2005 schockte der Hallenser Psychiater und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz nicht nur Kollegen und Feministinnen mit seinem Buch „Der Lilith-Komplex. Die dunklen Seiten der Mütterlichkeit“. Seither ließ er Bücher wie „Die Liebesfalle“ (2007) oder „Die narzisstische Gesellschaft“ (2012) folgen. Und dann kamen irgendwie Pegida, AfD und Chemnitz und Maaz wurde medial quasi zum Psychologen der wütenden Ostdeutschen. Aber woher kommt dann diese Renitenz? Es hat sichtlich eine Menge mit Lilith zu tun. Oder besser dem Gegenteil: dem Lilith-Komplex.

Denn bevor Maaz diese biblische Vorläuferin von Adams Eva entdeckte und zur Namensgeberin eines psychopathologischen Komplexes analog zum Freudschen Ödipus-Komplex machte, war Lilith gerade in der feministischen Bewegung eine mythologische Lichtgestalt, der selbstbewusste Gegenentwurf zur braven Eva, die alles tut, um ihren Adam glücklich zu machen und gleichzeitig noch schamhaft die Schuld für die Ursünde auf sich nimmt.

Lilith war schon vorher aus dem Paradies verwiesen worden, weil sie eine gleichberechtigte Partnerschaft und selbstbestimmten Sex haben wollte. So jedenfalls kann man die Spuren dieser Legende interpretieren, in der sich nun einmal auch menschliches Wissen darum bündelt, dass Frauen in der Eva-Rolle quasi zum Objekt degradiert sind – zum Liebesobjekt, aber auch zum Objekt von Politik und Gesetzgebung. In den alten Mythen spiegelt sich die menschliche Wirklichkeit. Und in der Vertreibung Liliths steckt auch der Triumph des Patriarchats, das heute so mächtig in die Krise geraten ist. Was eine Menge mit dem zu tun hat, was nicht nur in Ostdeutschland gerade passiert.

Es gibt noch das dritte biblische Frauenbild, das Frauen geradezu zur bedürfnislosen Mutter ohne jegliche Sex-Ambitionen macht: Maria.

Aber bei Lilith geht es nicht nur um Sex oder Selbstbestimmung oder gar Selbstverwirklichung und Karriere. Auch Ingeborg Szöllösi tastet sich mit ihren Fragen behutsam vor, weil der von Maaz beschriebene Lilith-Komplex zuallererst als Mutterversagen interpretiert wurde. Also irgendwie nach dem Motto: Und immer sind die Mütter schuld!

Aber darum ging es Maaz gar nicht, der in seiner langjährigen Arbeit immer wieder mit Menschen zu tun hatte, deren aktuelle Leiden ihre Wurzeln tief in der Kindheit haben, oft in den ersten drei Jahren, in denen die Grundlagen der Persönlichkeit entstehen und in denen die Mutter nun einmal die Hauptbezugsperson des Kindes ist. Es ist eine Phase, in der das Kind Vertrauen lernt – in engster Interaktion mit der Mutter. Was dabei schiefgehen kann, merken die erwachsenen Kinder meist erst, wenn sie darunter psychisch oder körperlich leiden, wenn ihre tiefsten Ängste auf einmal aktiviert werden und sie dem hilflos gegenüberstehen.

Und es sieht so aus, dass das sehr vielen Menschen so geht. Aber: Sind wirklich die Mütter schuld?

Nein, betont Maaz immer wieder, denn beharrlich fragt Szöllösi nach, weil eben in unserer Gesellschaft tatsächlich nur zwei Frauen-Bilder als „normal“ gelten: Eva und Maria. Selbst die Familienpolitik ist auf diese Bilder hin ausgerichtet. Lilith kommt nicht vor, Lilith, die Maaz – in enger Anlehnung an die Legende – auch als eine Frau interpretiert, die zu ihren Bedürfnissen und Beschränkungen steht. Die sich nicht verleugnet und eben nicht nur Adam klarmacht, dass sie eigene Wünsche hat, eigene Gefühle – und die sind nicht immer marienhaft oder mütterlich. Auch nicht in der Mutterschaft.

Doch wir leben auch in einer Gesellschaft, die diese Widersprüche gern ignoriert, die von Frauen erwartet, dass sie nicht nur gute Mütter sind, sondern geradezu perfekte, die nicht nur die Kinder kriegen und den Haushalt schmeißen, sondern auch noch beruflich Karriere machen und mit Männern um die Spitzenpositionen in Politik und Wirtschaft rangeln (während sie ihrem Adam zu Hause jeden Wunsch von den Hundeaugen ablesen).

Das muss schiefgehen, sagt Maaz zwar nicht, aber es wird deutlich, wenn er Szöllösi immer wieder zurückführt auf die Ergebnisse seiner jahrelangen Arbeit, die ja bekanntlich schon 1990 in den Erfolgstitel „Der Gefühlsstau“ mündete.

Und mit dem Lilith-Komplex merkt man: Das gehört alles zusammen. Denn wenn Mütter in ihrem (oft genug verzweifelten) Bemühen, für Kind und Mann die perfekte Mutter zu sein, auch ihre eigenen Bedürfnisse verdrängen und sich ganz Kind und Familie „opfern“, dann entsteht ein Gefühlsschema auch beim Kind, das in zahlreiche pathologische Verhaltensweisen führt.

Töchter übernehmen das falsche Bild der perfekten Mutter und versuchen ihren Kindern ebenfalls wieder „perfekt“ zu sein, Männer werden zu Mutter-Söhnen und versuchen mit aller Macht, ihre Defizite in frühkindlicher Anerkennung durch Leistungen zu kompensieren, um so irgendwie doch noch das Gefühl zu bekommen, anerkannt und geliebt zu sein. Als müsste man Liebe und Vertrauen erst erkämpfen, weil man sie im Kleinkindalter nicht bedingungslos bekommen hat.

Nur nutzt das alles nichts. Egal, was Männer dann anstellen, über wie viel Leichen sie gehen, um sich zu beweisen – sie können das eigentliche Bedürfnis, das in der Kindheit unerfüllt blieb, nicht befriedigen. Selbst dann, wenn sie sich von Frauen wieder bemuttern lassen. Es nutzt nichts.

Und es liegt nicht – so Maaz – an zu wenig Liebe, sondern an der unterdrückten Lilith, daran, dass Frauen, die ihre elementarsten Wünsche und Bedürfnisse verdrängen, ihren Kindern falsche Botschaften vermitteln. Gerade weil Kleinkinder zuallererst körperlich kommunizieren – manchmal auch sehr laut. Maaz ist sich sicher, dass Babys sehr genau mitbekommen, wenn das Verhalten der Mutter nicht zu dem passt, was sie fühlt. Was auch dann weitergeht, wenn es darum geht, dem Kind Grenzen zu setzen und Regeln beizubringen, wovor augenscheinlich manche Eltern zurückschrecken, weil sie den oft lautstarken Widerstand des Kindes fürchten. Obwohl Kinder genau das brauchen: Das Erleben klarer Regeln durch ein klares „Nein“. Sie brauchen den Widerstand. Erst so werden sie von der riesigen Unsicherheit befreit, immerfort herausfinden zu müssen, was man darf und wo man Menschen verletzt.

Die Lösung ist nicht die „perfekte Mutter“, stellt Maaz fest, sondern eine Mutter, die auch dem Kind gegenüber ehrlich ist. Zu sich selbst erst recht, damit geht es ja los. Überforderungen muss man auch benennen. Und wenn man Hilfe braucht, muss man sie suchen. Kein Mensch, so Maaz, ist in der Lage, die Kindererziehung ganz allein zu bewältigen. Weshalb natürlich gerade Alleinerziehende hier die größte Last zu schultern haben.

Und das Kind verliert nicht Vertrauen, wenn Mütter offener zu ihm sind und ihre eigenen Grenzen benennen. Gerade so lernen Kinder ja, dass auch ihre Eltern Zeiten der Überforderung haben, Dinge nicht wollen, eine Pause brauchen. Aber mit ihrem Vortasten kommt Szöllösi auch in Bereiche, an denen die Frage steht: Was richtet so ein falsches Bild von perfekter Mutterschaft eigentlich an in unserer Gesellschaft? Nicht nur mit den Töchtern, die das falsche Bild von Mutterschaft übernehmen, sondern auch mit den Söhnen, die nicht gelernt haben, wo die Grenzen sind?

Die eher mit dem Gefühl ins Leben gehen, dass sie an ihrer Mutter unendlich viel gutzumachen haben, und trotzdem ihr Leben lang im Zweifel sind, ob sie tatsächlich angenommen werden. Ob es reicht. Denn die widersprüchlichen Botschaften der Mutter, die ihre eigenen Bedürfnisse nicht artikuliert, kommen ja beim Kleinkind als Botschaft an: Da ist kein Vertrauen, du wirst eben nicht so angenommen, wie du bist.

Das Ergebnis ist eine maßlose Gesellschaft, sagt Maaz, der sehr wohl unseren falschen Umgang mit Kleinkindern als Ursache für gesellschaftliche Verwerfungen sieht. Denn wenn Menschen aus ihrer Kindheit kein Urvertrauen mitbringen, entsteht ein maßloser Hunger, sich irgendwie bestätigt zu fühlen. „Begrenzung zu leben und zu lehren, ist die wichtigste Grundlage für eine humane Gesellschaft, für zivilisiertes Leben“, sagt er. „Dagegen führt eine unbegrenzte Wachstums- und Leistungsgesellschaft in vorzeitige und unnötige Begrenzung durch Überforderung und Folgen der Süchtigkeit.“

Aus dem Gefühl fehlenden Geliebtseins wird eine Welt der Maßlosigkeit, des nie befriedigten Verlangens nach immer mehr und der um sich greifenden Süchte. Denn wer nicht in sich ruht und wem das Grundvertrauen fehlt in sein Dasein, der sucht sich immer neue Ablenkung. Aus Therapeutensicht: um nur ja den tief verwurzelten Ängsten und Schmerzen zu begegnen, die auftauchen, wenn man sich dessen bewusst wird, was einem im Leben eigentlich fehlt.

Was natürlich bedeutet: Unsere Wachstums-Ökonomie ist pathologisch. Sie zerstört nicht nur unsere Welt, vernichtet die Ressourcen, die unsere Kinder und Enkel dringend brauchen. Sie zerstört auch unsere Gesellschaft. Denn Menschen, die sich selbst nicht akzeptiert fühlen, die kein Vertrauen haben, dass ihnen (als Mensch) nichts passieren kann, die kehren ihre Ängste und Aggressionen nach außen.

Einerseits in einem rücksichtslosen Wettbewerb, in dem die anderen nur noch als Gefahr und Störenfried betrachtet werden und niedergerungen werden müssen, andererseits mit einer irrationalen Angst, von anderen verdrängt und untergebuttert zu werden. Einer Angst, die sich ebenfalls in Aggressionen entlädt – gegen Andersdenkende, Ausländer, Frauen … Denn das Urmotiv ist immer der Wunsch des Kindes, so angenommen zu werden, wie es ist.

Und da kommt Maaz eben auch auf Aspekte zu sprechen, die das Mütterliche und das Väterliche in der gesellschaftlichen Dimension zeigen. Denn was wir in der „kleinsten Zelle der Gesellschaft“, der Familie, erlebt haben, das setzen wir auch im Großen um. Bis hin zur Umsetzung eines falschen Mutterbildes. Angela Merkel bietet sich ja geradezu an für das falsche „Mutti“-Bild einiger Ostdeutscher.

Denn in ihr verwirklicht sich die Sehnsucht nach der Mutter, deren Liebe auf keine Weise zu erlangen ist, die auch auf bewundernswerte Weise vermag, nicht zu kommunizieren, wenn sie spricht. Sie ist einfach nicht da. Und nicht mal ihre eigenen Anhänger haben das Gefühl, dass sie wirklich mit ihnen redet und sie tatsächlich mütterlich versteht und annimmt.

Es scheint ein echtes ostdeutsches Problem zu sein. Ist es aber wohl nur bedingt, auch wenn dieses Bild der unerreichbaren und nicht-annehmenden Mutter im Osten wohl vielen Leuten nur zu vertraut sein dürfte – eine Muter, die nie über ihre eigenen Gefühle, Wünsche und Grenzen spricht.

Und damit ist Angela Merkel ja nicht allein. Das ganze Parteiensystem ist so gestrickt, stellt Maaz fest, dass Menschen mit riesigen Vertrauensdefiziten gerade deshalb darin landen, weil man hier um Anerkennung kämpfen kann. Einer Anerkennung, die am Ende nicht befriedigt, weshalb gerade die narzisstischen Persönlichkeiten weit übers Ziel hinausschießen. Man ahnt ja regelrecht, wie sie nach absoluter Anerkennung schreien – aber die bekommen sie nicht.

„Mütterliche Politik entsteht aus Mitgefühl und Empathie – da kann kein Einzelner, keine soziale Gruppe, keine Kreatur vergessen, die Natur nicht vernachlässigt, ausgebeutet und geschändet werden“, sagt Maaz. „Eine von Mütterlichkeit getragene Politik wäre konsensorientiert und würde das trickreiche, intrigante und korruptionsgefährdete Machtspiel um Mehrheiten verlassen.“

Aber dazu braucht es großes Selbstvertrauen, Erwachsene also, die nicht die Verluste ihrer Kindheit durch das Darstellen des Machers und Durchsetzers zu kompensieren versuchen. Doch was wir bekommen, ist keine verantwortliche und schützende Politik, sondern das Gegenteil. „So erleben wir es in den immer peinlicher werdenden Wahlkämpfen, dass eigene Positionen nur noch in Schlagworten und Phrasen vertreten werden, dagegen aber der politische Gegner herabgewürdigt und lächerlich gemacht wird. „Das ist Machtpopulismus“, sagt Maaz. Und wenig später noch deutlicher: „Mütterliche Politik und Kultur wäre ganzheitlich, systemisch, integrierend und zukunftsorientiert. Unsere Politik ist egoistisch, profitorientiert, konkurrierend, ausgrenzend, spaltend und auf Machterhalt orientiert.“

Was ja logischerweise heißt, dass natürlich all jene Menschen (nicht nur in Ostdeutschland), die eh schon fürchten, am (Familien-)Tisch keinen Platz mehr zu finden, berechtigte Ängste haben, ausgegrenzt und aus der Gemeinschaft vertrieben zu werden. Da merkt man eigentlich, welche Funktionen Begriffe wie Volk und Nation auf einmal übernehmen – als Ersatzkonstrukt einer in Wirklichkeit nicht existierenden Gemeinschaft. In einer Konkurrenzgesellschaft gibt es keine Gemeinschaft. Und ein Politikangebot, das das ganze Land wieder zu einem gemeinsamen Projekt machen würde, in dem alle mit ihren grundlegenden Bedürfnissen akzeptiert und angenommen wären, ist nicht in Sicht.

Und gerade weil Angela Merkel „nicht gut mütterlich ist, ähnelt sie vielen Müttern und deshalb bietet sie eine Projektionsfläche für unerfüllte Bedürfnisse und Sehnsüchte. Die Paradoxie liegt darin, dass sie die Unerfüllbarkeit geradezu garantiert, deshalb kann sie mit Phantasie verehrt werden. Würde sie wirklich gut mütterlich sein, wäre sie eine Bedrohung für die schmerzliche Erkenntnis des erlittenen Defizits.“

Wir haben lauter Politiker, die nie von sich und ihren eigenen Bedürfnissen und Ängsten sprechen. Selbst dann nicht, wenn sie weihevoll „Ich“ sagen. Aber wer seine menschlichsten Gefühle abspaltet, der handelt nicht mehr verantwortlich. Denn er weiß ja nicht, was er anrichtet und wen er alles verletzt. Ganz abgesehen davon, dass die ungelebten Gefühle sich ja in Aggressionen verwandeln und sich immer gegen andere und Schwächere richten.

Wer die Verletzungen abkapselt merkt nicht mehr, wie unsere Lebensform die Welt zerstört und wie es unsere Lebensform ist, die „Ausbeutung, Kriege um Ressourcen und Absatzmärkte, unfairen Handel, Umweltzerstörung und Klimawandel“ erzeugt. Unsere Unfähigkeit, uns geliebt und verstanden zu fühlen, wird zum maßlosen Hunger, diese Leere irgendwie zu füllen.

Deswegen sind wir so besessen vom „Wachstum“ und finden keine Ruhe in uns und unseren Beziehungen, wo oft genug selbst nur Neid, Eifersucht, Konkurrenz dominieren.

Mit dem „Gefühlsstau“ hatte Maaz schon seine Erfahrungen aus dem ganz und gar nicht mütterlichen Staat DDR bilanziert, mit dem Lilith-Komplex hält er auch unserer jetzigen Gesellschaft den Spiegel vor. Aber man darf auch nicht überlesen, wie Maaz immer wieder beharrlich erklärt, dass man zwar die erlittenen Verletzungen nicht kurieren kann – aber man kann die Ängste aufarbeiten und lernen, sie zu akzeptieren. Denn Unheil richten sie überall dort an, wo sie krampfhaft unter der Decke gehalten werden.

Nur ja nicht zugestehen, dass Frauen und Männer Fehler machen, wenn sie Kinder erziehen, dass sie in Konflikte mit ihren ureigensten Wünschen geraten. Kinder sind, das stellt Maaz auch fest, nun einmal maßlos. Das Maß und die Begrenzung lernen sie nur im Wechselspiel mit ihren Eltern und sie akzeptieren es, wenn sie ihre Eltern als begrenzt und überfordert erleben – wenn es denn ausgesprochen wird und nicht alle so tun, als wären sie Heilige aus der Bibel, die alles verzeihen und alles verstehen und vor lauter Liebe überfließen. Nur ihr eigenes Leben leben sie nicht.

Und deshalb – so erzählt es jedenfalls Maaz – sind viele Mütter erleichtert, wenn sie ihm tatsächlich zuhören. Denn es ist eine Last, die niemand tragen kann, eine immerfort perfekte Mutter ohne Bedürfnisse zu sein.

Hans-Joachim Maaz; Ingeborg Szöllösi Keine Mutter ist perfekt, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2019, 12 Euro.

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