Was ist eigentlich wichtig in der Geschichte einer Stadt? Ist es das, was die Einheimischen erinnern und feiern? Oder das, womit es die Stadt in die großen Geschichtsbücher geschafft hat? Wer bestimmt eigentlich, was wichtig ist? Oder ist das sowieso klar und man kann es nur noch mit Gedenksteinen im Stadtbild sichtbar machen? Jedenfalls scheint es da so eine Art Standard zu geben, der sich durchgesetzt hat – in 55 Namen und Orten.

Denn Meilensteine sind es eher nicht, die der Historiker Steffen Raßloff für dieses Buch in Text und Bild zusammengestellt hat – weder zeitlich noch örtlich. Aber dafür jene Generalgeschichten, die für die meisten Leipziger so eine Art historisches Selbstverständnis darstellen.

Es geht auch um Identität

Und damit auch ein Stück ihrer Identität. Das, was man Freunden und Familienangehörigen auf Besuch zeigt. Dinge, die es nun einmal nur hier gibt und die weit und breit ihresgleichen suchen. Und davon gibt es in Leipzig eine Menge.

Und jedes Mal steckt eben auch ein Stück Lebensart drin, wie sie in „Klein-Paris“ gepflegt wird. Auch wenn man diese markanten Orte dann überwiegend mit den vielen Gästen teilen muss, die extra deswegen anreisen aus nah und fern – die Nikolaikirche als authentischer Ort der Friedlichen Revolution, die Musikstadt, die sich mit Oper und Gewandhaus am Augustusplatz präsentiert. Oder das Schillerhaus in Gohlis oder Auerbachs Keller und Mädlerpassage. Mit Faust, Mephisto und Studenten davor. Berühmt gemacht durch Goethe in seinem Faust.

Immer dieser Goethe …

Und Raßloff liebt den Spruch ganz übersehbar: „Mein Leipzig lob’ ich mir, es ist ein Klein-Paris und bildet seine Leute.“ Der leuchtet ja auch auf den Höfen am Brühl. Nur: Es ist ein betrunkener Student, der ihn sagt. Doch diese Szene aus dem „Faust“ hat Auerbachs Keller erst so recht zur Legende gemacht. Menschen lieben Legenden.

Und Menschen, die zu Legenden geworden sind – wie Bach, Wagner und Leibniz, den man heute im Innenhof des Uni-Campus findet.

Auch dieser Campus ist ein Thema, eng verbunden mit jenem Tag im fernen Jahr 1968, als die SED-Funktionäre die Universitätskirche St. Pauli in die Luft sprengen ließen. Solche Geschichten brennen sich fest. Fast jeder kann sie erzählen. So wie Luthers Auftritt im Schloss des Herzogs bei der großen Disputation, die 1519 die Weiche stellte für die Reformation.

Die Völkerschlacht ist ja mit dem 1913 eingeweihten Völkerschlachtdenkmal unübersehbar präsent. Während man das slawische Libsk kaum noch findet. Aber Raßloff erwähnt es und verweist die Leser immer wieder gern ins Alte Rathaus, wo man Leipzigs Stadtgeschichte anschaulich präsentiert bekommt. Er ist Historiker und weiß, wie wichtig es ist, dass man die Dinge sehen, lesen und begutachten kann.

Doch er fängt nicht erst mit der slawischen Besiedlung an und der Ersterwähnung 1015 und der Stadtrechtsverleihung um 1165. Er weist auch darauf hin, dass in dieser Region schon viel früher Menschen siedelten. Was zum Beispiel die in ein Schieferplättchen geritzten Pferdeköpfe beweisen, welche bei Groitzsch im Leipziger Süden gefunden wurden und um die 14.500 Jahre alt sind.

Da war die letzte Kaltzeit noch gar nicht richtig zu Ende. Aber augenscheinlich waren die Menschen schon wieder zurückgekehrt und jagten auch die damals hier heimischen Pferde.

Die Wurzeln dreier Bundesländer

Wobei Raßloff auch mehrfach darauf hinweist, wie eng verzahnt die Geschichte der drei Bundesländer Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ist. Es ist eins seiner besonders intensiv bearbeiteten Themen. Im Buch u. a. vertreten mit dem Mitteldeutschen Rundfunk und der am Ende abgelehnten Initiative, ein Bundesland Mitteldeutschland möglich zu machen.

Immerhin stand bis zur Leipziger Teilung 1485 die Möglichkeit im Raum, dass das Kurfürstentum der Wettiner zu einem dauerhaft etablierten Groß-Sachsen werden könnte. Doch diese Entwicklung wurde mit der Leipziger Teilung abgeschnitten. Und späterhin geriet Sachsen immer öfter in die Bredouille, verlor lauter Kriege, büßte 1815 mehr als die Hälfte der Landesfläche ein und musste sich andere Wege suchen, zu prosperieren.

Die sich dann auch im Leipziger Stadtbild niedergeschlagen haben – so wie die Industrialisierung, die vor allem ein Mann namens Dr. Carl Heine vorantrieb. So wie die rasante Entwicklung zum Verkehrsknotenpunkt mit erster Ferneisenbahn 1836 und dem seinerzeit größten Kopfbahnhof der Welt (1915).

Nicht zu vergessen der Aufwuchs zu einer der reichsten Städte Deutschlands, die um 1900 ihr eigenes Gesicht suchte und in präsentablen Bauwerken auch fand – vom Neuen Rathaus bis zum Krochhochhaus. Alles drin in Raßloffs kleinem Geschichtsbuch, das auch allen, die nicht in Leipzig aufgewachsen sind, eine Orientierung gibt, was die Leipziger so für gewöhnlich wichtig und bemerkenswert finden an ihrer eigenen Geschichte.

Auch wenn Unkundige manchmal erst aufgeklärt werden müssen darüber, dass das „Leipziger Allerlei“ aus der Tiefkühltruhe nichts mit dem Original zu tun hat, Leipziger Lerchen ein Gebäck sind, das erst nach einem Jagdverbot des Königs erfunden wurde, und es tatsächlich in Leipziger Traditionsgaststätten ganz selbstverständlich Leipziger Gose gibt – mit oder ohne Allasch, je nach Geschmack.

Es sei denn, man bevorzugt dann doch eher das Bier mit dem Stern drauf, das ebenfalls eine schöne 200 Jahre lange Geschichte hat.

Für eingefleischte Bewohner der eigensinnigen Stadt an der Pleiße ist das alles vielleicht nicht neu. Aber so ist die Reihe aus dem Sutton Verlag ja auch nicht angelegt. Sie ist eher dafür gedacht, allen, die das rührige Städtchen noch nicht kennen, das Wichtigste an lokaler Identität nahezubringen, damit man wirklich erst einmal eine Orientierung hat, die Musikstadt und ihre Stätten genauso findet wie die Buchstadt.

Und den Gründungsort des DFB sowieso. Auch wenn sich die heutige DFB-Riege wohl nicht mit einem so einfachen Leipziger Lokal zufriedengeben würde, wenn sie mal zur Tagung einlädt.

Selbstredend erwähnt Raßloff auch die Umbruchzeiten seit dem rumorenden Herbst 1989 und die doch sehr gewaltigen Veränderungen auch im Stadtbild seither. Was man manchmal wirklich erst erwähnen muss, denn Menschen gewöhnen sich so schnell an alles. Und vergessen, wie es vorher aussah.

Doch Geschichte ist eben am Ende das, was sich die Leute merken und bei dem sie das Gefühl haben, dass sie ein bisschen stolz drauf sein dürften.

Steffen Raßloff „Leipzig. 55 Meilensteine der Geschichte“, Sutton Verlag, Tübingen 2023, 22,99 Euro.

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