Es gab sie wirklich. Und ihr Geburtshaus Baderstraße 2 steht tatsächlich noch in Greifswald. Sie war die Tochter des Bürgermeisters Christian Schwarz, geboren drei Jahre nach Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Dessen Ende sollte sie nicht mehr erleben. 1638 starb die Bürgermeistertochter und Dichterin Sibylla Schwarz an der Ruhr. Sie war die berühmteste Dichterin des deutschen Barock.

Der Ruhm begann 1650. Da veröffentlichte der Lehrer Samuel Gerlach posthum 200 ihrer Gedichte. Und die lesende Welt staunte. Zumindest, solange barocke Lyrik noch ihre Leser fand – immerhin war es das erste wirklich große Feuerwerk der Lyrik in Deutschland, als hätten gerade die miserablen Zeiten, Krieg, Not und Verzweiflung die besten Talente animiert, sich in strenger, aber faszinierender Form zu äußern. Gryphius, Opitz, Fleming, Dach hießen die Berühmtesten der Berühmten. Und zumindest das Werk von Martin Opitz kannte die junge Greifswalder Bürgermeistertochter genau.

Im Nachwort grübelt Michael Gratz darüber, wie die junge Dame überhaupt zu ihrer Bildung hatte kommen können, denn Mädchen konnten damals weder öffentliche Schulen noch Universitäten besuchen. Möglicherweise haben ihre Brüder das wissbegierige Mädchen unterstützt. Möglicherweise haben wir aber auch ein falsches Bild von der Ausbildung junger Frauen in bürgerlichen Haushalten in dieser Zeit. Denn selbst wenn ihnen alle wissenschaftlichen und politischen Karrieren verbaut waren, hieß das ja nicht, dass sie keine gute Bildung brauchten. Immerhin mussten sie die Haushalte ihrer Männer organisieren – und dazu gehörte ganz bestimmt die Fähigkeit zum Schreiben, Lesen, Rechnen und zur gebildeten Konversation in dieser Zeit.

Das ist wohl eher nicht das Außergewöhnliche an diesem Mädchen, das mit 10 Jahren begann zu schreiben. Ungewöhnlicher ist eher ihr enormer Fleiß beim Schreiben von Gedichten in allen seinerzeit beliebten Lied- und Gedichtformen. Wobei die meisten ihrer Gedichte zu besonderen Anlässen im Familienkreis entstanden – zu Hochzeiten zum Beispiel oder Todesfällen. Aber in vielen Gedichten ging die junge Frau auch auf ihr eigenes Leben ein, das seit 1627 von den Kriegsereignissen überschattet war. Erst kamen die Truppen Wallensteins, dann die Schweden. Die Familie musste Greifswald verlassen, lebte fortan in Fretow, später in Stralsund. Doch auch das einträgliche Fretow wurde von den kriegerischen Horden verwüstet.

Eigentlich ist es kein Wunder, dass die junge Dichterin über Liebe, Tod und Not dichtet, über Verluste, Trauer und Klagen. Erstaunlicher ist eher, wie sehr sie ihre Gefühle in die strenge Form bindet – und sich damit einreiht in die große Gilde der hochkarätigen Lyriker des Barock. Aber vielleicht war gerade diese Anlehnung das, was ihr überhaupt erst möglich machte, über das Erlebte zu schreiben. Über das niedergebrannte Fretow oder den erzwungenen Abschied von Greifswald, als dort die Söldner einmarschieren.

Das klingt – der barocke Ton bedingt es so – gern verspielt und ein bisschen altklug. Aber selbst die so locker wirkenden Verse lassen ahnen, in was für Zeiten sie da eigentlich lebte. Denn damals erlebte Deutschland, was heute Länder wie Syrien oder Irak erleben: „Wohin gedenkstu dann mein Sinn? / Ist doch Europa ganz voll Kriegen / Es ist ja wahrlich kein Gewinn / Von einem stets zum andern fliegen.“

Die Greifswalder flohen damals, als die Söldnertruppen anrückten, aufs Land. Aber auch das Land wurde nicht verschont.

„Itzt aber will die Kriegerei /Zu Fretow keinen Menschen dulden / Kein Ort ist von den Strafen frei / Die ich und du / und der verschulden.“

Es ist nur eine Auswahl von Sibyllas Gedichten, die Michael Gratz hier zusammengestellt hat, quasi als Beginn einer Wiederentdeckung. Eigentlich schon der zweiten. Denn nachdem Sibylla Schwarz im 18. Jahrhundert erstmals in Vergessenheit geriet, wurde sie im 19. das erste Mal wieder als unverwechselbare Stimme aus Pommern entdeckt. Um dann im 20. Jahrhundert wieder in Vergessenheit zu geraten. In Greifswald wirkt heute ein Sibylla Schwarz e. V., der sich um die Verstetigung der Erinnerung an die talentierte Dichterin bemüht. An ihrem Geburtshaus wird an sie erinnert. Und 2021, zu ihrem 400. Geburtstag, böte sich natürlich an, ihre überlieferten Gedichte in einer neuen Gesamtausgabe zu präsentieren.

Doch auch diese kleine Auswahl öffnet schon den Blick in Sibyllas Welt, in ein – für heutige Verhältnisse – natürlich streng normiertes Familienleben. Ob man auch ihren Liebesgefühlen nahekommt, werden zumindest die Literaturtheoretiker bezweifeln, denn die klugen, verspielten Texte, die mit Liebe, Lust und Liebesleid spielen, gehören natürlich in einen ganzen Kanon barocker Liebeslyrik, in der die Dichtenden eher ihre Kunst und Finesse im Umgang mit Vers und Wortspiel zeigten.

Aber immerhin war Sibylla 17, als sie starb. Da ist trotzdem gut möglich, dass sie sich über das Liebesleben und persönliche Erlebnisse auch auf diese Weise Gedanken machte. So wie in „Ist Lieben keusch?“. Denn natürlich waren auch Heiraten in ihrer Zeit streng geregelt. Auch Bürgermeistertöchter wurden standesgemäß verheiratet – und das hieß eher selten, nach ihrer eignen Lieb und Lust. Da war es dann schon eher eine echte Betrübnis, wenn man sich verliebte – in den Falschen zumeist.

Aber das sind natürlich alles Rätselspiele für heutige Leser, die Rätsel bleiben. Man bekommt zumindest mit, in was für einer Welt Sibylla lebte, dass sie wohl auch mehr Anregungen und Freiheiten hatte als viele ihrer Altersgenossinnen. Und dass ihre Gedichte bei all denen, denen sie sie widmete, auf Gegenliebe stießen. Was schon einmal wichtig ist. So wurden sie bewahrt über den Krieg und konnten zwölf Jahre nach ihrem Tod von einem bemerkenswerten Talent erzählen, dessen Stimme auch heute noch verstanden wird.

Mit diesem Bändchen liegt nun wieder eine kleine Auswahl vor, mit der man eintauchen kann in die Lyrik der Frühverstorbenen. Auf jeden Fall eine Freude für alle Liebhaber barocker Lyrik. Vielleicht gibt’s ja noch mehr bis zum 400. Geburtstag. Ganz vergessen ist sie auf jeden Fall in Greifswald nicht. Auch ein Roman und ein Theaterstück erinnern an das Schicksal der Bürgermeistertochter, die auf ihre Weise eindrucksvoll zeigte, dass es auch wichtige weibliche Stimmen in der deutschen Literatur dieser Zeit gab. Anrührend und klug. Ihr Grab findet man übrigens im Greifswalder Dom.

Sibylla Schwarz: Ist Lieben Lust, wer bringt dann das Beschwer?, Reinecke & Voß, Leipzig 2016, 9 Euro.

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