Harald Kirschner lebt in Grünau. Manche halten ihn für den Grünau-Fotografen ganz und gar. Dabei hat er sich - wie eine Reihe anderer Leipziger Kollegen - immer als Dokumentarist seiner Zeit empfunden. 2013 erschien im Mitteldeutschen Verlag sein Bildband "Patina. Halle 1986-1990". Er hat auch in der Nachbarstadt festgehalten, wie sich die Stadt veränderte. In diesem Fall: alt, grau und ruinös wurde. Anders als Grünau zu dieser Zeit.

Ganz genauso war er damals im Leipziger Osten unterwegs, hat den Verfall dieses alten Arbeiterquartiers festgehalten, bevor die Abrissbagger kamen. Die Wohnungsnot in der DDR war im Wesentlichen selbstgemacht. Jahrzehntelang hatte man die Baukapazitäten gering gehalten, hatte sie zum Teil in Berlin konzentriert. Zur Instandhaltung oder gar Sanierung in den Großstädten des Landes stand kaum Material zur Verfügung. In Leipzig hatten in den 1970er Jahren rund 30.000 Familien keine eigene Wohnung, lebten zur Untermiete oder in der Wohnung der Eltern.

Um die benötigten Wohnungen aus dem Boden zu stampfen, entstanden in allen großen und kleinen Städten normierte Neubaugebiete. Grünau, wo 1976 der erste Grundstein gelegt wurde, sollte eines der größten Neubaugebiete der DDR werden und über 36.000 neue Wohnungen bereitstellen. 1981 zog auch der freischaffende Fotograf Harald Kirschner nach Grünau, zu einer Zeit, als zwar die ersten Wohnkomplexe (WK) bezugsfertig waren, die Straßen aber zumeist noch Baustraßen waren und die Flächen zwischen den Blöcken Baustelle und Schlammwüste.

Diese Welt und das langsame “Trockenwerden” Grünaus hielt Kirschner mit seiner Kamera fest. Dieser neue Bildband zeigt diese Aufnahmen, die in den ersten zehn Grünauer Jahren entstanden, als eigentlich jeder, der eine Wohnung in Grünau zugewiesen bekam, happy war: kein Kohlenschleppen mehr, keine Löcher in den Dächern, keine kaputten Fenster und Außenwände. Der Mythos Grünau wird erst begreiflich, wenn man die alten Berichte zur Wohnsituation in den heruntergekommenen Gründerzeitvierteln Leipzigs liest: Bäume wuchsen aus Dachrinnen und auf Balkonen, Toiletten gab es meist nur “eine halbe Treppe tiefer”, gern auch eingefroren in besonders frostigen Wintern.An fließend Warmwasser oder gar Heizung im Haus war gar nicht zu denken. Der Bezugsschein für eine Wohnung in Grünau war wie ein Sechser im Lotto. Und die Erstbezieher waren keineswegs geschockt davon, dass ringsum noch fast gar nichts fertig war, dass einige geplante Kaufhallen, Gaststätten und Kulturhäuser noch fehlten und die Asphaltierung der Straßen noch Jahre auf sich warten ließ.

Selbst der späte Anschluss ans Leipziger Straßenbahnnetz wurde gefeiert. Vorher waren die meisten Grünauer froh, mit der S-Bahn zur Arbeit zu kommen.

Kirschner zeigt all das – die Ströme der Werktätigen, die über die Brücke zur S-Bahn laufen, die Subotniks, bei denen die Grünauer selbst mit anpackten, das Wohnumfeld instand zu setzen. Er zeigt auch die Bauarbeiter und ihr Gerät – und aus heutiger Sicht staunt man nur noch, mit welch primitiver Technik hier industrieller Wohnbau vorangetrieben wurde. Die Grünauer ließen sich nicht verdrießen, standen geduldig Schlange, wenn es mal einen Blumenstand gab oder die Buchhandlung eröffnete.

Ebenso geduldig liefen sie mit Gummistiefeln durch die aufgewühlte Landschaft, die den Kindern im Sommer den herrlichsten Abenteuerspielplatz bot. Wann kommen Stadtplaner schon mal auf die Idee, statt der üblichen Sandkästen im Hof mal richtige Seen, Steinberge, Trampelpfade und Rodelberge anzulegen? Kabeltrommeln und alte Förderbänder dienten den Kindern als Klettergerät. Was will man eigentlich mehr?

Außer vielleicht am Wochenende ein bisschen Grün zur Erholung? Auch das legten die Grünauer selber an, gruben, bauten und pflanzten emsig grüne Landschaften in den Vorgärten, und wenn dann auch noch die Badewanne für die Kinder da stand, hatte Papa Zeit, es sich im Campingstuhl mit Buch und zwei Flaschen gemütlich zu machen.

Der Architekt Wolfgang Kil, der die Laudatio auf Harald Kirschner schrieb, vermutet zwar Bier in den Flaschen. Aber es könnte durchaus auch die berühmte Vita Cola sein. Denn auch damals passten Bier und Buch nicht wirklich zusammen. Besonders das Foto eines Subotniks am Jugendklub “Völkerfreundschaft” 1982 regt Kil zum regelrechten Philosophieren an. Ein echtes Wimmelbild, in dem im Vordergrund nicht nur Jugendliche mehr oder weniger begeistert Steine weiterreichen, sondern hinten auch noch ein Jugendblasorchester in schnieker Festtagsmontur musiziert. Dabei waren die Grünauer Jugendlichen genauso wild wie die in anderen Stadtteilen. Spielende Kinder und lässige Jugendliche tauchen immer wieder auf in Kirschners Fotos – alles Szenen, die so nie in der Parteipresse hätten erscheinen können.Die aber davon erzählen, wie die Grünauer sich ihren neuen Stadtteil aneigneten, ihn wohnlicher machten und zu einer vollwertigen neuen Heimat. Da und dort erzählen Balkonbilder davon, dass viele Grünaue auch aus den abgebaggerten Dörfern des Leipziger Südraums nach Grünau kamen. Man sieht die Grünauer tapfer warten an der einzigen Telefonzelle weit und breit, das Richtfest der Pauluskirche feiern oder emsig ihre Trabis auseinandernehmen. Zusehends – auch aus der Perspektive des Hochhauses über die Dächer des Wohnkomplexes hinweg – normalisiert sich das Leben, parken die Autos nicht mehr im Schlamm, sondern sauber gereiht an frisch asphaltierten Straßen. Nur der Dunst über den Dächern erzählt davon, dass die Energie, die die Wohnungen in Grünau warm macht, aus den nahegelegenen Kohlemeilern stammt.

Und vom November 1989 an dauert es gar nicht mehr lange, bis sich die eben noch gepflegten Wartburg-Limousinen in geplünderte Wracks verwandeln, Container westdeutscher Banken aufblühen wie Pilze und der erste Massa-Markt in einem Riesenzelt eröffnet. In der Straße der Bauarbeiter (der heutigen Breisgaustraße) reichen zwei Fotos aus dem selben Blickwinkel aus den Jahren 1987 und 1991, um den Zeitenwechsel bildhaft zu machen.

Was bleibt? Eine zerknirschte Grünauer Seele. Denn die Einwohnerzahl halbierte sich in den nächsten 20 Jahren, die jungen Eltern aus den 1980er Jahren wurden zu Grauköpfen. Und jeder kritische Ton über Grünau wurmt die Dagebliebenen. Zumindest in einigen Medien haben sich neue Stereotype über den Stadtteil festgefressen, die immer wieder hervorgeholt werden, wenn man mal wieder zu faul zum Ortsbesuch ist. Auch wenn der Bevölkerungswandel Grünau später erreichte als die inneren Stadtteile, deutet sich längst an, dass das Wachstum auch Grünau wieder erfassen wird. Und dass all die Wohnungen, die man in den letzten Jahren weggerissen hat, fehlen werden.

Und die älteren Grünauer, zu denen nun auch Harald Kirschner gehört, werden wieder zuschauen können, wenn Baugruben ausgehoben und Mehrgeschosser hochgezogen werden. Dafür ist ein Großteil der Infrastruktur schon da – obwohl die Stadt da auch heute wieder spart. Aber das wird Stoff für künftige Bildbände.

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Vom Heimischwerden
Harald Kirschner, Mitteldeutscher Verlag 2014, 19,95 Euro

Dieser hier bringt die ersten zehn Jahre auf den Punkt, zeigt mit dem freundlichen Blick des Ureinwohners, wie ein neuer Stadtteil sich mit Leben füllte und die Neuankömmlinge sich nach und nach in echte Grünauer verwandelten. So betrachtet sind die Bilder auch eine sozialgeschichtliche Studie, die das Entstehen einer neuen Stadtteilgesellschaft dokumentieren, wie Menschen heimisch wurden in einem Umfeld, das man anfangs eigentlich nicht als heimelig bezeichnen konnte. Kil spricht von positiven Gründungsmythen, die nun “kleingeredet und ins Gegenteil umgewertet werden”. Ist das wirklich so? Ist Grünau nicht eher auf dem Weg, zu einem ganz normalen Leipziger Stadtteil zu werden? So wie Paunsdorf, Lößnig oder Neustadt-Neuschönefeld? Die jüngeren Bilder Harald Kirschners erzählen nichts anderes. Aber die findet man natürlich nicht in diesem Band, der ist ganz den frühen Jahren gewidmet, als Grünau so jung war, dass es auch noch ein Stück weit chaotisch sein durfte. Das ist lange, lange her.

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