So schön können Kataloge sein. Wenn das Thema sowieso schon ein spannendes ist: die Rekonstruktion einer berühmten europäischen Handelsstadt in ihren Entwicklungsphasen vom 13. bis 17. Jahrhundert. Die Ausstellung dazu ist derzeit im Stadtgeschichtlichen Museum zu sehen. Natürlich ist der Versuch, eine vergangene Stadt in 3D zu rekonstruieren immer auch ein Experiment.

Eines, das die Krakower gleich richtig groß angepackt haben vor acht Jahren. Haus für Haus haben sie mehrere Entwicklungsetappen ihrer Stadt aufgearbeitet. Bei einigen Teilen ihrer Stadt wissen sie sehr viel über frühere Bau- und Entwicklungsphasen. Der Markt mit dem Rathaus, den Tuchhallen und den zwei Waagen ist in den letzten Jahren intensiv erkundet worden, die alte Fürstenburg, der Wawel, ist zu 80 Prozent archäologisch erkundet. Schichtenweise liegen die alten Stadtstrukturen unter der heutigen Bebauung. Jede Stadt ist ein kleines Troja. Und so beiläufig erfährt man im Beitrag von Piotr Opalinski, warum mittelalterliche Städte immerfort in die Höhe wuchsen, warum das Straßenniveau Jahrhundert um Jahrhundert anstieg. Er erläutert es anhand der Grabungsergebnisse vom Krakower Markt, der jahrhundertelang nicht gepflastert war. Nur einige befestigte Trassen, auf denen auch schwere Ochsengespanne fahren konnten, querten den Platz. Einige Gräben sorgten für den Wasserabfluss.

Aber der größte Teil des Platzes war – wie die meisten Straßen – Jahrhunderte lang unbefestigt. Wenn sie sich bei Regen und Tauwetter in Schlamm verwandelten, wurden Plätze und Wege mit Holzbohlen und Strohaufschüttungen halbwegs passierbar gemacht. So wuchsen die Trassen Schicht um Schicht. Und die ursprünglichen Erdgeschosse der ersten Steinhäuser “versanken” quasi im Erdboden – aus den ebenerdigen Gewölben wurden Keller.Und wenn man den Text so recht versteht, den Opalinski da über die Grabungsbefunde in Krakow geschrieben hat, dann lässt sich der Prozess sogar am Gebäude des Historischen Museums selbst, einem alten Krakower Kaufmannspalais, nachvollziehen.

Die archäologischen Grabungen ermöglichten den Forschern auch, die Entwicklungsstadien der verschiedenen kaufmännischen Gebäude zu rekonstruieren, die anfangs recht provisorisch auf dem quadratischen Marktplatz entstanden und im Lauf der Zeit zu einem eindrucksvollen Bauwerk verschmolzen. Wenn Wissenschaftler beginnen, eine Stadt nach archäologischen Befunden, alten Plänen und Stadtansichten zu rekonstruieren, wird auch die Rekonstruktion selbst wieder zu einem Forschungsprozess. Die Krakower holten sich Architekten, Baufachleute, Kunst- und Architekturhistoriker mit ins Boot. Immerhin geht es auch um die Rekonstruktion der richtigen Bauweise, die richtigen Baumaterialien, die Unterbringung von Wirtschaftsbauten, Zisternen, Gärten, Giebeln und Türmen. Und man muss nacharbeiten. Wenn neue Erkenntnisse dazu kommen.Einen kleinen Teil der Rekonstruktionen spiegelt der Katalog wieder. Die großen, eindrucksvollen Stadtansichten, die mit zur Grundlage der Computerrekonstruktion dienten, sind genauso als ausfaltbare Leporellos enthalten wie die Rekonstruktion selbst. Kleine Überraschung: Auch für Krakow bildet das Reisealbum des Pfalzgrafen Ottheinrich eine der frühesten Stadtansichten – genauso wie es für Leipzig der Fall ist. Die Jahre 1536 / 1537 waren noch eine Zeit, in der es selbstverständlich war, auch die großen Handelsstädte des Ostens zu bereisen, in denen Breslau und Krakau ganz selbstverständlicher Teil des europäischen Handelsnetzes waren – so selbstverständlich wie Danzig, Prag und Thorn, mit denen Krakow genau so eng vernetzt war wie mit Leipzig, Nürnberg und Erfurt.

Aber was uns heute wie ganz ferne Geschichte vorkommt, weil so unsere großen Städte erstmals bildhaft in den Blick rücken, war andererseits auch das Ende einer ganzen Epoche. Darauf kommt Elsbieta Firlet in ihrem Beitrag zur Via Regia zu sprechen. Ein kleiner Aha-Effekt. Denn noch im 16. Jahrhundert begann ein Prozess, der die großen Handelsbeziehungen zum Osten auf Jahrhunderte hinaus beschädigte. Ausgelöst durch die Wiederentdeckung Amerikas und die radikale Neuorientierung der europäischen Handelsbeziehungen nun über den großen Teich. Man liest es regelrecht heraus aus Firlets Text, wie da ein halber Kontinent – nämlich Westeuropa – auf einmal die Blickrichtung komplett änderte. Man drehte sich praktisch mit den großen Handelshäusern, den Fürstendynastien und Eroberungstruppen von Ost nach West. Selbst das Machtzentrum der Habsburger verlagerte sich von Wien nach Spanien. Die gewaltigen Gold- und Silberimporte aus Amerika verzerrten die Gewichte erst recht.

Seitdem wirkt Europa wie zerrissen, scheint Osteuropa gar nicht dazu gehört zu haben, wenn von Europa die Rede war. Für einen Bundeskanzler wie Konrad Adenauer begann gleich östlich der Elbe Sibirien. Erst die Ausweitung der EU nach Osten hat diesen Zustand ein wenig aufgelöst. Man ahnt im Westen zumindest wieder, dass man mit diesen reichen Landschaften rechts und links der alten Handelswege einmal wesentlich enger kooperierte, wesentlich intensiver in Kontakt war als in den letzten 500 Jahren.

Und noch etwas wird deutlich: In der frühen Neuzeit waren es die Städte, die Europa zum Blühen brachten und die wirtschaftlichen Transformationsprozesse vorantrieben. Und genau das ist auch heute der Fall. Wieder, darf man sagen, denn fast 200 Jahre lang scheint die Entstehung der heutigen Nationalstaaten diesen Prozess überformt zu haben. Jetzt entdecken die europäischen Metropolen wieder, wie verwandt sie sich sind und welche historischen Wurzeln sie verbinden. Es nutzt zwar noch nicht viel, weil die Nationalstaaten weiterhin die Budgets teilweise für populistischen Tamtam verbraten – aber lässt zumindest ahnen, dass die wirtschaftlichen Entwicklungen künftig wieder stärker über die Metropolen laufen werden. Nicht mit Ochsentrecks und Planwagen. Aber auch die Logistik hat sich ja weiterentwickelt. Krakow ist Leipzig wieder deutlich näher gerückt.

Elzbieta Firlet / Piotr Opalinski “Cracovia 3D. Via Regia – Krakau auf der Handelsroute im 13. – 17. Jahrhundert”, Historisches Museum der Stadt Krakau, Krakow 2012

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