bislang erschienenen Teile können Sie unter dem Tag l-iz.de/tag/mieten nachlesen.

Zur Folge 8 der Reihe Wohnungspolitik: Wo endet die Stadt?

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Wem gehören die Betongoldminen? Paradoxien des Kapitalismus

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Eine Muntermacher-LZ Nr. 61 für aufmerksame Zeitgenossen

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