Finden sich noch unbehauste Inseln im Meer der Leipzig-Literatur? Der neue Band "Leipzig. Eine landeskundliche Bestandsaufnahme im Raum Leipzig", herausgegeben von Vera Denzer, Andreas Dix und Haik Thomas Porada, tritt den Beweis an, dass bestimmte Themenquerschnitte durchaus geeignet sind, neuen Lesegenuss anzuregen. Langjährige Interessenten von populären, fundierten landeskundlichen Darstellungen werden sich erinnern.

An die “Werte der deutschen Heimat”, später “Werte unserer Heimat” – eine Buchreihe, die in der DDR auf über 70 Bände angewachsen war und zahlreiche informative Urlaubsvorbereiter für Naturfreunde einschloss. In dieser Reihe war 1959 auch ein Leipzig-Band geplant. Das Vorhaben erlebte ebenso viele Anläufe wie Abbrüche. Nunmehr, nach 56 Jahren, was wohl einen seltsamen editorischen Rekord markiert, liegt das landeskundliche Kompendium (inzwischen im Böhlau-Verlag Köln/Wien) endlich vor. Hätte 1959 wirklich ein junger Leipziger Bürger auf diesen Band gewartet, er könnte ihn heute im Ruhestand entspannt genießen und sich an vielen wichtigen Qualitätsmerkmalen wie dem Farbdruck, der Begleitung als e-Book und an interaktiven Karten aus dem Internet erfreuen und sein Wissen vertiefen.

Rund ein Fünftel der 464 Seiten gehört dem landeskundlichen Überblick mit den beiden Kapiteln Naturraum und Landschaft sowie städtischer Raum, Bevölkerung und Wirtschaft. Von der Erdgeschichte über Geologie, Klima, Flora und Fauna bis zu den Einflüssen, die das menschliche Wirken im Stadtbild hinterlassen hat, erfährt der Leser in langen Linien wirklich fast alles, um Leipzig-kundig zu werden oder zu bleiben. Den Verfassern und Bearbeitern der Texte, allen voran Luise Grundmann und Heinz Peter Brogiato, gebührt uneingeschränkte Anerkennung für eine ungemein dichte, faktengesättigte Darstellung, die immer wieder Lust zum konzentrierten Weiterlesen weckt, wobei die Aufmerksamkeitsschwelle nie sinken sollte. In jedem Satz stecken Fakten und Argumente.

Knapp 80 Prozent des Buchumfangs gehören dann den Einzeldarstellungen, die – ausgehend vom Zentrum – alle Stadtbezirke und sämtliche Ortsteile einzeln erfassen. Der übersichtliche Textaufbau widmet sich jeweils der Herkunft des Ortsnamens, geht auf die Stellung des Ortsteils im Leipziger Stadtgebiet (orientiert am Datum der jeweiligen Eingemeindung) ein und strebt eine kompakte Auskunft vom Schulhausbau bis zum Netz der LVB an. Wie es sich für ein solch komplexes Röntgenbild des Naturraums Leipzig und der Einflüsse tausendjährigen menschlichen Wirkens gehört, ist dem Band ein anregendes Literaturverzeichnis und ein vorzügliches Register beigegeben.

Der Entstehung des Wissens-Vermittlers im Leibniz-Institut für Länderkunde und an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften ist es zu verdanken, dass in den Text thematische Blöcke mit entsprechenden Karten und Plänen eingewoben sind, die in dieser Form an anderer Stelle entweder gar nicht vorliegen oder in Spezialdarstellungen lange gesucht werden müssten. So aber treten 19 Themen, wie zum Beispiel der Rauchwarenhandel am Brühl, die Entwicklung der Messe, die Schrebergärten, die Erinnerungsorte an die Völkerschlacht oder der Wohnungsmarkt in einer Weise plastisch hervor, die ihresgleichen sucht. Jeweils zwei eingesteckte Karten und Satellitenbilder komplettieren die Informationsfülle.

Bei allem Lob fällt der wahrhaft enzyklopädische Leipzig-Band jedoch dort ab, wo sich die Darstellung der Gegenwart nähert und das zeitgeschichtliche Gedächtnis als frischer Faktenspeicher rebelliert. So wird der bedrückende Film “Ist Leipzig noch zu retten?” des DDR-Fernsehens auf September und nicht November 1989 datiert. Mit Honecker an der Macht wäre solch ein Streifen allerdings undenkbar gewesen. Und die Behauptung, die Kundgebung mit Helmut Kohl am 14. März 1990 vor der Oper hätte mit über 300.000 Teilnehmern so viele Menschen wie nie zuvor in Leipzig auf die Beine gebracht, stimmt nicht. Jeder Zeitzeuge weiß, dass mindestens vier Montagsdemonstrationen des Herbstes 1989 jeweils einen größeren Zulauf hatten.

“Veränderungen nach der Wiedervereinigung” widmen sich zwar dem atemberaubenden Wechsel und dem Nebeneinander von Schrumpfung und Wachstum auf vielen Gebieten, sind aber zuvorderst dem Baugeschehen gewidmet. Ob in diesen 25 Jahren auch eine weiter gefasste Stadtpolitik stattfand, erschließt sich kaum, zumal das Megathema Olympiabewerbung, das mindestens fünf der jüngsten 25 Leipzig-Jahre wesentlich prägte, Spuren hinterließ und als prototypisch gelten kann, mit keinem Wort erwähnt wird und der City-Tunnel nur an einer einzigen Stelle sternschnuppenartig aufleuchtet – als Auslöser der vorübergehenden Einstellung der S 1 nach Grünau. Besonders die Darstellung ausgewählter baulicher Dominanten des Stadtzentrums auf völlig verdienten 30 Seiten gerät quer durch alle Epochen spannender als im Zeitraum seit der deutschen Einheit mit ihren vielschichtigen, emotionsgeladenen Auseinandersetzungen um das zukünftige Stadtbild. Den entsprechenden Abschnitt “Nach der friedlichen Revolution 1990” zu nennen, ist aus Leipziger Perspektive nicht nur verwunderlich, sondern hochgradig fremd.

Trotz aller Einwände wird jeder Interessent an Leipzig-Themen lange und wahrscheinlich vergeblich suchen müssen, um für 30 Euro einen solchen Band wie die neue, moderne landeskundliche Bestandsaufnahme zu finden, die ihn lange als gelehrter Stadtführer ohne erhobenen Zeigefinger begleiten wird. Das Buch ist blitzsauber gedruckt und ordentlich gebunden (in Tschechien, nicht in der früheren Welthauptstadt des graphischen Gewerbes, Leipzig).

Leipzig. Eine landeskundliche Bestandsaufnahme im Raum Leipzig, Hrsg. von Vera Denzer, Andreas Dix und Haik Thomas Porada (Band 78 der Reihe “Landschaften in Deutschland”), Köln/Wien: Böhlau 2015, 463 S., 302 s/w und farb. Abb. sowie 4 Karten in Rückentasche, € 29,90, ISBN 978-3-412-22299-4

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