Wie erzählt man die Geschichte einer Stadt? Zwar besitzt Dresden seit seinem großen 800-Jahre-Jubiläum auch eine dreibändige wissenschaftliche Stadtgeschichte. Aber kann man das nicht auch in ein Taschenbuch komprimieren? Und was kommt dabei heraus, wenn man eine Stadt wie einen Organismus betrachtet, „der ständigen Wandlungen unterworfen ist“? Jedenfalls erklärt der Diplomhistoriker Reinhardt Eigenwill so im Vorwort seinen Ansatz.

Der 1946 Geborene hat Ur- und Frühgeschichte studiert. Seit 1977 war er Fachreferent für Geschichte an der Sächsischen Landesbibliothek.

Verkehrsströme ändern sich, die Wirtschaftsstruktur, die Zusammensetzung der Bevölkerung. Manchmal müssen das auch Historiker extra betonen, auch wenn die Leute, die glauben, die Welt müsse immer so bleiben, wie sie war, selten bis nie historische Bücher lesen. Und deshalb anfällig sind für Mythen und Verschwörungstheorien. Oder nur immer wieder dieselben sächsischen Idole beschwören, die zu einem Brei des vergoldeten Selbstverständnisses werden. Auch und gerade in Dresden. Wie stark diese Überhöhung des Augusteischen Zeitalters bis heute die Sicht (auch von außen) verstellt, hat ja gerade Steffen Raßloff in seinem kleinen Dresden-Buch deutlich gemacht.

Historiker aber wissen, dass Städte wie Dresden Ergebnis von Veränderungen und Verdichtungen sind. Oft ist es eine Flussfurt, an der sich schon vor tausenden Jahren die ersten Siedler niederließen. Alle Handelswege der Vergangenheit haben eine Logik. Sie verbinden die Orte, an denen Hindernisse wie die Elbe auch mit einfachen Mitteln leicht zu passieren sind. Sie bilden Netze, in deren Knotenpunkten die Städte blühen, Märkte und Messen entstehen und an denen sich Reichtum kumuliert.

Es ist wie heute auch, nur dass Händler nicht mehr mit Pferdegespannen reisen, sondern Lkw, Güterzüge und Flugzeuge solche Netze schaffen, weltumspannend. Was auch dazu führt, dass die Löcher in diesen Netzen größer werden.

Ich schweife ab, ich weiß. Denn so modelliert auch Eigenwill seine Stadtgeschichte nicht. Es würde sein Buch sprengen. Denn seine Heldin ist die Stadt Dresden, von den Wettinern genau dort gegründet und nach und nach auch mit Burg und Mauer ausgebaut, wo zuvor jahrhundertelang die sorbischen Auenlandbewohner lebten, die Drežďany. Aber wer das Land beherrschen will, beherrscht die Furten, gründet Städte und sichert sich den Zugriff auf die Erze. So, wie es die Wettiner seit Otto dem Reichen konsequent taten, deren klügste Vertreter sehr genau wussten, wie wichtig Landesausbau und Wirtschaftsentwicklung auch für die Landesherrschaft sind. Dass Sachsen im 19. Jahrhundert zur Werkstatt des deutschen Reiches aufstieg, hat tiefe Ursachen, tief im 12. Jahrhundert.

Was viele Sachsen wissen, weil sie es mit ihren so gern gerühmten Tugenden verbinden: Fleiß, Erfindergeist und eine gewisse Pfiffigkeit, die leider da und dort auch in arge Selbstgerechtigkeit umzuschlagen droht. Da wird „der Sachse“ auch schnell mal zum umgekrempelten Rebellen. Oder sollte man besser formulieren: zum aufmüpfigen Untertanen? Denn Eigenwill weiß es ja selbst: Die Dresdner Stadtgeschichte lässt sich ohne die stete Anwesenheit der Markgrafen, Herzöge, Kurfürsten, Könige nicht erzählen. Sie mischten sich immer ein. Auch in die Stadtverwaltung.

Sie wollten mitbestimmen, wer Bürgermeister und Stadtrat wurde, wer Gericht hielt und wie die Stadt gebaut wurde. Deswegen eigneten sie sich schon früh die Planungshoheit über die Stadt an. Und deswegen wurde Dresden spätestens ab dem 17. Jahrhundert eben nicht nur eine Residenzstadt. Die sächsischen Herrscher bauten sich ihre Stadt, wie sie sie haben wollten, und zwar nicht nur im Bereich von Schloss und Zwinger. Selbst das rechtselbische Altendresden formten sie, gaben der nach einem verheerenden Brand wieder aufgebauten heutigen Neustadt das einheitliche Gepränge.

Und natürlich waren es die Wettiner, die mit ihrer Sammelleidenschaft und ihrem, spätestens mit dem starken August aufkommenden barocken Repräsentations-Bedürfnis Dresden auch zu einer überregional wahrgenommenen Kulturstadt machten. Wer also Dresden heute besucht, nachdem es mit enormem Aufwand im Kern wieder rekonstruiert wurde, sieht im Grunde die von den Wettinern geformte Residenzstadt. Und damit auch das, was Dresden von allen anderen sächsischen Städten unterscheidet – bis in die Mentalität der Bewohner hinein.

Was – wie auch Eigenwill feststellt – auch schon die Besucher des 18. und frühen 19. Jahrhunderts merkten. Denn in einer Stadt, in der die Selbstverwaltung immer durch den Eingriff und die Übermacht der Fürsten begrenzt wurde, bildet sich eine gewisse Provinzialität heraus. Reisende am Ende de 18. Jahrhunderts „äußerten sich kritisch bis abfällig über die provinziellen Zustände in der Stadt, über die Verhaltensweisen ihrer im kleinbürgerlichen Denken befangenen Bewohner“.

Das habe wohl auch mit dem Fehlen kapitalkräftiger Kaufmannsfamilien zu tun, meint Eigenwill. Aber es hat auch damit zu tun, dass die Häuser an den Prachtstraßen nicht nur von den Adligen des Dresdner Hofes erbaut und bewohnt wurden, sondern auch damit, dass ein Großteil des Dresdner Handwerks direkt von den Aufträgen des Hofes abhing. Richtig aufgeblüht ist Dresden erst, als der Hof der Wettiner dauerhaft dorthin verlegt wurde. Und dieser Hof gab tausenden Dresdnern Arbeit – als Dienstboten und Verwaltungsbeamten. Oder als Handwerkern in einer der hunderten Luxusproduktionsstätten – von Barettmachern über Goldschmiede bis hin zu Perückenmachern, Schneidern und Hoflieferanten.

Nur schien nach dem Ende des Augusteischen Zeitalters, den Zerstörungen des Siebenjährigen Kriegs (die Eigenwill in ihrer Dimension durchaus an die Zerstörungen des 2. Weltkrieges erinnern) und den harten Sparmaßnahmen danach, die auch den Hof zu Einschränkungen zwangen, der Wurm drin zu sein. Johann Gottfried Seume sah bei seinem Besuch lauter „trübselige, entmenschte Gesichter“. Und da hatte Dresden die Besetzungen, Belagerungen und Schlachten der Napoleonischen Zeit noch vor sich.

Was Eigenwill tatsächlich in einem regelrechten Stakkato der Personen und Ereignisse schafft, ist zu zeigen, wie viel eigentlich in den 800 Jahren Dresdener Geschichte geschah. Es gab auch rebellische Zeiten. Keine Frage. Auch Dresden erlebte seinen Vormärz und ein ermutigtes Bürgertum, das seine Beteiligung an den Staatsgeschäften forderte. Und es erlebte einen König samt stockkonservativen Ministern, die lieber zu Strafbefehlen und Festungshaft griffen (oder gleich die Preußen riefen), als diesen umstürzlerischen Neuerungen Bestand zu gewähren. Weshalb Sachsen bis 1918 eins der konservativsten deutschen Länder blieb – mit einem rückschrittlichen Wahlrecht, mit dem sich die Grundbesitzenden bis zur Revolution die Mehrheiten sicherten. Und damit den Zugriff auf die Politik.

Was nicht bedeutet, dass Dresden nicht auch immer wieder ein Ort war, an dem auch kritische Köpfe für ein Weilchen lebten. Im frühen 19. Jahrhundert wurde Dresden regelrecht zum Zentrum der deutschen (Spät-)Romantik – in der Malerei (Caspar David Friedrich und seine Mitstreiter) genauso wie in der Literatur (Tieck &.Co.). Und eine zweite Blüte vor allem der bildenden Kunst erlebte Dresden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als sich hier zwei der wichtigsten Gruppen des deutschen Expressionismus (Brücke und Sezession) bildeten.

Auch von diesem Ruf zehrte Dresden bis in die Gegenwart. Man nehme nur die großen Kunstausstellungen der DDR, die ursprünglich mal den Siegeszug des „sozialistischen Realismus“ zeigen sollten, am Ende aber Millionen Besucher anlockten, weil hier auch ein Teil der kritischen und hintersinnigen Kunst zu sehen war, die Erich Honecker und seine Granden letztlich akzeptieren mussten, weil sonst nur noch Viertklassiges an den Wänden gehangen hätte.

Natürlich kann auch Eigenwill nur einige wenige Themenstränge aufgreifen. Auch da, wo Dresden Schauplatz von Ereignissen wurde, die eigentlich auf internationalem Parkett stattfanden. Wer seine These aus dem Vorwort ernst nimmt merkt, wie komplex die Einflüsse sind, die die Entwicklung so einer Stadt bestimmen. Ganz fassen kann man so einen Organismus Stadt sowieso nie. Wie verletzlich er ist, merkt man meist erst, wenn eine wichtige Infrastruktur nicht mehr funktioniert – so wie nach den Bombardements von 1945 Elektrizität, Gas und Wasser. Oder die Wirtschaft, die ja gerade im Industriezeitalter das Leben von tausenden Menschen bestimmt. Oder auch das politische Leben, das in Dresden auch schon weit vor 1989 seine Krisensymptome zeigte.

Bei den letzten 30 Jahren hält sich Eigenwill dann lieber zurück, auch wenn hier die CDU in die Rolle der verantwortlichen Regierungspartei rutscht. Aber wie sich die Phase wirklich einmal historisch einordnet, ist völlig offen. Die Ergebnisse der tektonischen Veränderungen, die sich Jahrzehnte vorher anbahnen, sieht man meist erst hinterher. Und dann haben selbst die Historiker stets noch ihre Schwierigkeiten, die Dinge wirklich dauerhaft einzuordnen. Auch weil sie lernen, selbst Strömungen wahrzunehmen, die früheren Historikern herzlich egal waren – so etwa die Rolle der Ökonomie, der Bildung, der Handelswege und künftig auch der Umweltveränderungen. Denn wenn sich all das stets aufs Neue verändert, bleibt der Organismus Dresden nie derselbe. Der Eindruck, das „alte Dresden“ besuchen zu können, trügt. Beständig ist nur die Veränderung. Die selbst dann eintritt, wenn 1.000 Dresdner jede Woche mit (siehe Seume) „trübseligen Gesichtern“ gegen diese Veränderungen protestieren.

Dresden ist schon lange keine Burg mehr. Und es wird sich gründlicher verändern, als es die Trübseligen wahrhaben wollen. Die Zeit wird über sie hinweggehen. Was bleiben wird, entscheiden – natürlich – die künftigen Bewohner dieser Stadt. Die natürlich auch bestimmen, welche Strömungen der Geschichte sie für die eigentlich wichtigen halten. Oder besser: für merkenswert. Eigenwills Buch zeigt einen Teil des Gewebes. Und doch nicht alles. Wirklich geblieben ist immer nur die Elbe. Aber die zeigt regelmäßig, wie Geschichte entsteht: im steten Fluss, der dann und wann auch über die Ufer tritt und den Menschen ihre Grenzen zeigt.

Reinhardt Eigenwill Kleine Stadtgeschichte Dresden, Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2018, 9,80 Euro.

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