Am Anfang war ein Film. Ein kurzer Klipp mit dem Titel "Der Kleine und das Biest". Die Geschichte eines kleinen Jungen, dessen Mutter sich eines Tages in ein Biest verwandelt. Nicht einfach so wie Gregor Samsa. Eher so, wie es vielen so geht, wenn eine Partnerschaft in die Binsen geht. Und keiner weiß warum. Und die, die sich eben noch liebten, grollen nun, zanken und verwandeln sich. In Biester.

Dass das ein Problem sein kann für die betroffenen Kinder, weiß man ja inzwischen. Und manche Störung fürs Leben, so glauben manche Psychologen, entsteht aus solchen konfliktreichen Kindheitserlebnissen. Und mancher Hobbypsychologe sieht Scheidungskinder als Problemgruppe und Scheidungen als des Teufels Werk. Eltern haben doch die verdammte Pflicht …

Nein. Haben sie nicht. Eltern sind auch nur Menschen. Oder Biester. Der kleine Film drehte die gewöhnliche Perspektive einfach mal um. Für gewöhnlich sind es ja die Kinder, die dann als bockig, widerborstig und verbiestert dargestellt werden, wenn sie auf die Erziehungsversuche der Erwachsenen mit den ihnen möglichen Mechanismen reagieren. Es hat lange genug gedauert, Kinder aus dieser Projektion herauszuholen.Doch was ist mit den Eltern, von denen heute nicht nur diverse Berater, Politiker und Erziehungsratgeber Heldenhaftes erwarten? Eine Perfektion, als würden sie mit ihrem Tun die Wirtschaft unterminieren, das Bildungsbemühen armer Kultusminister sowieso, das Kindswohl gefährden und die Katastrophen der Zukunft herbeiführen? Supermütter und Superväter, die neben ihrer perfekten Verfügbarkeit für eine überdrehte Wirtschaft auch noch – naja, klar – perfekte Eltern zu sein haben. Was ist mit ihnen?

Marcus Sauermann, der die kleine Geschichte geschrieben hat, und Uwe Heidschötter, der die eindrucksvollen Bilder geliefert hat, haben einen kleinen, namenlosen Jungen in den Mittelpunkt der Geschichte gestellt. Er braucht auch keinen Namen. Eigentlich erzählt er die Geschichte. Beginnend mit jenem Moment, in dem er feststellt, dass sich seine Mutter in ein Biest verwandelt hat. Ein herrliches Biest. Ein tragisches Biest. – Wie sehen Kinder ihre Mütter, wenn sie in so einem Tal der Trauer und der Beziehungsnot landen? Ganz mit sich beschäftigt und der Wut und der Verzweiflung? “Um alles muss man sich dann selbst kümmern. So, als wäre sie gar nicht da.”

So ein Zustand kann Vorteile haben. Er eröffnet dem Kind erstaunliche Freiheiten und viel Spielraum, Verantwortung zu übernehmen. Oder sich auch mal so richtig zu schämen, wenn das Biest aus der Rolle fällt. Es lernt zu trösten. Jetzt ist das Biest ja immer da – man kann mit ihm Fußball spielen. Auch wenn das Gewinnen viel zu leicht fällt.

Erst nach und nach erfährt der kleine oder große Leser, warum die Mutter zum Biest geworden ist. Und dass ein Leben zwischen zwei Biestern so einfach nicht ist. Und dass es ziemlich lange dauern kann, bis die Verbiesterung nachlässt.

Was auffällt: Gute alte Freundinnen gibt es in dieser Welt. Aber keine Eltern und Großeltern. Es ist eine Geschichte von heute, aus dem Zeitalter der Klein- und Kleinstfamilien, in denen die Betroffenen Vieles mit sich allein ausmachen müssen. Auch die Trauer und die Verletzungen. Es ist auch eine innige Geschichte. Eine Geschichte, in der auch Zeit eine fassbare Bedeutung bekommt. Zeit als Erfahrung, wie ein Mensch sich verwandeln kann. Und wenn es die eigene Mutter ist.Und das Faszinierende an der Geschichte: Sie trifft nicht nur auf Knirpse im Kindergartenalter zu. Der Verlag empfiehlt das Buch sowieso “allen Biesterkindern und ihren Biestereltern”. Denn nicht nur die Kleinen erfahren ja, wie sehr sich ihre Biestereltern verwandeln können, wenn ihre Partnerschaft in die Brüche geht. Auch die Großen erfahren ja oft erst in solchen Situationen, wie sehr sie ihren eigenen Emotionen ausgesetzt sind. Auch für sie geht ja ein Ideal in Scherben – und darunter leiden eben nicht nur die kleinen Biester, sondern auch die großen.

Da könnte so Mancher tatsächlich lernen, dass das Leben mehr ist als ein Versuch in Perfektion. Und man staunt, wieviel an Assoziationen und Nebengedanken in eine scheinbar so leichthin erzählte Geschichte passt, wenn man sie durchblättert und miterlebt, wie sich das Biest verwandelt. Und genauso erstaunlich die Resonanz, die das Buch schon jetzt erzeugt hat, denn nicht nur Scheidungskinder entdecken sich darin wieder, sondern auch Kinder aus scheinbar heilen Familien.

Denn die Unterschiede zwischen den Partnerschaften, den geglückten und den weniger geglückten, sind gar nicht so groß, wenn es um die tatsächlichen Krisen und ihre Bewältigung geht. Wer Kindern erzählt, das sei nicht so, der hat sie schon beschwindelt. “Wird dringend gebraucht”, schreibt der Verlag zu diesem Bilderbuch.

Kann auch eine gute Arznei sein gegen den Hollywood-Glauben, nach dem Happyend wär alles eitel Sonnenschein. Ein Buch zum Gemeinsamlesen und Schwatzen und Trösten. Immer schön griffbereit hinstellen, damit man’s aufblättern kann, wenn’s wieder mal passiert.

http://heidschoetter.blogspot.com

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