Diverse Bücher über Pilgerrouten und Wallfahrtsorte hat Dirk Klingner schon veröffentlicht. Mit diesem Bändchen legt er mal ein Spezialthema vor, das so speziell gar nicht ist, denn Maria scheint auch heute noch eine besondere Rolle im Kanon der Pilgerziele zu spielen. Vielleicht einfach, weil sie das ist, was viele Gläubige suchen: eine Frau und Mutter.

Denn so ist sie auf fast allen Darstellungen, in Gemälden, Votivbildern und Plastiken zu sehen. Mal als junge Mutter, die den Jesusknaben auf dem Schoß hält, mal als leidende Mutter, die den erwachsenen Sohn tot in den Armen hält. Jahrhundertelang blühte der Marienkult. Nicht nur in südlichen Ländern. Auch im kühlen deutschen Norden sind Hunderte Kirchen und Dome Maria gewidmet – auch wenn nicht immer ihr Name zu lesen ist, denn auch alle Frauenkirchen oder Liebfrauenkirchen sind ihr gewidmet. Die berühmteste steht ja bekanntlich in Dresden. Was Klingner nicht zu erwähnen vergisst. Er beschränkt sich nicht auf die noch heute lebendigen Marienwallfahrten im Süden und Westen der Republik, in Österreich, der Schweiz und Südtirol.

Wobei er natürlich all die Geschichten wiedererzählt, die er auch in seinen früheren Büchern schon erzählt hat und die viele der Legenden zu all den wundertätigen Marienbildern im 15., 16. und 17. Jahrhundert verorten, der Zeit, in der die römische Kirche ihre tiefste Krise erlebte und die religiösen Kriege den halben Kontinent verwüsteten. Eigentlich ein simpler Zusammenhang, der verständlich wird, wenn man von all den kranken, leidenden, ratlosen Menschen liest, die nach einer Lösung für ihre Kümmernisse suchten und viele neue Marienorte stifteten. Ganz so fremd ist das ja auch in heutigen politischen Zeiten nicht. Wenn das eigene Leiden keine Lösung findet, dann sucht man nach Wundern.

Oder suchen viele Menschen nach Wundern. Nicht alle. Mit rationalem Sinn lassen sich all die Marienkapellen, Wundergrotten und in sagenhaften Legenden aufgefundenen Marienbildnisse nicht erklären. Selbst beim Kleid Mariens, das im Dom zu Aachen ausgestellt wird, versagt die Ratio. Aber wallfahrtet man denn mit Ratio?

Eigentlich nicht. Wobei: Ein bisschen kann man das schon tun, denn viele der berühmten Wallfahrtsziele liegen in ausgemacht herrlichen Landschaften: Mariazell und Locarno-Orselina, das klingt schon genau nach den faszinierenden Landstrichen, in denen man auch kilometerweit zu Fuß läuft, um ein prächtiges Ziel zu erreichen. Und die Kirchen und Kapellen sind natürlich allesamt architektonische Prachtstücke, oft genug auch so gelegen, dass man immer ein schönes Ziel vor Augen hat. Nicht immer ganz so alt wie der Dom zu Aachen. Was ja wieder mit dem Gründungsmythos des jeweiligen Marienkultus zu tun hat.

Deswegen wurden die schönsten Kirchen und Kapellen ja eher im 17. und 18. Jahrhundert gebaut und reich ausgestattet: Die Wallfahrt sollte ein Erlebnis sein. 25 Wallfahrten beschreibt Klingner etwas ausführlicher. Sie alle bringen noch heute Hunderttausende Pilger auf den Weg. Ob es nach Kevelaer geht oder nach Sammarei. Dabei belässt es der Autor nicht, denn zu den 25 großen Marienwallfahrten kann er auch noch eine ganze Liste kleinerer Wallfahrtsziele auflisten, bei denen ein Marienbild eine Rolle spielt. Ein paar davon liegen auch in Ostdeutschland.

Dass es aber eigentlich auch um etwas Anderes geht, wird deutlich, wenn Klingner sich mit dem Fränkischen Marienweg beschäftigt, 2002 wiederbelebt, denn Franken ist schon seit Jahrhunderten mit Marienkirchen und -kapellen gespickt. Aber wiederbelebt heißt auch: Man wandert heute anders auf diesem Weg. Der Weg zu all den Marienorten selbst ist das Eigentliche, führt natürlich durch reizvolle Gegenden. Und man bekommt, was man ja als Großstädter fast immer sucht: Ruhe, Zeit und einen Takt, der einem wieder das Freilaufen des Kopfes ermöglicht. Maria sozusagen als Ansporn: Nun lauf mal wieder.

Was man dann auch noch auf fünf weiteren Pilgerwegen tun kann. Da verbindet sich das alte Pilgern mit dem heutigen Bedürfnis nach Bewegung und Einkehr.

Aber da muss noch ein bisschen mehr sein, was auch ganz und gar nicht gläubige Menschen an diesem Bild reizt. Denn bevor Klingner eine kurze Übersicht bietet, wie viele Marienkirchen es heute noch in allen Teilen Deutschlands gibt, geht er auf berühmte Marienbildnisse ein, die selbst wieder Pilgerziel sind – auch für Kunstinteressierte. Das berühmteste hängt in Dresden in der Gemäldegalerie: die Sixtinische Madonna. Aber auch Gemälde von Cranach und Grünewald sind dabei. Womit man wieder in jener Umbruchszeit wäre, in der die Frömmigkeit deutschlandweit neue Ausmaße annahm, weil die römische Kirche tief in der Krise steckte. Und bevor Cranach die protestantischen Lande mit Lutherbildnissen überschwemmte, kamen eine Menge andächtiger Marien aus seiner Werkstatt. Die auch deshalb bestellt wurden, weil die oft so gern bewunderten Menschen der Renaissance eine neue Beziehung suchten zu sich, zu ihrem Glauben, zu ihrem Gottesverständnis. Wahrscheinlich auch zunehmend Trost und ein Gefühl von Geborgenheit in einer Zeit, in der die alten Schranken und Grenzen zu verschwimmen und zu fallen schienen.

Da sind Menschen wohl immer gleich. Auch heute noch. Also wird wieder gepilgert und gewandert und gewallfahrtet. Man erlebt was Schönes. Und man ist mal für ein Weilchen raus aus der Tretmühle. Irgendwie versteht man das Bedürfnis sehr gut. So ganz rational betrachtet.

Dirk Klingner: Maria. Der Reiseführer, St. Benno Verlag, Leipzig 2016, 9,95 Euro.

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