Im Frühjahr präsentierte der Lychatz Verlag schon sein großes Rübezahl-Buch, mit dem der alte, verwandlungsfähige Berggeist aus dem Riesengebirge endlich wieder einen Platz in unserer Erinnerung bekommen soll. Ganz weg war er nie. Aber einige Ausgaben waren wirklich schon ganz schön angejahrt. Der Leipziger Autor Thomas Bachmann hat ja geholfen, die Rübezahl-Geschichten zu übersetzen.

Sie verlieren dabei nicht mal an Farbe, nur an Umständlichkeit. Und das, obwohl der Lychatz Verlag mit der Insel-Ausgabe von 1920 ja sogar eine recht moderne Version der Rübezahl-Legenden gewählt hat. Aber gerade das zeigt, wie stark sich auch unser Sprech- und Leseverständnis in diesen knapp 100 Jahren geändert hat. Nur noch die schlimmsten Großautoren versuchen ihre Leser damit zu beeindrucken, dass sie in langen Schachtelsätzen und mit übertriebener Rhetorik versuchen, den Lesern ihre Geschichte in den Kopf zu ziselieren.

Aber Erzählen geht anders. Thomas Bachmann hat schon mehrfach dafür plädiert, einander auch wieder Geschichten zu erzählen. Auch dieses Buch ist so ein Plädoyer. Denn die Rübezahl-Geschichten bettet er hier ein in eine Geschichte, in der es ums Erzählen und Zuhören geht. Ein wenig versetzt in eine eigentlich schon vergangene Welt, als Menschen noch wanderten, wenn ihnen danach war, und manchmal auch an die Häuser anderer Menschen unterwegs klopften, um ein Obdach zu erbitten.

Also ungefähr wie zur Zeit Wilhelm Hauffs, der mit dem „Wirtshaus im Spessart“ ja ein ähnliches Erzählschema wählte, um mehrere seiner berühmten Märchen in eine Rahmenhandlung einzubetten, die selbst wieder Erzählwert hat. Das ganz große Vorbild sind ja bekanntlich die „Märchen aus tausendundeiner Nacht“. Ähnlich berühmt ist Boccaccios „Dekamerone“.

Bachmann lässt seinen Wanderer ans Haus einer jungen Witwe klopfen, deren Mann im jüngsten Krieg verschwunden ist. Es ist eher egal, welcher Krieg das gewesen sein könnte. Es gibt genug Kriege, die die Männer fressen und Frauen mit ihren Kindern allein lassen. Aber es wird nicht einmal eine bedrohliche Situation, eher eine märchenhafte, denn die beiden schauen sich in die Augen und verstehen sich. Was vorkommen soll, wenn sich Menschen wirklich freundlich in die Augen schauen. Was ja bekanntlich kaum noch geschieht. Oder wann haben Sie das letzte Mal jemandem wirklich in die Augen geschaut? Das macht man nämlich nicht mehr. Das wird zu schnell intim oder emotional.

In Bachmanns Geschichte schwingt das immer mit. Immerhin wird der Wanderer jetzt für drei Tage zum Mitglied der kleinen Familie. Er bekommt das gewünschte Nachtlager, er bekommt sogar ein Festessen vorgesetzt. Und alle drei, die Frau und die beiden neugierigen Kinder, lauschen dem Mann, als er beginnt, sein Obdach mit Geschichten von Rübezahl zu bezahlen. Es muss also in einer Zeit weit vor unserer spielen, als Kinder noch nicht zu Sklaven von Fernsehern und Smartphones geworden sind. Als alle noch Zeit hatten nach getanem Tagwerk, sich zueinanderzusetzen und einander Geschichten zu erzählen. Als Wanderer noch Geschichtenbringer waren.

So wie in vielen Rübezahl-Geschichten selbst, denn in vielen ist auch ihre Herkunft eingeschrieben, beginnt der unbekannte Erzähler damit zu erzählen, von wem er die Geschichte gehört hat. Einige Geschichten im Insel-Bändchen von 1920 stammen ja sogar direkt aus Leipziger Quellen, werden auf die Berichte von Kaufleuten und Handlungsreisenden, Gesellen und anderen Wandersleuten zurückgeführt, die ihre Reisen über das Riesengebirge gemacht haben.

Man reiste anders, erlebte die rauen Wege über die Berge anders. Und man kehrte öfters ein zum Übernachten, wo man mit anderen Fahrensleuten zusammenkam. Es steckt also auch noch dieses grenzenlose Moment in der Geschichte, der Drang des Wanderers, alle Straßen zu gehen, die sich vor ihm auftun. Deswegen kann er nicht bleiben, was eigentlich klar ist und trotzdem etwas Schwermütiges über die drei gastfreundlichen Tage breitet. Denn die Mutter der Kinder ist so aufmerksam, dass man meint: Gleich muss sie es aussprechen, dass er dableiben soll.

Denn augenscheinlich ist er kein Raubein und kein Holzklotz, sondern einer, der nachdenkt über seinen Weg durchs Leben. Und der auch in den Rübezahl-Geschichten mehr sieht als nur hübsche Anekdoten über einen Berggeist, der zaubern kann, der die Leute gern neckt und Falschheit gern bestraft. Deswegen leben die Geschichten fort. Es steckt viel Volkswitz darin, aber auch so manche derbe Weisheit aus dem Leben, so manche Erfahrung, die einen klüger machen sollte.

Auch wenn nicht jeder klüger wird. Wobei das ein nicht unwichtiger Punkt ist. Denn obwohl augenscheinlich die Rübezahl-Geschichten weitverbreitet sind und die Bewohner des Umlands die Reisenden gern warnen vor dem Geist der Berge, scheinen einige dennoch in immer neuer Respektlosigkeit die Probe aufs Exempel machen zu wollen. Und das wirkt doch erstaunlich modern. Erinnert an heutige Trickbetrüger, Maulhelden und Rosstäuscher. Lauter Typen, die das Raubein aus den Bergen so gar nicht mag.

Und die meistens ohne Strafe davonkommen. Nur bei Rübezahl nicht. Da setzt es schon mal Prügel. Aber nie ohne Grund. Es steckt also ein Stück Volksweisheit und Volkserfahrung darin. So wie im Faust, der auch seine Erwähnung findet. Der erzählfreudige Wanderer ist hier ganz und gar keinen Hinterwäldlern begegnet, sondern zwei überaus klugen und neugierigen Kindern. Was die Geschichte auch wieder gegenwärtig klingen lässt. So klug können Kinder sein, wenn man sie ernst nimmt und ihnen erzählt und ihnen zuhört. Und sie eben nicht vor dem Fernseher ruhigstellt.

Es ist ein sehr warmherziges Plädoyer – fürs Wandern, fürs Erzählen und für das Ernstnehmen von Kindern. Auch wenn der Wanderer weiß, dass es ihn weitertreibt, dass er nicht aushält nicht zu wissen, was am Ende der Straße ist. Also auch ein kleines Plädoyer für offene Grenzen. Und für die Achtung anderer Reisender, die man unterwegs trifft. Auch das wird thematisiert.

Und das so selbstverständlich, wie es zu Wilhelm Hauffs Zeiten noch selbstverständlich war, als viele „heimatlose Gesellen“ auf Europas Straßen unterwegs waren und so nebenbei auch noch die Nachrichten und Geschichten durch die Länder trugen. Etwas, was erst die Idee verschlossener Nationalstaaten beendete. Mit gravierenden Folgen bis heute.

Es ist also tatsächlich en bisschen wie bei Wilhelm Hauff: Die Rahmengeschichte korrespondiert mit den erzählten kleinen Rübezahl-Geschichten. Beides schwingt miteinander und taucht zumindest den Leser oder die Leserin für eine Weile in eine schöne Zwischenstimmung, in der man mal wieder weiß, dass nichts wirklich drängt, dass man eigentlich Zeit hat, die Welt zu beschauen. Und dass auch Erzählen keine „vergeudete“ Zeit ist. Im Gegenteil.

Und Abschiednehmen fällt leichter, wenn man noch ein paar Geschichten zurücklässt. „Eine noch“, ist die Devise. Kluge Eltern kennen sie und wissen, wie aufregend das Geschichtenerzählen für Kinder sein kann. Ab und zu ein „Zeige mal!“ dazwischen für die Bilder von Hetty Krist. Und dann schläft es sich besser, wenn man weiß: Morgen gibt es wieder – mindestens – eine Geschichte.

Thomas Bachmann Rübezahl, Lychatz Verlag, Leipzig 2018,12,95 Euro.

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