Hätte es das nicht schon früher geben können? Viel viel früher, als Papa auch mal klein war? Oder Opa? Statt des grausigen "Struwwelpeter", den sowieso kein Mensch begreift, wenn er nicht so verbohrt ist wie der Arzt, Psychiater und Irrenanstaltsleiter Heinrich Hoffmann, der den "Struwwelpeter" schrieb. Kann er nichts dafür. Wissen wir doch. Was eigentlich Schwarze Pädagogik war, das haben wir ja auch erst mit Alice Miller gelernt.

Was nicht heißt, dass es keine Schwarze Pädagogik mehr gibt, denn das sitzt tief, diese preußische, teutonische Geradebiegerei, das Zur-Raison-Bringen, Kindern Ordnung beibringen und Parieren. Hoffmann schrieb den “Struwwelpeter” 1844 für seinen dreijährigen Sohn Carl. Und löste damit eine Revolution aus im Kinderbuch, denn so schrecklich wie das, was vorher an “Kinderbüchern” produziert wurde, war ja der “Struwwelpeter” nicht mehr. Er war ein Anfang.

Und es brauchte trotzdem über 150 Jahre, bis es einen Kinderbuchverlag gab, der endgültig Abschied nahm vom pädagogischen Zeigefinger, der bis heute so manches für Kinder produzierte Buch noch ungenießbar macht. Aber kann man dann noch Geschichten erzählen, wenn die Kinder nichts mehr dabei lernen? Kann man. Denn die kleine Wahrheit, die die guten Kinderbuchautorinnen und -autoren längst gelernt haben, ist: Moral und Erziehungsziel haben in solchen Geschichten nichts verloren. Wirklich nichts.

Stattdessen erobern sie sich seit einiger Zeit ein Land, das es so zuvor scheinbar nicht gab. Obwohl es immer da war: Die Welt der kindlichen Gefühle, die oft so unberechenbar sind. Aber nicht rätselhaft, denn es sind unsere eigenen Gefühle. Die wir – frei nach Hoffmann – 170 Jahre lang beherrschen und im Zaun zu halten lernen sollten. Und genau damit wurden die Wege zum Verständnis lange verbarrikadiert. Denn Gefühle kann man nicht beherrschen, auch wenn das für so manchen Guterzogenen heute seltsam klingen mag. Gefühle sind das Chaos in uns, abhängig von haufenweise Botenstoffen, die uns reagieren lassen ganz wie unsere Vorfahren, als alles schnell gehen musste, als es keinen Moment des Zögerns geben durfte, wenn Gefahr drohte. Wer überleben wollte, schaltete von 0 auf 180. Aber sofort, wurde zornig und wütend und versetzte dem angreifenden Säbelzahntiger eins, bevor der auch nur merken konnte, dass es jetzt Dresche gab.

Sogar Wut braucht man zum Überleben.

Sie ist immer da. Und wer klein ist, merkt ziemlich schnell, dass ganz wenig genügt, und die Stimmung kocht, die Empörung schwillt, das Blut drängt in den Kopf und aus einem kleinen Sonnenschein wird im Handumdrehen ein verflixt wütendes Wesen, das sich ganz und gar nicht mehr einkriegen will, zornig und laut wird und am Ende in ein Tränenmeer der Klage, der Ratlosigkeit und der Verzweiflung versinkt.

Das kennen Eltern nicht nur von ihren kleinen Sonnenscheinen. Das kennen sie – wenn sie ehrlich sind – auch von sich selbst.

Und das Bild, das der Autor Kai Lüftner dazu gefunden hat, ist uns nicht fremd. Und so schön anschaulich: Ja, wenn der Donner grollt, die Wolken sich ballen und es kracht und scheppert und es vor lauter Brass nicht weiß, wohin mit der ganzen Gewalt – das ist wie die Wut, die manchmal heraufzieht, keiner weiß, woher. Gesichtslos, in klirrender Rüstung, reineweg Naturgewalt. Lüftner hat das mit viel Freude in Strophenform gebracht, hat dazu die beliebte Balladenform gewählt und gereimt, dass es nur so schauert, flutet, wimmert, röhrt und plattert … Plattert?

Der Mann lebt in München, alles klar. Da landen auch die harten Konsonanten im Gedicht, wo ein sächsischer Barde zu schönen weichen, flüssigen Konsonanten gegriffen hätte. Aber ansonsten ist alles wie auch hierzulande, wenn’s bollert und rumpelt. Wie sich das anhört, kann man demnächst auch auf Hör-CD erfahren. Aber Eltern, die ihre Knirpse lieben, müssen nicht warten. Denn beim Klett Kinderbuch ist die Geschichte jetzt schon zu haben. Illustriert. Mächtig gewaltig illustriert von der Berliner Grafikerin Eva Muszynski. Auf zauberhafte Art. Wie ein Märchenbuch. Denn Ritter gehören ja in Märchen, in Landschaften mit Bergen und stolzen Burgen. Und Schäfchenwolken. Anfangs ist alles gut. Niemand ahnt, dass der Himmel sich bedecken könnte und in dunkler Rüstung ein grimmiger Streiter aufziehen könnte. Bis zu dem Moment, in dem sich da was Dunkles regt. Und während oben mit düsteren  Wolken der Ritter aufzieht, spielt unten ein kleiner Junge, der Peter heißen könnte, Tim oder irgendwie anders. Eben noch verträumt ins Spiel vertieft, aber auf einmal stört was. Und so wie oben die Wolken aufziehen, verändert sich der kleine Träumer …  Da dürfte sich auch Papa ein bisschen wiedererkennen, wenn er vorliest. Wenn er sich noch traut, zu seinen Gefühlen zu stehen.

Denn man kann ja kleinen Jungen gut predigen, dass sie aufhören sollen, zu wüten und zu schmollen. Meist ohne Erfolg. Denn eine Predigt (früher hieß das mal Gardinenpredigt) erwartet man ja nicht, will man nicht, man hat gerade mit dem eigenen kleinen Wutpaket zu tun, das rauswill, sich austoben will. Man sieht’s ja, wie es Peter oder Kevin oder Max regelrecht zum Stampfen, Trommeln, Schreien bringt. Der Säbelzahntiger hätte wohl längst schon den Schwanz eingekniffen.

Aber wohin mit der Wut, wenn keiner sie haben will?

Das fragen sich ja auch große Leute. Und manche fragen sich das nicht mal, sondern sind wütend, bis alles in die Binsen geht. Da muss man nur die täglichen Nachrichten schauen.

Sie haben nie gelernt, was Max oder Leon oder Leonie hier lernen können. Mit Papa zusammen (der sich grad bei Mama entschuldigt hat, dass er die schöne Blumenvase zerdeppert hat). Oder mit Mama, wer halt grad dran ist, die Sache zu erklären: Dass man auch die Wut lernen kann zu verstehen. Und dass sie zu uns gehört. Jeder kennt den Gewitter-Ritter, jedem ist er schon mehrmals begegnet.

Und da man nie weiß, wann der donnernde Bursche wieder auftaucht und den ganzen Himmel in Schwärze hüllt, ist es ganz gut, man behält das Buch in Griffweite. Denn es ist auch ein Trost zu wissen, dass man sich hinterher doch wieder ganz anders fühlt. Es ist also wieder so ein Buch, mit dem große und kleine Leute sich selbst ein bisschen kennenlernen können. Ist man dann weniger wütend? Wer weiß. Vielleicht ist man dann einfach ein wenig entspannter, wenn wieder lauter Wolken aufziehen und alles sich gegen einen verschworen hat, wenn die Wut aufsteigt und … Wo steht das verflixte Buch? Papa, DU MUSST VORLEEEEEESEN!

So ungefähr.

Kai Lüftner, Eva Muszynski “Der Gewitter-Ritter, Klett Kinderbuch Verlag, Leipzig 2015, 13,95 Euro

Nur ein klein bisschen Geduld braucht es noch: Das Buch kommt offiziell am 24. September in die Buchhandlungen.

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