Der Titel "Deviantes Leipzig" führt ein bisschen in die Irre. Auch wenn er so schön geheimnisvoll klingt. Aber Devianz ist nur ein Begriff aus der Soziologie, der versucht, alle Arten von gesellschaftlicher Abweichung zu erfassen. Nur hätten jene Leute, die vor 100 Jahren in Leipzig als Okkultisten, Theosophen, Vegetaristen, Sexualmagiker unterwegs waren, wohl nicht von sich behauptet, sie würden abweichen.

Mit dem Buch macht der Leipziger bookra Verlag wieder etwas, was auf dem Buchmarkt nach wie vor selten ist: Er macht Arbeiten, die im Rahmen des Studiums entstanden sind und sonst eher in den Archiven verschwunden wären, in einer bezahlbaren Ausgabe zugänglich. Entstanden sind die Texte vor allem im Bereich der Religions- und der Geschichtswissenschaften an der Uni Leipzig. Und die kleine Ergänzung ist notwendig: Es geht um religiöse Devianz.

Eigentlich ein zentrales Thema, wenn es um das Leipzig der Jahrhundertwende geht. Um Deutschland sowieso. Kein Thema ging damals in den intellektuellen Debatten Europas so um wie das “Unbehagen an der Kultur”. Der Kontinent feierte zwar immer neue technische Wunderwerke, die Naturwissenschaften entfachten ein ganzes Feuerwerk an Entdeckungen. Reihenweise wurden liebgewordene Welt-Bilder auf den Kopf gestellt. Doch tatsächlich steckte der Kontinent in veralteten politischen Systemen fest und neben der Feier der Moderne entwickelte sich – wie ein Schattenbild – eine Bewegung, die der nüchternen Gegenwart die Faszination des Okkulten entgegen setzte. Ein Phänomen, das man so schon aus der Zeit der Aufklärung kannte.

Aus der Gegenwart kennt man es ebenso

Ganz so zufällig kamen die jungen Leipziger Religionswissenschaftler nicht auf den Gedanken, einmal auf die Spurensuche nach den im Grunde neu-religiösen Bewegungen um 1900 in Leipzig zu gehen. Denn natürlich spricht sich in all diesen Bewegungen auch die Sehnsucht der Menschen nach einer neuen Gläubigkeit aus, die das naturwissenschaftliche Denken mit neuen Formen der Religiösität zu verbinden versuchte. Exemplarisch steht dafür der Leipziger Astronom Johann Karl Friedrich Zöllner, dessen Leben, Wirken und Scheitern Ron Ritter versucht, aus den zugänglichen Quellen zu erschließen.

Zöllners Versuch, den Spiritismus in das Reich der Naturwissenschaften zu integrieren, stieß schon zu seinen Lebzeiten auf heftige Ablehnung. Da half auch nicht, dass er versuchte, seine Beschäftigung mit der “Geisterwelt” mit naturwissenschaftlicher Herangehensweise zu erklären. Ãœbrigens ein Phänomen, das bei mehreren Akteuren aus der Leipziger okkulten Szene dieser Zeit auffällt: Sie fanden auch dadurch breitenwirksamen Zugang zu Menschen aller Bildungsschichten, indem sie ihre diversen Lehren, Schulen und Ansichten naturwissenschaftlich darboten: neue Religion quasi im naturwissenschaftlichen Gewand, zumeist auch mit einer neu gegründeten Kirche oder Sekte verbunden, auch wenn sich das Ganze dann lieber Verein nannte. Doch ohne Riten, große Meister und Gurus und heftige Kämpfe gegen Abspaltungen und “Irrwege” kamen sie meistens nicht aus.

Leipzig war ein Zentrum dieser Welt

Denn hier waren die wichtigsten Verlage ansässig, die die okkulte Literatur druckten. Johann Falk und Benjamin Rübsam haben sich auch die Mühe gemacht, den Spuren der damaligen Theosophie und Antroposophie in den Akten der Polizei nachzugehen. Die Polizei hatte durchaus einen Blick auf alle diese Gesellschaften, schätzte sie aber als weitgehend harmlos ein – auch in den 1920er Jahren noch. In die Mühlen der staatlichen Verbote kamen sie alle erst in der NS-Zeit. Manche auch mit verblüffter Reaktion, denn einige dieser Gruppen konnten sehr wohl auch auf völkische Strömungen verweisen. Und es gibt durchaus Strömungen, die direkt auf die esoterischen Wurzeln des Nationalsozialismus verweisen. Darauf geht insbesondere Manuel Reinle in seinem Beitrag “Vegetarismus” ein.

Ein wichtiger Verweis, denn er beleuchtet eine elementare Komponente des konservativen und spätromantischen Bürgertums, das seine Ängste vor der zunehmenden Komplexität der Moderne auch damit kompensierte, dass es sich Idealbilder einer “reineren” Vergangenheit schuf und in esoterischen Raum-, Volk- und Rasselehren die Grundmuster für eine künftige Elite-Gesellschaft legte. Die devianten Religionen waren ja nicht deshalb naturwissenschaftlich, weil sie mit belastbaren wissenschaftlichen Methoden arbeiteten, sondern weil ihre wesentlichen Autoren versuchten, den eigenen Ansichten und Absichten ein quasi-naturwissenschaftliches Mäntelchen zu geben.

Das kennt man auch von heutigen Bewegungen. Es ist, als hätte die Welt tatsächlich ein Jahrhundert gebraucht, um wieder an den selben Punkt zu kommen. Als gehörte ein retardierendes Moment unbedingt dazu, eine sich in Vereinen, Sekten, okkulten Verbänden organisierende Gegenwehr gegen alle Erkenntnis, gegen das Unbegriffene am Fortschritt, gegen die Veränderungen einer Gesellschaft, die dadurch, dass sie immer mehr Freiheiten gewinnt, für einige Zeitgenossen geradezu beängstigend und verwirrend wird. Das Okkulte ist wieder gefragt. Und es wird bedient – von Verlagen, Kinofilmen und Fernsehsendern.

Okkultismus in der Moderne

Christin Tölle-Beruf und Ron Ritter versuchen auch zu ergründen, ob der damalige Okkultismus wirklich – wie oft kolportiert – ein Phänomen der Oberschicht war. War es natürlich nicht. Selbst Leipziger Adressbücher zeigen das. Aber darum ging es ja nicht. Die Angst der Ratlosen in der Moderne beschränkte sich damals genauso wenig wie heute auf eine bestimmte Einkommensschicht. Sie ist bei den kleinen Bürgern genauso zu finden wie bei den großen. Der Hass auf die Moderne übrigens auch. Der Verweis auf die völkischen Tendenzen ist schon wichtig an dieser Stelle: Der Hang, sich elitär von allem abzugrenzen, durch das man sich in seiner scheinbar zentralen Weltrolle gefährdet fühlt, ist als latente Seitenströmung unter den devianten Religionen immer da gewesen. Auch wenn Mancher heute zu diesen Strömungen nicht mehr Religion sagen würde, weil das Kultische daran kaum noch erkennbar ist. Aber wie sehr der moderne Faschismus Totenkult ist, hat ja schon  Stanislaw Lem in einem klugen Essay dargelegt.

Eigentlich war das jetzt ein Abschweif und die jungen Soziologen und Religionswissenschaftler der Uni Leipzig könnten auch ein eigenständiges Buch zur speziellen rassistischen und völkischen Strömung im damaligen Leipziger Bürgertum zusammentragen. Wobei man schon hier merkt, dass das Wort Devianz nicht wirklich zutrifft: Die handelnden Personen – bis hin zu den rassistischen und antisemitischen Verlegern aus Leipzig – empfanden sich als wesentlicher Bestandteil eines Bürgertums, das per se schon nationalistisch und elitär geprägt war.

Wie sehr Leipzig damals Brennpunkt der okkulten weltweiten Bewegungen war, zeigen die Auftritte so zentraler Gestalten wie Aleister Crowley und Rudolf Steiner. Vieles ist heute nur noch als Spuren in den Archiven zu finden. Und wirklich große wissenschaftliche Aufarbeitungen dieser Strömungen im Deutschen Kaiserreich gibt es auch noch nicht. Insofern ist das, was die Autoren dieser neun Erkundungen vorlegen, so eine Art Feldbemessung, die jetzt durchaus noch verdichtet werden könnte. Auch die handelnden Personen sind vorerst noch recht skizzenhaft angelegt. Und in den meisten Fällen waren die Autoren dieses Buches auf die Veröffentlichungen der Szene selbst angewiesen. Eher selten setzten sich unparteiische Medien mit dem Phänomen auseinander, auch wenn es nachweislich bis in die Belletristik der Zeit ausstrahlte und sogar in einigen der faszinierendsten Bücher nachklingt. Die Leser waren durchaus aufgeschlossen für diese verdichtete Sehnsucht nach einer wieder von Geistern und höheren Mächten durchdrungenen Welt.

Eine Haltung, die man heute im Massenerfolg esoterischer Verschwörungstheorien wiederfindet.

Augenscheinlich ist es für viele Menschen schwer auszuhalten, die Welt so nüchtern und “sinnlos” zu nehmen, wie sie ist. Deswegen fällt im Buch auch zu Recht das Wort spätromantisch. Deutsche Romantik hat die Zukunft der Welt immer schon in der verklärten Vergangenheit gesucht. Was sich übrigens auch in Malerei, Bildhauerei und Architektur aussprach. Die ganze so viel gerühmte Leipziger Gründerzeitarchitektur erzählt von dieser Sehnsucht nach Schlössern, Burgen und Geborgenheiten. Bis heute. Und liebevoll wurde sie wieder blank geputzt. Denn die Sehnsüchte, wie es scheint, sind noch immer da.

Christin Tölle-Beruf, Ron Ritter (Hrsg.) “Deviantes Leipzig. Vegetarier, Okkultisten und ‘Geheimwissenschaften’ im 19. & 20. Jahrhundert, bookra Verlag, Leipzig 2015, 19,90 Euro

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