Für Freikäufer Es gibt Orte in Deutschland, die sind einfach da. Und erst wenn einem wieder so ein handlicher Stadtführer vor Augen kommt, sagt man sich: Na hoppla, da war ich aber auch noch nicht, das wird jetzt aber mal Zeit. Immerhin ist es Barlachstadt. Ein Schloss hat es auch. Und Uwe Johnson war auch da. Je kleiner die Städtchen, umso mehr Berühmtheiten, könnte man sagen.

Aber das täuscht ein bisschen. Der Fokus ändert sich, wenn man sich zu Fuß auf den Weg macht, so ein altes Residenzstädtchen zu erkunden, gegründet vor fast 800 Jahren von einem Wendenfürsten mit dem einprägsamen Namen Heinrich Borwin II. Benannt hat er den Ort nach seinem Lieblingsstier Gustl. Der kommt im Wappen noch immer vor. … Quatsch, jetzt geht die Phantasie mit uns durch. Der Name stamme aus dem Altpolabischen, verrät Wikipedia und es stecke guščer, die Eidechse drin. Den Stier haben sich die Güstrower dann später erst wegen seiner Stärke und Lebenskraft ins Wappen geholt, erzählt Christina Meinhardt, die das 30.000-Einwohner-Städtchen hier fußläufig erkundet hat. Geht ja schnell, denkt der Unerfahrene.

Der Unerfahrene zieht immer das falsche Schuhwerk an, weil wir heutigentags das Selberlaufen fast verlernt haben. Wo immer ein automobiler Untersatz auftaucht, lassen wir uns kutschieren. Ergebnis: Rückbildung wichtiger Fähigkeiten wie die der Kunst des Flanierens, Schlenderns, Spazierens, Schreitens und Wandelns. Das muss geübt sein. Sonst geht es einem wie Christina Meinhardt auf Seite 45 und man stürzt überglücklich in die Apotheke in der Mühlenstraße, um sich eine große Packung Wundpflaster zu besorgen, um die beim Stadtrundgang wundgescheuerten Fersen zu versorgen.

Vielleicht waren es ja doch die Schuhe. Dabei war der Ort wichtig! Ein weltgeschichtlicher Ort! Denn 1712 trafen sich hier in der Mühlenstraße 1 Peter der Große, August der Starke und der schwedische General Steenbock, um Waffenstillstand und Frieden zu verhandeln und damit den Großen Nordischen Krieg zu beenden. Eigentlich hätte statt des Generals König Karl XII. von Schweden dabei sein müssen. Aber der saß seit drei Jahren im Osmanischen Reich fest, wohin er sich geflüchtet hatte, nachdem er in Russland erlebt hatte, was später auch Napoleon und Hitler erleben sollten. Auf eigenem Grund sind die Russen nicht zu schlagen. Das riesige Land verschlingt die Eroberer. Und damit war Karls Traum von der Beherrschung der Baltischen See erledigt – und damit der von der Supermacht Schweden.

Was in Güstrow, das 1712 einem Heerlager glich, festgestellt und besiegelt wurde. Auch zur Freude des starken August aus Sachsen, der fünf Jahre vorher noch so deprimierend gegen den schwedischen König verloren hatte und die Altranstädter Konvention akzeptieren musste. Mit Peter dem Großen hatte er sich dann doch mal den richtigen Freund gesucht. Was eigentlich eine Lehre für die Gegenwart sein sollte: Mit Russland ist man besser in Frieden als im Krieg. Aber wem sagt man das in den Oberkommandos der Gegenwart?

Man lernt also was in Güstrow, auch wenn man das dort noch nicht zu einem eigenständigen Friedensmuseum gemacht hat, in dem das jüngere Volk mal was erfahren kann über die sensiblen Läufe der Geschichte – so wie in Münster oder Potsdam. Wo bleibt eigentlich der Städtebund der Friedensschlüsse? Warum kommt keiner auf die Idee, so etwas mal zu gründen?

Güstrow stünde so eine Mitgliedschaft gut. Auch wegen Ernst Barlach, der sich die Stadt an der Nebel bewusst aussuchte, um hier zu leben und zu arbeiten. Heute gibt es gleich drei Barlach-Museen in Güstrow. Nirgendwo anders kann man das Werk dieses einzigartigen Bildhauers in dieser Fülle besichtigen – ob im Dom, wo sein berühmter „Der Schwebende“ die Leichtigkeit des Fliegens genießt, ob in der Gertrudenkapelle, wo die erste Barlach-Ausstellung entstand, oder dann weiter draußen – als Nr. 31 gerade noch so im Plan – wo die Ernst Barlach Stiftung Güstrow seine letzte Schaffensstation zum Museum gemacht hat.

Da hat man also schon zwei gute Gründe, um mal mach Güstrow zu fahren. Christina Meinhardt liefert noch mehr – denn mit dem Schloss hat Güstrow natürlich auch ein hübsches Residenzschloss aufzubieten, mit dem man ein wenig erfahren kann, wie Mecklenburger Herzöge so in der Renaissance präsentieren wollten, in Zeiten, als Mecklenburg eher etwas abseits der großen deutschen Geschichte lag. Ergebnis sind trotzdem recht eindrucksvolle Schlösser wie die in Schwerin oder eben Güstrow. Wobei in Güstrow auch zu besichtigen ist, wie der Fürst versuchte, auch sein Residenzstädtchen auf kulturellen Vordermann zu bringen. Deswegen haben die Güstrower etwas, was auf diese Weise einzigartig ist: Nicht nur ein klassizistisch überformtes Rathaus, sondern gleich ganze Häuserzeilen am Markt in klassizistischer Fassadengestaltung. Nur Goethe war nicht hier. Sonst hätte einer eine Gedenktafel angebracht.

Dafür war einer da, an den auch die Leipziger viel zu selten denken: Uwe Johnson, der Schriftsteller, der in Güstrow zur Schule ging, in Leipzig studierte und dann doch lieber in den Westen ging, als seine Art zu Schreiben nicht ins staatlich verordnete Raster passte. Solche Sternschnuppendurchgänge werden in einer Stadt wie Güstrow natürlich registriert – eine Johnson-Stele erinnert vor dem Gymnasium, wo er lernte, an ihn.

An John Brinckmann erinnert auch eine Stele. Brinckmann war einer der beliebtesten Mundartdichter. Fuchs und Igel erinnern am Brunnen an seine Novelle „Voß un Swinegel“, darüber wacht die Stele mit dem Medaillon des Dichters, der sich seine Brötchen als Lehrer verdiente. Man stolpert in der kleinen biografischen Glosse am Rand über sein Engagement in der Reformbewegung von 1848. Natürlich zu Recht, denn eigentlich war 1848 ja Revolution.

Nur in Mecklenburg nicht ganz so dolle wie – sagen wir mal – in Berlin. Der erste mecklenburgische Reformtag fand übrigens in Güstrow statt. Und dort saßen gleich zwei Mundartdichter mit drin – auch Fritz Reuter kam deshalb nach Güstrow. Nur dass Reuter schon zu Lebzeiten Erfolg hatte, Binckmann erst nach seinem Tod nach einer langen, tatkräftigen Lehrerlaufbahn.

Man versteht schon, warum die Autorin nach der großen Runde rund um die Güstrower Altstadt und die Wallanlagen schmerzende Füße hatte. Wer sich solche Touren vornimmt, muss in Übung sein. Oder nimmt sich doch lieber mehr Zeit, gerade dann, wenn sich die Besichtigung von Schloss, Stadtmuseum, Galerien und Barlach-Erinnerungsstätten unbedingt lohnt. So sehr, dass man sich – schmerzenden Fußes – für den Weg zur letzten Station am Inselsee doch lieber ein Taxi nimmt. Fahrräder zum Ausleihen standen zumindest bei diesem Rundgang nirgendwo herum. Wobei wir beim Schmöken auf der Seite von Güstrow-Tourist einen nicht unerfreulichen Hinweis gefunden haben: Es gibt in Güstrow eine E-Bike-Vermietung.
Christina Meinhardt Güstrow an einem Tag, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2017, 5 Euro.

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