Roman steht auf dem Cover. Davon darf man sich nicht verwirren lassen. Denn mit "Taschentuchdiele" erzählt der Leipziger Autor und langjährige SPD-Stadtrat Gerhard Pötzsch seine Lebensgeschichte. Zumindest deren ersten Teil von der Kindheit bis zum Knast. Natürlich kann man so ein Leben auch als "Roman einer Kindheit" schreiben.

Und irgendwann ist es einfach an der Zeit, irgendwann, wenn der 65. Geburtstag so langsam droht und die Ahnung wächst, dass es bald niemanden mehr geben wird, der die alten Geschichten erzählen kann, dass selbst die Fotos und Familienerinnerungsstücke verloren gehen. Die Kinder und Enkel wachsen mit ganz anderen Erlebnissen auf. Das Jahr 1968 ist für sie genauso fern wie die Beat-Demo von 1965, der Mauerbau oder das Jahr 1956. Und wie sehr das Lindenau der 1950er Jahre noch vom Krieg geprägt war und wie es sich damals lebte zwischen Kleingartenanlage, Prießnitz-Bad, Reeperbahn und der Sehnsucht nach der großen, weiten Welt, das muss irgendwann erzählt werden. Am besten jetzt, wo sich zumindest die Kinder von damals noch erinnern.

Und am besten mit der Lust am literarischen Erzählen. Denn nur so kommen die Farben in die Geschichte, wird das Leben in der Klopstockstraße und die Personen greifbar, die Gerüche dicht. Und Dichter war der 1951 Geborene schon immer, auch wenn er das damals wohl noch nicht wusste, als er in einer alten sozialdemokratischen Familie aufwuchs mit Geschichten aus einer Zeit, die insbesondere sein Großvater noch zu erzählen wusste. Es geht dabei weit zurück, bis ins späte 19. Jahrhundert, als die Arbeiter in den rauchenden Fabriken des Leipziger Westens die Dinge noch selbst in die Hand nahmen und Vereine gründeten wie eben die vielen Kleingartenvereine in Lindenau, in denen sie sich das Stück Grün schufen, das die eng bebauten Straßen nicht boten. Nebst Gartenfesten, einem bunten Leben, das noch den Jungspund in den 1950-er Jahren fasziniert, als er zu entdecken beginnt, welch seltsame Gestalten in seinem Kiez leben.

Freunde hat er jede Menge. Heute würde sich jeder OBM darüber freuen, wenn in so einem simplen Lindenauer Mietshaus 24 Kinder und Jugendliche leben würden, über den Hühnerstall im Hof vielleicht weniger. Aber damals war das möglich. Manches war noch Provisorium. Da und dort klafften Lücken im Straßenbild. Vereinzelte Bomben, die eigentlich die Rüstungsbetriebe im Leipziger Westen treffen sollten, waren auch hier runtergekommen. Und in den Kellern existierten noch die Durchbrüche aus der Kriegszeit, als so die Fluchtwege gesichert wurden für den Fall, dass die in  die “Luftschutzkeller” Geflüchteten doch unterm eigenen Haus begraben worden wären. Ein Abenteuerspielplatz für die Kinder, wenn sie nicht gleich die Straßen in Beschlag nahmen, auf denen sie noch Himmel und Hölle spielen konnten, weil Autos noch genauso selten waren wie vor dem Krieg.

Pötzsch erzählt nicht einfach geradlinig drauflos. Er hat sich die Freude gegönnt, die Erinnerungen langsam aufsteigen zu lassen, Bilder zu malen, einzutauchen in die Erinnerungen und sich dabei auch regelrecht überraschen zu lassen, wie sehr die alten Bilder noch immer verbunden sind mit Geruchserlebnissen – ob es der ewig rauchende Großvater ist oder der Besuch in Naumanns Lebensmittelladen, dessen Gerüche den Burschen regelrecht überfluten. Noch immer kann er fast das ganze Warensortiment aufsagen, genauso, wie er die vielen Läden auf der Gundorfer Straße (wie sein Großvater sie konsequent nannte), der nun nach Georg Schwarz benannten Straße, aufzählen kann. Das war tatsächlich noch Reeperbahn – eine lebendige Straße, in der es alles gab. Sogar zwei Kinos. Und am Ende zur Merseburger hin natürlich die Taschentuchdiele, die heute wieder Teil der lokalen Legende geworden ist. Aber der junge Mann, der für seinen Vater das Bier noch in der Kanne aus der Kneipe holte, hat die Kneipe noch selbst erlebt. Und errochen.

Wahrscheinlich erkennt man Dichter tatsächlich an ihrer Fähigkeit, die Dinge zu riechen und zu sehen, regelrecht einzutauchen in die erlebte Atmosphäre und dabei auch eigene Emotionen zuzulassen. Hier trifft er noch den Betriebsdirektor mit Bonbon am Revers, der einst als Mitglied der Reeperbahn-Meute in die Fänge der NS-Justiz geriet. Hier sieht er später, als er selbst Aufnahme gefunden hat in den Kreis der abendlichen Biertrinker, auch den Ortsteilpolizisten, der sich – noch in Uniform – eine Hucke antrinkt. Auch weil niemand mit ihm trinken will. Und er beobachtet dessen uniformverliebten Trabanten. Hier erlebt er auch die beliebten Kneipenkonzerte der aufsprießenden Leipziger Band-Szene, angesteckt vom Beat-Fieber und später – mit Bob Dylan – von der Sehnsucht nach einem anderen, freieren Leben.

Pötzsch ist nun mal ein echter 68er Leipziger. Was etwas anderes ist als die 68er-Bewegung im Westen. Für die jungen Geister im Osten war Prag das Fanal, der Prager Frühling, der alle Hoffnungen aufsprießen ließ, diese andere Gesellschaftsordnung könnte endlich aufblühen, sich befreien von der Kleingeistigkeit ihrer Funktionäre. Jetzt einfach nach Prag wandern. Und dann weiter nach München. Ein kurz gefasster Entschluss, der für Pötzsch mit 15 Monaten Gefängnis endete. Ein Thema, das er auch schon als Hörspiel bearbeitet hat. Er hat es am Ende des Buches einfach mit eingeklinkt in seine Erzählung. Vielleicht auch, weil er in diese Abgründe nicht noch einmal eintauchen wollte. Dieser Bernd aus dem Hörspiel ist genauso angeödet von der um sich greifenden Kriecherei, die bislang jede, aber auch jede große Idee zerstört hat.

Es gibt nicht nur viele (sehr dichte) philosophische Ausflüge in diesem “Roman”, auch frohgesinnte Abschweife in reicher Zahl, es gibt auch einige Stellen, an denen der Groll aufscheint, den schon der junge Elektrolehrling Pötzsch hatte auf die ganzen Sichducker, Nachlatscher, Wiedermitmacher. Die es auch heute gibt – wieder oder noch. Das ist egal.

“Und warum sind sie im Gegenzug dafür sogar noch bereit, Einbußen individueller Freiheiten, ja selbst Beschränkungen ihrer selbstverständlichsten Grundrechte, billigend in Kauf zu nehmen? Warum unterwerfen sie sich diesem Verdikt? Warum zahlen sie so verdammt bereitwillig diesen doch viel zu hohen Preis? Ist das Bequemlichkeit, Trägheit, Faulheit? Liegt diese Feigheit in der menschlichen Natur begründet? Warum riskieren Sterbliche so wenig? Wieso zählt Sicherheit mehr als Freiheit?”

Eine Fragerunde, die er mit der recht ernüchternden Frage beendet: “Und warum lassen sich so viele Menschen leben?”

So sauer, wie dann die Meisten erst 1989 so richtig waren, war er wohl schon als Jugendlicher. Wohl auch, weil sein Onkel Franz 1963 bei einem Messebesuch in Leipzig einfach weggefangen und eingesperrt wurde, weil er den Leipziger Kirow-Werkern empfahl, doch auch mal zu streiken wie die Opel-Arbeiter in Rüsselsheim.

“Bei genauerer Betrachtung war es, auf seinem Weg ins Menschenglück, zu einer Diktatur von Kleingeistern mutiert, die aber, wie zum Hohn und bis zum bitteren Ende, darauf beharrten, Lokomotivführer auf diesem Zug der Demokratie zu sein”, heißt es kurz darauf im Buch. Wobei dieser junge Pötzsch eindeutig kein Revoluzzer ist, kein Dissident. Eher ein typischer Leipziger Halbstarker mit Lederjacke, mitgerissen von der Stimmung der Zeit, voller Träume und in der “Taschentuchdiele” zu Hause. Einer, der dazugehörte und stolz darauf war. Man wartet darauf, dass er bei seinen vielen Beschreibungen der Originale, die damals Lindenau bevölkerten, auch ein paar berühmtere Zeitgenossen porträtiert, aber der eine, der später ein hochrangiger Funktionär wurde, war früher halt mal Aushilfe in Omas Gemüseladen gewesen (was die Geschichte dennoch zur bedenkenswerten Anekdote macht). Dafür trifft er den Maler Karl Hermann Roehricht, der damals in Lindenau lebte, natürlich in der “Taschentuchdiele”.

Natürlich zerbricht die Erinnerung an Kindheit und Jugend genau an der Stelle, an der der Held auf dem Weg nach Prag abgefangen wird und wegen versuchter Republikflucht ins Gefängnis kommt. Ein Trauma, von dem er dann Jahrzehnte lang nicht erzählen kann. Auch weil sich scheinbar niemand dafür interesssiert. Was den Erzähler am Ende natürlich in einen Zwiespalt stürzt: Halbherzig davon erzählen oder lieber gar nicht? Der “Roman” seiner Jugend klingt also mit einem fragenden Moll-Akkord aus.

Der ein wenig auch an das musikalische Erzählen eines Fritz Rudolf Fries erinnert, der ja bekanntlich über die selbe Leipziger Weltgegend einen eigenen Roman geschrieben hat, ebenso biografisch angelegt und 1966 im Westen erschienen, was ja dann bekanntlich den Karriereknick für Fries bedeutete: “Der Weg nach Oobliadoh”. Aber begegnet sind sich die beiden wohl nicht. Damals zumindest nicht, als Gerhard noch mit seinen Freunden zu wilden Indianerspielen in den Auwald aufbrach.

Aber die Fragen übers halbe oder ganze Erzählen lassen das Ende von Pötzschs Jugend-Roman natürlich offen. Warum sollte die Zeit nach 68 weniger erzählbar sein? Auch wenn dann wohl nicht mehr das “Dichterviertel” um Klopstock-, Uhland- und Flemmingstraße im Zentrum steht. Mal sehen.

Gerhard Pötzsch “Taschentuchdiele, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015, 16,95 Euro

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