Müssen es immer Prinzen, Ponys und Partys sein? Wenn man so durch die Jugendbuchabteilungen der Buchhandlungen stöbert auf der Suche nach zumutbarer Lektüre für junge Leserinnen und Leser, darf man erschüttert sein. Zwischen Fantasy und Nobility hat das richtige Leben hienieden kaum Platz. Es geht so schrill zu wie in den Kindersendungen des deutschen TV. Und so falsch. Gäb es da und dort nicht einen Lichtblick aus dem nur scheinbar so banalen Leben - zum Beispiel dem der Fischers.

Die waren jüngst erst auf Kreta. “Ferien mit Mama” hieß das Buch, das einmal nicht aus der Perspektive der Schönen und Reichen geschrieben wurde, die sich Reisen in die Welt auch im Privatjet und ins Luxus-Ressort leisten können. Was auffällt, denn in die Jugendliteratur ist längst schon ein seltsamer Geist eingezogen, wie er sich auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen räkelt. Da sind Rechtsanwälte, Firmeninhaber, Agentur-Chefinnen, erfolgreiche Schauspieler, Models und Ärzte die Stars, die Kulissen sind nobel, selbst die toughe Journalistin lebt in einem Penthouse, der arbeitslose Architekt in einem Loft. Es werden die neuesten Luxusmarken der deutschen Autohersteller gefahren. Mit Bus, Bimmel und S-Bahn ist da niemand unterwegs. Und die Klamotten sind maßgeschneidert und stammen ganz bestimmt nicht aus dem Billigkaufhaus …

Wer darauf achtet, hat schon längst dieses seltsame Gefühl, in einer völlig anderen Welt zu leben. Irgendwie aus dem Raster gefallen zu sein. Das macht nicht nur wütend, das schürt auch die falschen Bilder, die unsere derzeitige Gesellschaft so aufregen, dieser permanente Widerspruch zwischen einer gefakten Realität der glücklichen Reichen und dem Selbsterlebten der ganz normalen Menschen, die man früher mal die Kleinen nannte. Und die heute in den TV-Soaps immer noch wie exotisch urige Gestalten “aus dem Volke” erscheinen, lustige Randgestalten einer glattgebürsteten Welt der falschen Kümmernisse.

Nach Kreta gelangten die Fischers schon einmal nicht auf die übliche Weise. Denn leisten können hätte es sich die alleinerziehende Kellnerin Ulrike Fischer aus Berlin nicht. Da musste schon mal bannig Glück haben bei einem Gewinnspiel. Oder bannig Pech, wie es dann ihre Tochter Sophie feststellen musste, denn die Reisegruppe, mit der sie auf die Insel der Götter flogen, waren lauter Lehrer. Und mittendrin auch noch der eigene Klassenlehrer. Das ist schon heftig. Und das erst recht, wenn den beiden auch noch lauter Abenteuer passieren, die das Selbstbild der beiden Schönen zu bestätigen scheinen: eine Katastrophe folgt der nächsten. Schon das war keine leichte Lektüre aus männlicher Sicht. Haben kluge, attraktive Frauen tatsächlich so mit ihrem Selbstbild zukämpfen?

Wahrscheinlich. Und das nicht zu knapp. Denn ein schönes Happyend mit Kerzen und Lagerfeuer am Meer reicht natürlich nicht, die Welt zu verändern. Auch nicht die Welt von Ulrike und Sophie, die nach diesem im nachhinein faszinierenden Griechenland-Abenteuer zurückgekehrt sind in ihren Berliner Alltag. Die Geliebten sind fern, die kleinen Ärgernisse des Alltags haben sie wieder. Und zu diesen Ärgernissen gehört auch eine gewisse Charlotte in Sophies Klasse, die ihre Mitschülerinnen geradezu einschüchtert mit der Art, wie sie sich nimmt, was sie haben will – auch die Freunde der “Freundinnen”. Das könnte also eine nette Gute-Prinzessin-Böse-Prinzessin-Geschichte werden, gäb’s nicht noch zusätzliche Aufregung im Hause Fischer, das natürlich kein Haus ist, sondern eine normale kleine Berliner Wohnung, gerade groß genug für Mama und Tochter. Schon wenn die Oma mal kommt, gibt es logistische Probleme. Aber was passiert eigentlich, wenn zwei Gäste aus Kreta eintreffen, mit deren Ankunft niemand gerechnet hat? Eine neue Katastrophe?

Das wohl auch. Da können Ulrike und Sophie nicht aus ihrer Haut. Und aus ihren mit Heftigkeit ausgelebten Sorgen, wieder einmal selbst im Mittelpunkt schrecklich beschämender Ereignisse zu stehen. Und auch noch den Alltag zu bewältigen. Zu dem für Sophie natürlich Charlotte gehört, die auch von kretischen Prinzen ihre Hände nicht lassen kann. Das muss dramatisch werden, auch weil Sophie wohl das hat, was für normale schüchterne Zeitgenossen Alltag ist: die pure Scheu, die Dinge beim Namen zu nennen und damit zu riskieren, dass die schönen Träume zerplatzen. Denn man hat ja nicht so viele. Und die richtig großen Träume sind vollgepackt mit all den Emotionen von purer Angst bis zur völligen Sprachlosigkeit. Man glaubt ja nicht wirklich daran, dass ausgerechnet einem hässlichen Entlein wie unsereinem nun ausgerechnet der Hauptgewinn zufällt, die große Liebe, die umwerfende Botschaft aus dem Weltall: Ja, du bist gemeint.

Die Sophies auf Erden kennen das. Und fallen aus purer Verzweiflung in ein bändiges Bangen. Erst recht, wenn die Messlatte unerreichbar hoch liegt. Und das liegt sie endgültig, als Charlotte ins Spiel kommt, die mit einem Vater aufwarten kann, der die schicksten Autos fährt, mit einem eigenen Pferd und einem tollen Freund in New York. Und sie benutzt Waffen, gegen die sich auch ein griechischer Göttersohn nicht zu wehren weiß. Oder nicht wehrt, weil er’s nicht weiß?

Verwirrung der Gefühle, hieß das Mal bei den Herren Shakespeare und Goethe. Und wer selbst mit wachen Sinnen und all den angelernten Komplexen, wie sie Sophie und Ulrike mit sich tragen, in der Schule gesessen hat, der kennt diese griechischen Dramen, die sich abspielen, wenn nicht wirklich klar ist, wer welche Rolle spielt im Team (das meistens gar keins ist), wer wirklich ehrlich ist oder wer nur mit den Gefühlen der Anderen spielt. Nicht immer aus Lust am perfiden Spiel (das kommt meist erst später, wenn einige Zeitgenossen begriffen haben, welche Lust es macht, mit den Gefühlen der Mitmenschen zu spielen und sie schamlos auszunutzen).

Die auch wissen, wie man die Anderen ausspielt gegeneinander, indem man Zweifel schürt und Komplexe bedient. So ganz Unrecht hat Sophie nicht, als sie sich in dieser Woche, die eigentlich ein Geschenk der Götter ist, auf das Schlimmste vorbereitet. Alle Erfahrung sagt ihr ja: Riesenüberraschungen enden in einem Riesenschlamassel. Und geschenkt wird ihr nichts, auch das hat sie gelernt. In der Welt, in der Ulrike und Sophie leben, muss man Geschenke mit Misstrauen betrachten. Was neue Beziehungskisten nicht leichter macht. Im Gegenteil. Irgendwann verbindet sich mit den romantischen ICE-17.15-Uhr-Bekanntschaften nur noch die reine Panik. Und schon aus Selbstschutz fährt gerade Ulrike, die sich in ihrem Verhältnis zu Tochter Sophie gern souverän gibt, bei näherer Männerbekanntschaft alle Schutzschilde hoch. Denn Manches will man – oder frau – nicht immer wieder aufs Neue erleben.

Möglicherweise ein nicht ganz unwichtiger Grund, warum Partnerschaft ein heute derart schwieriges Unterfangen geworden ist.

Und Sophie, die denselben unersättlichen Hunger nach Anerkennung hat, weiß eigentlich schon lange, dass die unausgesprochenen Kümmernisse ihrer Mama auch ihr nicht fremd sind. Und eigentlich wird alles, was sie befürchtet, bestätigt. Charlotte ist es, die die Fäden in der Hand hält und am Ende schon beinah triumphiert. Wäre da nicht der ungenehmigte Ausflug zu einem nächtlichen Konzert und der mutige Auftritt von Sophies Freundin Luise, die auch Sophie zu einem mutigen – vielleicht aber auch verzweifelten – Schritt anspornt.

Es geht um Respekt in dieser Geschichte, diesem so selten gewordenen Gut in einer Gesellschaft, in der Schein und Glanz dominieren. Aber nicht nur. Denn die Respektlosen brauchen die Wehrlosen, die sich alles gefallen lassen. Die Ahnungslosen, die nicht merken, wer die Spielregeln macht. Die Mutlosen, die sich einschüchtern lassen von Glanz und Geld und Rücksichtslosigkeit. Also die ganzen 90 Prozent, die übrig bleiben, wenn man die Schöngemalten aus den Sendungen des deutschen TV einfach mal wegstreicht. All die, die hier auf der realen, manchmal schamhaften Seite der Welt leben, wo es nichts ohne Preis gibt und Träume in der Regel mit dem nächsten Kontoauszug platzen.

Wo man zusammenhalten muss, wenn gar nichts mehr geht. Weil sonst wirklich nichts mehr geht. Und die Dramen, die man dabei erlebt, sind genauso wild und schweißtreibend wie die der Könige und Königinnen bei Shakespeare. Aber das muss man erst einmal wieder sehen lernen. Ein Mutmacherbuch also für alle Sophies (die auch dieses heftige Bangen und Leiden wohl kennen, mit dem Sophie diese Woche durchschlittert). Und für alle Ulrikes und vielleicht sogar die Wolfgangs, die mal einen kleinen Blick auf die weibliche Seite der ganz normalen Ängste des Lebens tun wollen.

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