Unsere Demokratie ist kaputt. Auch wenn smarte Kommentatoren es gern so drehen, dass eher all die in Studien befragten Deutschen als undankbar dastehen, die sagen, dass sie Demokratie zwar toll finden, die Demokratie aber, wie sie sie heute in Deutschland erleben, für inakzeptabel halten. Und wenn es nur ein Bauchgefühl ist. Denn die politische Bildung in unseren Schulen ist eine Katastrophe. Herbert Storn erklärt, warum das so ist.

Er selbst bezeichnet sich als Alt-68er und hat seine Erfahrungen in jahrelanger Arbeit als Berufsschullehrer in Frankfurt gesammelt, kennt also die Verhältnisse im hessischen Bildungssystem. Aber was er zu erzählen weiß, ähnelt dem, was im sächsischen Bildungssystem vor sich geht, wie ein Ei dem anderen. Auch hier ist politische Bildung ein ungeliebtes Kind einer Regierung, die nicht wirklich Wert darauf legt, dass die nachwachsenden Generationen zu richtigen Demokraten werden, die das Engagement in der Demokratie gar ernst nehmen und alte Machtpfründe infrage stellen.

Lieber hat man Wählerinnen und Wähler, die das, was hinter den Programmen der Parteien steckt, genauso wenig wissen wollen wie die Wahlbürger in der DDR. Kreuzchen machen, reinstecken, vergessen. Und dann vier oder fünf Jahre nur noch frustriert sind, weil ganz unübersehbar das, was sie an Politik bekommen, nichts, aber auch gar nichts mit den Versprechen zu tun hat, die ihnen im Wahlkampf gegeben wurden.

Und die Wähler sind ja nicht blind. Der Widerspruch zwischen Plakat und Realität wird in immer mehr zunehmender Wahlmüdigkeit sichtbar – und in immer mehr Trotzwahlverhalten. Denn wenn man für seine Wahlentscheidung immer wieder dieselbe schlechte Politik bekommt, die mit den eigenen Problemen so überhaupt nichts zu tun hat, bleibt irgendwann nur noch der Trotz. Dann öffnen sich die Tore für populistische und nationalistische Parteien, die Grenzen und diktatorische Vollmachten wieder als Allheilmittel anpreisen, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.

Aber was läuft da wirklich schief?

Eigentlich braucht es dafür keine große Lektüre, muss man nicht einmal die fetten Bücher von Karl Marx gelesen haben, was Storn und seine Altersgenossen in den 1960er Jahren natürlich noch getan haben. Denn bei Marx stand ja noch, was an heutigen neoklassischen Ökonomielehrstühlen nicht mehr gelehrt wird: dass Wirtschaft Teil der Gesellschaft ist und Geld Macht ist und dass die, die über das Geld verfügen, sich auch Macht und Einfluss kaufen können. Und nicht nur können: Sie tun es.

Die Skandale im Bundesverkehrsministerium oder im Verteidigungsministerium sprechen eine klare Sprache: Was gern als „externe Berater“ verkauft wird, sind die Anwälte und Fachleute der großen Konzerne, die heute zahlreich in den Ministerien sitzen und eben nicht nur beraten, sondern auch Gesetzestexte schreiben und dafür sorgen, dass die Minister so agieren, dass die Interessen der großen Konzerne gewahrt bleiben. Eigentlich sogar, dass diese Interessen dominieren.

Man kann die Liste weiterführen über die Glyphosat-Debatte, die Wohnungsbau-Gesetzgebung, die Deregulierung der Banken, die Privatisierung von Autobahnen, Bahn und Post … Überall drücken sich seit Jahren die Interessen der großen Konzerne durch und deformieren die Demokratie. Übt das Kapital, wie es Marx nannte, enormen Druck auf die Politik aus. Mit Freihandelsverträgen und privaten Schiedsgerichten, die den Druck auch noch in die Vertragsländer übertragen, geht es weiter.

Ein emsiger Berufsschullehrer, der seinen Schülern wirklich die Widersprüche unserer Demokratie zeigen will, findet mehr Stoff, als in die wenigen Stunden politischer Bildung hineinpassen. Und er muss gar nicht auf Marx zurückgreifen. Er kann auch die jüngeren Bücher von Viviane Forester oder Naomi Klein nehmen, in denen schon deutlich das Wirken der ökonomischen Schule sichtbar wird, die man heute landläufig die neoliberale nennt, auch wenn sie mit Liberalität nichts zu tun hat. Dafür aber mit einem handfesten Programm der Deregulierung, Privatisierung, „Entbürokratisierung“, Lohndumping und der systematischen Aushöhlung des Sozialstaats. Nicht zu vergessen das Lieblingspferd dieser Superreichen: Steuersenkung.

Storns Buch ist im Grunde ein Schnellkurs in – hoppla – politischer Ökonomie. Und heute eigentlich einem überall sichtbaren Primat der Wirtschaft über die Politik. Es müssen nur Stichworte wie Arbeitsplätze, Standortvorteil oder Wettbewerbsfähigkeit fallen, und Politiker aller Farben fallen um, knicken ein, werden windelweich in ihren Forderungen.

Und statt die berechtigten Interessen ihrer Wähler in Gesetze zu gießen, schaffen sie immer mehr Freiräume für das, was die einen Investoren nennen, die anderen Kapital, die nächsten Profitgier. Dafür wird dann selbst noch das Tafelsilber verscherbelt: wertvolle Ackerflächen und Wälder, Trinkwasser, Stadtwerke, Daten der Bürger, alles wird zu Markte getragen. Und damit sinkt – ganz automatisch – der Einfluss der Bürger auf ihre Demokratie immer weiter.

Und sie sind nicht gut informiert. Auch dazu erzählt Storn ja etwas, was vielen Menschen gar nicht bewusst ist: Dass viele Medien gar nicht so frei und unabhängig sind, wie sie tun. Nur werden sie nicht (wie unsere Populisten so gern behaupten) staatlich gelenkt, sondern von den Interessen ihrer Eigentümer, die in der Regel zur schwerreichen Elite der Bundesrepublik gehören und natürlich ein hohes privates Interesse daran haben, dass zum Beispiel Spitzensteuersätze sinken und Vermögen und Erbschaften nicht besteuert werden.

Das Ergebnis hat Storn als Tabelle mit ins Buch genommen: Allein durch die vielen Reformen der Reichensteuern in den vergangenen 20, 25 Jahren hat unser Staat jedes Jahr Mindereinnahmen in der Größenordnung um die 50 Milliarden Euro.

Davon ließen sich sehr viele Schulen und Bahnstrecken bauen, Brücken sanieren und Polizisten und Lehrer bezahlen. Die Verwerfungen in unserem Gesundheits- und Pflegesystem haben ganz ähnliche Ursachen – aber dieselben Folgen: Die Menschen, die überall die wichtigsten Arbeiten ableisten, werden sauschlecht behandelt und bezahlt. Und die Patienten leiden und bekommen immer weniger Service geboten.

Das reichste Land Europas produziert Armut und Misswirtschaft – und das mit einem enormen Exportüberschuss, der Deutschland zum Exportweltmeister macht. Komisch ist, dass von diesem Exportüberschuss so gar nichts bei der Bevölkerung ankommt. Was ist da los?

Um diesen Exportüberschuss kümmert sich Storn besonders. In der landläufigen Wirtschaftsberichterstattung wird er ja meist als Erfolg der tollen deutschen Unternehmen gefeiert, die ganze Welt würde ja wie wild Produkte „Made in Germany“ kaufen. Aber diese Interpretation ist ein Märchen. Deutsche Unternehmen exportieren zwar erfolgreich. Aber der Überschuss wird aus der Differenz von Export und Import errechnet. Heißt im Klartext: Deutschland importiert zu wenig.

Und es ist nicht nur der Staat, der zu wenig einkauft, weil ihm durch die Senkung der Spitzensteuern das Geld fehlt (siehe oben: jedes Jahr 50 Milliarden Euro), auch die Deutschen selbst kaufen zu wenig. Die Binnennachfrage ist für ein Land wie Deutschland viel zu gering, mit der Niedriglohnpolitik (auch hier gehört Hartz IV hin) der letzten Jahre wurde ein erheblicher Teil der arbeitenden Bevölkerung in Einkommensbereiche gedrückt, in denen das Einkommen nicht mal fürs Allernötigste reicht. Millionen Menschen, die eigentlich voll arbeiten, sind gezwungen, billig einzukaufen – und befördern damit natürlich die Dumpingproduktion in aller Welt, aus der Deutschland seine billigen Produkte (man denke nur an Textilien) importiert.

Storn nimmt die Leser natürlich mit in diese Welt: Woher kommt diese Art Denken? Wer sorgt dafür, dass diese Art Wirtschaftspolitik nicht nur die (regierenden) Parteien deformiert, sondern auch in den Medien den Ton angibt? Wer sorgt dafür, dass selbst Hochschulen und Schulen immer mehr ökonomisiert werden, staatlich heruntergespart werden, dafür der Einfluss von Konzernen und ihren Lobbyvereinen (man nehme nur die INSM) immer weiter wächst?

Wohin führt das, wenn die Superreichen auch das Denken in einer Demokratie bestimmen und in die Köpfe der Bürger hämmern, Demokratie sei identisch mit Marktwirtschaft? Man erfährt, was eigentlich hinter der so vehement gefeierten „Schwarzen Null“ steckt und wie die deutsche Steuergesetzgebung dazu führt, dass die Gewinne aus den Exportüberschüssen eben nicht bei der Allgemeinheit landen, sondern bei den Konzernen, ihren Eignern, Aktionären und Managern bleiben.

Genau jenen Leute, die immer wieder neue Kampagnen starten, um neue Steuersenkungsrunden in Gang zu bringen. Und dabei geht es nicht um die Steuern, die alle zahlen – wie die ganz normalen Mehrwert- und Lohnsteuern. Sondern immer um die Steuersätze derer, die sich sowieso schon dicke Gehälter und Dividenden gönnen, stets mit der Behauptung, diese „eingesparten“ Steuern würden sich ja dann wieder in neue Investitionen ummünzen.

Das ist das blühendste aller Märchen. Denn Unternehmen investieren nur, wenn sie ihre Produktion ausweiten wollen, weil die Nachfrage steigt, nicht weil mehr Geld im Tresor liegt oder auf einem Konto in Luxemburg. Und alle Statistiken zeigen: Das Geld wird eher dazu verwendet, die Produktion noch weiter zu automatisieren und noch mehr Arbeitsplätze einzusparen – oder auch gleich mal die ganzen Konkurrenten vom Markt zu kaufen. Die Ostdeutschen können ein Lied davon singen.

Herbert Storn ist kein Optimist. Er glaubt nicht, das sich das so schnell einfach ändert. Ändern könne es sich nur, betont er, wenn mehr Menschen wirklich wissen, wie unsere Demokratie tatsächlich funktioniert – oder eben nicht funktioniert.

Wie sich nämlich die Eigeninteressen großer Konzerne und Banken und Fonds direkt über Regierungen und Parteien durchsetzen und eben diese Parteien sehr machtlos sind, wenn sie selbst kein bisschen Grundlagenwissen in der politischen Ökonomie haben, oft nicht einmal wissen, wie die Demokratie deformiert wird, wenn Wirtschaftsinteressen immer wieder nur ihren eigenen Willen durchsetzen und eben keine Rücksicht nehmen auf sozialen Frieden, funktionierende Kommunen, eine gesunde Umwelt, eine Erhaltung unserer Lebensgrundlagen, Gerechtigkeit oder gar Chancengleichheit.

Es gibt kein einziges Großunternehmen, das darauf auch nur die geringste Rücksicht nimmt. Viel lieber bezahlt man teure Thinktanks, die die Medien dann mit Darstellungen fluten, wie gefährlich eine soziale oder gar gerechte Politik ist. Aktuell wieder bestens zu beobachten im massiven Angriff auf die paar kleinen Sozialstaats-Vorschläge der SPD.

FAZ-Video zur Rede von Rutger Bregman.

Eigentlich geht es Storn ja darum, die Grundzüge eines wirklich ehrlichen und grundlegenden Politikunterrichts in den Schulen zu skizzieren, wissend darum, dass die aktuellen Stundenzahlen nicht im mindesten ausreichen, um den Schülern auch nur die Grundlagen der Demokratie zu vermitteln und erste Ansätze aufzutun, mit denen sich verstehen lässt, warum die Verlautbarungen zum hohen Wert der Demokratie so überhaupt nicht mit den täglich zu besichtigenden Ergebnissen von Politik in Deckung zu bringen sind.

Ein Widerspruch, den ja viele Menschen wirklich sehen, auch wenn sie dann eher gefühlsmäßig mit Trotz und Misstrauen reagieren. Was dann eben dazu führt, dass die Demokratie noch weniger Unterstützung erhält und stattdessen von Bewegungen angegriffen wird, die diesen Zustand weidlich auszunutzen wissen, um für ein autoritäres Staatsmodell zu werben, in dem sich die Staatsbürger dann keinen Kopf mehr machen müssen über die Dinge, die zu entscheiden sind.

Und zu Recht merkt Storn auch an, dass das den großen Konzernen und Superreichen ebenfalls völlig egal ist, denn – man lese nur Naomi Kleins Buch „die Schock-Strategie“ – sie bevorzugen oft sogar die Abwesenheit demokratischer Spielregeln, wenn sie mit korrupten Oligarchen gleich mal selbst die Regeln aushandeln und ihre Bedingungen diktieren können.

Und dazu schrecken sie weder vor Putschen noch Kriegen zurück. Die meisten Kriege der Gegenwart sind Kriege um Rohstoffe. Und natürlich herrliche Absatzmärkte für Kriegswaffen, mit denen auch deutsche Unternehmen richtig gut Geld verdienen. Und wenn die Bundesregierung gar nur wagt an Exportbeschränkungen für Waffen zu denken, wird ihr gleich mit einer Klage der Rüstungskonzerne gedroht.

Das ist der derzeit ziemlich kaputte Zustand unserer Demokratie. Ein bisschen Hoffnung setzt Storn natürlich darauf, dass gute politische Bildung langfristig hilft, bewusstere Demokraten hervorzubringen, junge, gebildete Menschen, die wissen, was hinter den Kulissen falschläuft.

Und warum im Grunde die Steuerpolitik im Zentrum der Betrachtung stehen muss, wie es der niederländische Historiker Rutger Bregman gerade in Davos wirksam und kurz auf den Punkt brachte. Auch er mit offenem Blick auf das, was in den westlichen Demokratien in den vergangenen 40 Jahren falschgelaufen ist. Denn das Vorbild für eine kluge Wohlstandspolitik liegt nicht im untergegangenen „real existierenden Sozialismus“, wie auch Storn feststellt, sondern in der Sozialpolitik der Nachkriegszeit in den USA genauso wie in Deutschland.

Als es selbst konservativen Ministern noch selbstverständlich war, dass hohe Vermögen und hohe Einkommen auch hoch versteuert werden müssen, damit nicht genau das passiert, was derzeit die westlichen Gesellschaften kippen lässt: eine Konzentration des gesellschaftlichen Reichtums nur noch bei den wenigen Superreichen und eine zunehmende Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Genau das stellt nämlich die westlichen Demokratien jetzt allesamt infrage.

Und es hat – da hat Storn wohl recht – auch mit fehlender politischer Bildung zu tun. Was irgendwie wie Absicht aussieht. Nicht ohne Grund sind so elementare Fächer wie eben die politische Bildung nicht nur in Hessen an den Rand gedrängt worden. Und nicht nur für Lehrer ist das Buch eine Anregung, auch für Schüler und interessierte Wahlbürger, die wissen wollen, warum so vieles schiefläuft in unserer Demokratie.

Herbert Storn „Mit Demokratie ernst machen“, Büchner-Verlag, Marburg, 22,00 Euro

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