Schon erholt vom Ausflug nach Bern? Jetzt machen wir es mal einfach: Diesmal geht es nach Meißen. Uwe Winkler hat die Stadt, in der Sachsen im Grunde zwei Mal (929 und 1990) geboren wurde, besucht und in einen Tag gepackt, was man sich auf Schusters Rappen so erlaufen kann. Und Meißen gehört nun einmal zum Juwelenschatz der historisch bewahrten sächsischen Städte.

Auch das sächsische Tourismus-Marketing hat Meißen eingereiht unter die 13 Städte, die man in Sachsen besuchen sollte – von den Großstädten ganz abgesehen. Es steht da neben ebenso eindrucksvollen Städten wie Torgau, Freiberg und Görlitz. Es ist schon tragisch, dass der sächsischen Regierung so partout nichts einfällt, dieses Netzwerk eindrucksvoller Städte zu stabilisieren und zukunftsfähig zu machen.

Was man sieht, ist natürlich der unendliche Fleiß, der seit 1990 investiert wurde, die alten Innenstädte wieder auf Hochglanz zu bringen und den Schmuck der Geschichte sichtbar zu machen. Und dabei begegnet man immer dem sehr konkreten Bewusstsein der Bürgerschaft, das sich selbst in Zeiten, da in Dresden der eine oder andere August regierte, nicht zuallererst über das barocke Untertanensein definierte, sondern über Handel und Wandel. Denn alle diese prächtigen Städte haben ihren Reichtum auf ganz eigene Weise erwirtschaftet, oft genug mit florierendem Handel. Auch Meißen lag an einer der wichtigen Handelsrouten. Hier befand sich über Jahrhunderte einer der wichtigsten Elbübergänge. Weswegen man dann beim Bau der Leipzig-Dresdner Eisenbahn wohl zu Recht ein wenig sauer war, als die Linie nicht über Meißen geführt wurde, sondern über Riesa. Das wirkt sich bis heute aus: Mit der S-Bahn kommt man von Leipzig zwar nach Riesa, aber nicht nach Meißen. Das ist dafür ans Dresdner S-Bahn-Netz angeschlossen und hat seit Kurzem auch endlich einen S-Bahn-Halt für die Altstadt, von wo man sowohl die Porzellanmanufaktur als auch die Altstadt erlaufen kann.

Uwe Winkler aber ist natürlich am Bahnhof Meißen ausgestiegen, denn der muss natürlich gezeigt werden. So viele Bauhaus-Bahnhöfe hat Sachsen nicht. Mal ganz abgesehen davon, dass man über den Weg über die Altstadtbrücke natürlich erst das richtige, das typische Meißen-Panorama sieht mit der Albrechtsburg und dem Dom, die alles überragen. Und die dem historisch Belesenen natürlich gleich zeigen, wohin er muss, wenn er den Anfang von allem berühren will: die Gründung der Burg Meißen im Jahr 929 durch König Heinrich I., jene Burg, mit der er seinen Anspruch auf dieses durch und durch slawische Gebiet deutlich machte.

Bekanntlich wurde sich auch noch fast 100 Jahre später drum geprügelt, so dass dann auch das viel weiter westlich gelegene Libzi endlich mal in den Chroniken auftauchte. Aber die Burg in Meißen stand – und wurde 965 zur Keimzelle der Markgrafschaft Meißen, aus der dann später das Kurfürstentum Sachsen wurde. Und eigentlich war Meißen da – im 15. Jahrhundert – auf dem besten Weg, zur Residenzstadt der Wettiner zu werden. Denn gerade deshalb ließen sie ja von ihrem berühmtesten Baumeister, von Arnold von Westfalen, die Burg zum ersten deutschen Wohnschloss umbauen. Aber dann gab es ja bekanntlich diese Leipziger Teilung, die Sachsen auseinanderfliegen ließ für alle Zeiten. Die einen Wettiner verschlug es nach Wittenberg, die anderen machten dann Dresden zu ihrer Residenz.

So dass auf dem Meißner Burgberg heute lauter nie zu Ende gebrachte Geschichten nebeneinander stehen. Nicht nur das Schloss (das später erst nach Albrecht benannt wurde), sondern auch der Dom, der eigentlich zur Grablege der Wettiner werden sollte. Der benachbarte Bischofssitz ist selbst ein Schloss. Aber selbst die Bischöfe hielten es auf dem Meißner Burgberg nicht aus – wegen der ständigen Streitereien mit den Fürsten, vermutet der Autor. Die gingen dann lieber nach Stolpen, wo sie ihre Ruhe hatten.

Man klettert also – über sehr romantische Steige, Brücken und Torhäuser – hinauf auf den Burgberg und darf oben feststellen: Es ist gar keiner da. Die Geschichte ist anderswo passiert. Außer die eine, die jeder kennt: Die gut beschützte Unterbringung des Herrn Böttcher samt der frisch gegründeten Porzellanmanufaktur des Königs, der das Geheimnis des Weißen Goldes so lang wie möglich bewahrt wissen wollte. Was ja bekanntlich nicht gelungen ist.

Was auch egal ist. Denn wertvoll ist nie das Material, sondern das, was begabte Künstler draus machen. Deswegen haben die meisten berühmten Leute, denen man auf dem Rundgang begegnet, natürlich mit der Porzellanmanufaktur zu tun, die man ganz am Ende des Rundgangs natürlich auch noch besucht – unten im Triebisch-Tal, wo sie seit dem 19. Jahrhundert steht, seit es oben auf dem Burgberg zu eng geworden war.

Muss man sich deswegen ärgern, dass man auf den Berg gestiegen ist? Nicht die Bohne. Erstens hat man von hier den schönsten Blick über die Elbe auf die berühmten Weinhänge, auf denen der Meißner Wein heranreift. Und zweitens kann man in der Domschänke lecker schmausen. Und drittens hat Uwe Winkler augenscheinlich für Musik gar nichts übrig. Denn die Stern-Combo Meißen erwähnt er mit keinem Wort. Das ist in diesem Fall: ein Loch. Denn das hat keine andere Stadt: eine Band, die ein ganzes Konzept-Album zum berühmtesten sächsischen Schatz, zum „Weißen Gold“ eingespielt hat. Und so wie den Meißner Dom hat auch keine andere Band ein solches Bauwerk besungen.

Wer raufgekommen ist, muss auch wieder runter: Beim Abstieg schließt sich dann der Rundgang durch die Altstadt. Wobei  bemerkt werden muss: Die echten Hingucker gibt’s auf dem Hinweg. Das sind das Wirtshaus „Vincenz Richter“, das Bahrmannsche Brauhaus und das Patrizierhaus „Alter Ritter“, wo man bürgerliche Wohnkultur des 17. und 18. Jahrhunderts besichtigen kann. Natürlich kommt man auch an St. Afra vorbei und darf mal kurz an Lessing denken, der sich seinerzeit an dieser Hochbegabtenschule völlig unterfordert fühlte.

Aus Leipziger Sicht vielleicht interessant, dass auch Samuel Hahnemann und Louise Otto Peters hier zu nennen sind: Sie wurden beide in Meißen geboren, gingen dann aber doch lieber in größere Städte, um ihre Visionen umzusetzen. Meißen ist – wie so manches sächsische Städtchen, im 19. Jahrhundert stecken geblieben. Die Stadtmauern hat man zwar noch niedergelegt. Aber der Kern der alten Stadt blieb intakt. Was – mit Leipziger Augen betrachtet – schon etwas Erstaunliches ist. Denn in Leipzig hat man seitdem alles schon wieder dreimal abgerissen und neu gebaut. Deswegen findet man in Meißen noch einen Marktplatz, den Canaletto gemalt haben könnte – hat er aber nicht – in Leipzig aber nicht.

Man hat also eine Menge schöner alter Geschichte an den Hacken, wenn man einmal durch Meißen gelaufen ist, hat hoffentlich auch die opulente Gastlichkeit genossen und sich mit Wein versehen, bevor man wieder zurück muss in die große Stadt. Vorsicht: Es kann passieren, dass die Armbanduhr nachher falsch geht, weil sie sich am geruhsameren Meißner Tempo berauscht hat und jetzt gern noch ein Weilchen langsamer laufen möchte. Aber in der Regel gibt sie nach einer Woche seufzend zu, dass sie in Leipzig doch etwas schneller eilen muss. Sonst scheppert’s und ein beleidigter Autofahrer brüllt wieder: „Kannste nich uffpassen? Kommst woll aus Meißen?“

Was dann wohl einer der Gründe dafür ist, dass derzeit in Sachsen so gut wie nichts mehr zueinander passt.

Aber das juckt ja den Städtereisenden nicht, wenn er die Kleinode im Land besucht.

Uwe Winkler Meißen an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2016, 4,95 Euro.

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