Über 600 Stolpersteine hat der Kölner Künstler Gunter Demnig mittlerweile in Leipzig verlegt. Es müssten eigentlich noch ein paar mehr sein. Aber auch so ein Projekt will Zeit haben, Geduld und Spender. Zeit vor allem, um den Schicksalen jener Menschen nachzuforschen, die in den Mühlen der NS-Zeit zu Tode kamen und mit den kleinen Messingtafeln im Pflaster gewürdigt werden.

Besonders aktiv in der Erkundung dieser Schicksale und in der Zusammenarbeit mit Schulen, deren Schüler sich auf die Spurensuche begeben, ist der Erich-Zeigner-Haus e. V. Über 100 Stolpersteine in Leipzig und Umgebung gehen auf Jugendprojekte des Erich-Zeigner-Haus e. V. zurück. Doch der Passant, der die kleinen Steine im Pflaster vor den einstigen Wohnhäusern der Gewürdigten sieht, findet zwar die Namen, die Lebensdaten und – sofern überhaupt herauszufinden – den Todesort. Aber natürlich müssen die Angaben auf den kleinen Platten kurz gehalten sein. Die ausführlicheren Biografien wurden für Leipzig in den vergangenen Jahren auch jeweils aktuell auf der Webseite www.stolpersteine-leipzig.de veröffentlicht.

Aber das Material bietet es natürlich auch an, in Buchform veröffentlicht zu werden. Irgendwann zum Beispiel in einem dicken Lexikon, einem Lexikon der Schicksale. Denn gerade das Projekt der Stolpersteine – das längst über deutsche Städte hinausgewachsen ist und in benachbarten Ländern Fuß gefasst hat – macht auch sichtbar wie kaum eine andere historische Abhandlung zur NS-Zeit, wie viele Menschen aus unterschiedlichsten Gründen Opfer der Mordmaschinerie wurden.

Auch an Leipziger Stolpersteinen kann man das festmachen: Da sind die vielen tausend einst jüdischen Mitbürger, die in die Ghettos und Mordlager transportiert wurden, nachdem sie vorher über Jahre immer weiter entrechtet und ausgeplündert worden waren. Da sind die Sinti und Roma, die nach systematischer Diffamierung und Ausgrenzung als erste systematisch in die Vernichtungslager gebracht wurden. Da gibt es die Menschen mit teilweise jüdischen Wurzeln, die von den braunen Machthabern ebenso systematisch entrechtet wurden. Für alle drei Gruppen gibt es in diesem von Henry Lewkowitz zusammengestellten Buch viele Beispiele. Die Biografien sind um jene Meldekarten, Geburtsregister, Auszüge aus Adressbüchern, Gewerberegistern und der Datei von Yad Vashem ergänzt, die bei der Suche nach den Spuren ihres Lebens geholfen haben. Da und dort – wo zum Beispiel Familienangehörige gefunden werden konnten – werden die Betroffenen auch mit Fotos wieder sichtbar.

Andere Opfergruppen stehen nicht so sehr im Fokus der Projekte am Erich-Zeigner-Haus – doch auch die sind mittlerweile im Leipziger Stadtbild präsent: Angehörige des kommunistischen, des bürgerlichen und des christlichen Widerstands, die in den KZ der Nazis ermordet wurden, genauso wie Menschen, die Opfer des Euthanasie-Programms wurden, ermordete Zeugen Jehovas oder Männer, die sich dem Einsatz in der Kriegsmaschinerie der Nazis entziehen wollten.

Sie könnten in späteren Bänden zu den Leipziger Stolpersteinen auftauchen. Der Erich-Zeigner-Haus e. V. sieht diesen Band durchaus als möglichen Beginn einer ganzen Reihe. Wobei auch die in diesem Band vorgestellten Schicksale von zehn Familien und Einzelpersonen schon deutlich machen, wie nicht nur der Repressionsapparat der Nazis auf bürokratisch rücksichtslose Weise funktionierte, sondern wie auch Instanzen, die eigentlich nicht Teil der Tötungsmaschine werden mussten, sich trotzdem eifrigst andienten, Menschen aus ihrem Wirkungsbereich preiszugeben und zu denunzieren. In diesem Fall rückt auch ein Leipziger Kirchenvorstand in den Fokus.

Aber das Buch bietet auch das nötige Basiswissen rund um das Projekt Stolpersteine an sich – seine Entstehung in Köln und auch die zum Teil kritische Diskussion um diese kleinen Erinnerungsmale direkt unter unseren Füßen, die auch dann an die Untaten des NS-Regimes erinnern, wenn die nächste zentrale Gedenkstätte weit weg und zumeist völlig aus dem Sinn ist. Natürlich wird auch die Jugendprojekt-Arbeit beim Erich-Zeigner-Haus e. V. beleuchtet, wird die Erinnerungsstätte selbst kurz beschrieben und auch das Leben von Erich Zeigner kurz geschildert, einst Ministerpräsident in Sachsen und OBM in Leipzig, im Nazireich selbst aktiv bei der Rettung jüdischer Mitbürger. Es ist einer jener Punkte in Leipzig, an denen aktive Erinnerungsarbeit ein Obdach gefunden hat. Denn wirklich lernen aus der Geschichte kann man nur, wenn man sich intensiv mit ihr beschäftigt, und vor allem auch die Erinnerung an jene Menschen wachhält, die zum Opfer einer gefühllosen Staatsmacht geworden sind, die bei der Vernichtung von Menschen jedes Maß an Menschlichkeit verlor und ihren Opfern und Gegnern jedes Menschenrecht absprach.

Das hat, wie man weiß, Nachwirkungen gehabt weit über die Niederlage des Hitler-Regimes hinaus. Das steckt als Abwertung, Ausgrenzung und Verachtung von Menschen anderen Glaubens, anderer Hautfarbe und anderer Herkunft noch heute tief in Teilen unserer Gesellschaft, bislang tief im Verborgenen, wie die bekannten „Mitte“-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung immer zeigten. Doch die Ereignisse der jüngsten Zeit zeigen auch, wie schnell das wieder mit Rücksichtslosigkeit die öffentlichen Räume besetzt, wenn eine Stimmung entsteht, in der die wichtigsten Politiker glauben machen, derartige Ressentiments seien wieder gewollt. Nie war es so wichtig, Zeichen zu setzen gegen die Kaltherzigkeit von Rassisten und Chauvinisten.

Denn was ihnen in der Regel fehlt – oder unter einem Panzer von Vorurteilen versteckt ist -, ist das Mitgefühl und das Verständnis für andere Menschen. Genau das aber regt dieses Buch an, wenn es seine Leser mitnimmt in die Lebensbilder jener einstigen Nachbarn, die zum Opfer der NS-Mordmaschine geworden sind.

Henry Lewkowitz: Stolpersteine in und um Leipzig, bookra Verlag, Leipzig 2016, 11,90 Euro.

 

Nachtrag, 23. Februar: In einer früheren Variante des Textes haben wir die Zahl der in Leipzig verlegten Stolpersteine viel zu niedrig angegeben.  Darauf hat uns der Erich-Zegner-Haus e.V. hingewiesen. Hier nun die richtige Zahl: “In Leipzig gibt es aktuell 139 Verlegestellen (nicht 136 Stolpersteine) mit über 600 verlegten Stolpersteinen. Darüber hinaus haben wir vom Verein über 100 Steine verlegt (davon insgesamt 37 außerhalb Leipzigs).

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar