Am 27. August würdigte die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e. V. ihren einstigen Schirmherren, den Dichter Karl Krolow, mit einer Gedenkveranstaltung. Krolow war 1992 dabei, als die Gesellschaft gegründet wurde. 1999 starb er. Er gilt als einer der wichtigsten deutschen Dichter des 20. Jahrhundert. Und die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e. V. würdigt den Dichter auch mit einer eigenen Publikation: „Der feine Gesang“.

Es ist das dritte Heft in der Reihe „Die besondere Edition“, mit der die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e. V. besondere Dichter/-innen würdigt und versucht, ihr Lebenswerk auch ein bisschen einzuordnen. Dazu gibt es mehrere essayistische Beiträge im Heft, in denen unterschiedliche Autoren sich dem Gewürdigten versuchen zu nähern – mal über seine Publikationsgeschichte und seinen Beginn als namhafter Lyriker, mal über seine Wirkungsgeschichte, mal auch – wie im Nachruf von Kurt Drawert – über die Spezifik des Werks. Was wohl am allerschwierigsten ist.

Gerade bei Krolow, der immer offen war für Neues, sich nicht einvernahmen ließ und trotzdem seinen eigenen Sound fand. Einen Sound, den Drawert geradezu als anmutig beschreibt. Da ist etwas, was auf den ersten Blick ganz einfach aussieht, ganz so, als hätte der 1915 geborene Dichter nur ein ganz simples Alltagsgedicht geschrieben, ein wenig aufgeladen mit Magie. Aber wer es aufmerksam liest merkt, dass da mehr drin ist. Was Drawert so beschreibt: „Seine Gedichte beginnen, wo sonst das Schweigen beginnt, hinter den Bildern und zwischen den Dingen und im Inneren des Augenblicks.“

Behutsamkeit wäre ein treffendes Wort. Aufmerksamkeit ein anderes. Krolow schrieb, wie andere atmen. Er war – in einer Zeit, in der eifrig gehandelt und performt wurde – ein stiller Dichter. Weshalb er auch im Osten Resonanz fand – bei Dichtern, Herausgebern und Grafikern. Da berührte sich etwas. Man kann eine fette Linie durch Deutschland malen, die es in zwei unversöhnte Hälften teilt. Aber sie gilt nicht für die Dichtung. Und wenn sie sich in die Deutsche Bücherei setzen und alles abschreiben mussten, die ostdeutschen Dichter nahmen sehr wohl wahr, wie sehr sich die Texte eines Krolow mit dem berührten, was im Osten an stiller und aufmerksamer Lyrik entstand.

Bis hin zu Sarah Kirsch, die scheinbar nicht passen will. Und dennoch passt. Aber der größte Krolow-Verwandte im Osten war wohl wirklich Johannes Bobrowski. In dessen Gedichten es ebenso wispert, unter der scheinbaren Einfachheit nachdenklich und widersprüchlich wird. Weil der Mensch widersprüchlich ist. Dichter wissen so etwas. Und suchen ihr Leben lang nach dem Sagbaren, dem, was berührt, wenn man es anspricht. Wirklich nur anspricht. Denn das Ausgesprochene verliert schon wieder seinen Glanz, seinen Nachklang. Das Wissen darum, dass wir erst lebendig sind, wenn wir uns berühren lassen vom Sein.

Und verstören lassen. Auch das gibt es bei Krolow, der sehr wohl gemerkt hat, dass die meisten Menschen weder Gedichte lesen noch verstehen würden. Weil sie nicht bei sich sind, sondern mit völlig anderen Dingen beschäftigt. Reineweg banalen, wie man zum Beispiel in „Hinreichend“ lesen kann: „Die Liebe ist / zum Greifen nah, / die Gegend ohne Hintergrund. / Behutsam steigt man / durch ein Gelände, / abgesteckt von denen / die alles rechtzeitig / in Besitz nehmen.“

Geradezu herrlich dieses „Verbrauchen“ von Landschaft mitten im Gedicht – wenn aus Landschaft erst ein Bild wird, dann eine (beliebige) Gegend, zuletzt ein Gelände, das schon gezeichnet ist: Besitz. „Phantasiegold“, schreibt Krolow. Katzengold hätte er auch schreiben können, Flitter. Als wundere sich dieser Wanderer, wie Menschen sich in diesem fortwährenden Inbesitznehmen von Welt verlieren.

Das Gedicht korrespondiert (wie so viele Gedichte bei Krolow miteinander korrespondieren) mit dem ebenfalls im Heft abgedruckten „Sieh dir das an“, einem der vielen Texte, die das staunende Wahrnehmen der Wirklichkeit beschreiben, von der zumindest die Dichter wissen, dass sie sich nicht fassen, nicht greifen und auch nicht in Besitz nehmen lässt. Wer nicht mit Besitz beladen ist, ist auf erstaunliche Art frei – denn dieser Bursche „könnte / einer sein, der einfach weggeht“. „Von diesem Augenblick an / fiel es ihm nicht mehr schwer, / sich zu sagen, daß es / ziemlich gleichgültig sein müsse, / in welche Richtung man sich / entferne.“

Der Literaturkritiker Ulf Heise versucht den späten Krolow zu fassen, den „das Schwinden seiner physischen Agilität, die ansteigende Hinfälligkeit“ auch beim Schreiben beschäftigte. So ein wenig klingt mit: Darf das ein alternder Dichter überhaupt, „Dünnhäutigkeit und Verletzlichkeit“ zeigen? Da spricht auch ein wenig unsere Zeit, die sich so gern zweckoptimistisch malt und das physische Leiden versteckt hinter Masken. Mitsamt all diesen seltsamen Gefühlen, die einen befallen und überfallen, wenn man den Zinnober nicht mitmacht, sondern das eigene Berührt- und Versehrtsein nicht mehr verdrängt.

Wozu man freilich bereit sein muss, sich berühren zu lassen. Auch vom Unharmonischen, wie Heise es nennt. Denn genau deshalb bekommen Krolows Verse ja so etwas Offenes, Schwebendes. Irgendwas ist da immer nicht fertig, zu Ende gesagt, auf den Punkt gebracht. Offen wie unser Leben, in alle Richtungen. Selbst in den schönsten und intensivsten Begegnungen: „Du kommst so wie du gehst. Ich spüre fast nichts: / so leicht ist deine Nähe …“ („Ade“).

Das Heft, das wieder in limitierter Auflage erschien, ist nicht nur eine Würdigung für den 1999 verstorbenen Schirmherrn der Lyrikgesellschaft, sondern auch eine Einladung, ihn 20 Jahre nach seinem Tod neu für sich zu entdecken. Voraussetzung: Die Bereitschaft loszulassen und sich wieder auf ein Tempo einzustellen, das mit Hast und Notwendigkeit nichts zu tun hat, dafür Raum lässt für springende Gedanken, sich öffnende Bilder und jene Behutsamkeit, mit der Karl Krolow sich jedes Mal vortastet zu dem, von dem er so eine Ahnung hat, dass es greifbar sein könnte – wenn man nur aufmerksam genug ist.

Poesiealbum neu „Der feine Gesang. Karl Krolow zu Ehren“, Edition Kunst & Dichtung, Leipzig 2019.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache: Eine steigende Zahl von Artikeln auf unserer L-IZ.de ist leider nicht mehr für alle Leser frei verfügbar. Trotz der hohen Relevanz vieler unter dem Label „Freikäufer“ erscheinender Artikel, Interviews und Betrachtungen in unserem „Leserclub“ (also durch eine Paywall geschützt) können wir diese leider nicht allen online zugänglich machen.

Trotz aller Bemühungen seit nun 15 Jahren und seit 2015 verstärkt haben sich im Rahmen der „Freikäufer“-Kampagne der L-IZ.de nicht genügend Abonnenten gefunden, welche lokalen/regionalen Journalismus und somit auch diese aufwendig vor Ort und meist bei Privatpersonen, Angehörigen, Vereinen, Behörden und in Rechtstexten sowie Statistiken recherchierten Geschichten finanziell unterstützen.

Wir bitten demnach darum, uns weiterhin bei der Erreichung einer nicht-prekären Situation unserer Arbeit zu unterstützen. Und weitere Bekannte und Freunde anzusprechen, es ebenfalls zu tun. Denn eigentlich wollen wir keine „Paywall“, bemühen uns also im Interesse aller, diese zu vermeiden (wieder abzustellen). Auch für diejenigen, die sich einen Beitrag zu unserer Arbeit nicht leisten können und dennoch mehr als Fakenews und Nachrichten-Fastfood über Leipzig und Sachsen im Netz erhalten sollten.

Vielen Dank dafür und in der Hoffnung, dass unser Modell, bei Erreichen von 1.500 Abonnenten oder Abonnentenvereinigungen (ein Zugang/Login ist von mehreren Menschen nutzbar) zu 99 Euro jährlich (8,25 Euro im Monat) allen Lesern frei verfügbare Texte zu präsentieren, aufgehen wird. Von diesem Ziel trennen uns aktuell 500 Abonnenten.

Alle Artikel & Erklärungen zur Aktion Freikäufer“

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar