Auch als er noch noch Professor für Sozialarbeitswissenschaft an der HTWK Leipzig war, beschäftigte sich Andreas Thiesen mit den aktuellen Vorstellungen davon, was Stadt eigentlich ist. Raumplaner haben davon eine völlig andere Vorstellungen als Soziologen. Und die Bewohner der Stadt sowieso. Heute lehrt er Theorien und Methoden Sozialer Arbeit an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden. Und auch dort versucht er, seine Student/-innen zu sensibilisieren für den sich ständig ändernden Lebensraum Stadt.

Schon 2016 plädierte er mit seinem Buch „Die transformative Stadt“ dafür, Stadt und Raum anders wahrzunehmen, die alte Denkweise der Planungs- und Sozialbürgermeister zu verlassen, die die ihnen anvertraute Stadt immer nur als raumplanerisches Gestaltungsfeld oder als Agglomeration problematischer Sozialräume sehen.

Von den diversen Medien ganz zu schweigen, die Stadtbewohner wie wilde Völkerstämme begreifen, die sich aus Bürosicht immerzu seltsam benehmen und unbedingt mehr „Ordnung und Sicherheit“ brauchen. Was nicht zufällig die beiden Charakteristika eines konservativen, unveränderlichen Weltbildes sind.

Doch Stadt ist genau das Gegenteil. Jede statistische Veröffentlichung erzählt davon und widerlegt die Abwehrreflexe eines konservativen Publikums, das stets eine idealisierte Stadt auch mit Gewalt zu bewahren versucht, die es nie gab. Und wo es solche Zustände gab, waren sie weder typisch für die Stadt noch besonders produktiv.

Im Gegenteil: Meistens waren es nur Versuche, sich gegen die Veränderungen zu wehren, die eine Stadt erst lebendig machen. Oder gar erst zur Stadt. Denn Städte sind längst zu Orten der permanenten Veränderung geworden. Überall werden die Folgen von Modernisierung, Mobilisierung und Migration spürbar, müsste eigentlich in den Kategorien permanenter Transformation gearbeitet und gedacht werden, aber mit ihren beinah statischen Mitteln stehen Stadtverwaltungen vor Herausforderungen, für die sie eigentlich nicht gerüstet sind.

Sie werden in die Rolle der Gestalter gedrängt, ohne dafür auch die nötigen Finanzen zu haben. Was dann immer öfter ein Bild der verwalteten Hilflosigkeit ergibt.

Natürlich geht Thiesen das Thema nicht so und mit solchen Worten an. Er weiß sehr wohl, dass die wissenschaftliche Erkundung der Soziologie der Städte eigentlich noch ganz am Anfang steht. Es sind Soziologen wie der Amerikaner Richard Sennett, die mit ihren Schriften überhaupt erst einmal den Blick dafür geöffnet haben, dass Städte im Zeitalter der Globalisierung viel mehr sein müssen als nur Wohn- oder Arbeitsorte.

Sie sind zu den Orten der eigentlichen Transformation geworden, haben auf vielen Feldern längst die Rolle übernommen, die einst die Länder spielten. Thiesen diskutiert das in diesem Essayband anhand von Sennetts 2018 auf deutsch erschienenem Buch „Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens“. Stellenweise sehr kritisch, weil ihn zwar Sennetts Thesen faszinieren – aber oft deren Begründung fehlt oder diese nur skizzenhaft angedeutet ist.

Aber gerade Sennett – der 1998 mit „Der flexible Mensch“ Furore machte – macht wie kein anderer sichtbar, wie sehr die übliche politische Sicht auf Stadt deren Bewohner einfach ignoriert als tatsächlich Handelnde und ihren Lebensraum Stadt erst Schaffende. Sie werden oft nur als zu verwaltende Subjekte wahrgenommen – und das ist schon viel.

Die meisten erleben sich eher als behandelte Objekte – ohne eigenen Willen und ohne Wirkmächtigkeit und Einflussmöglichkeit. Ein Thema, das Thiesen auch schon 2016 am Beispiel des Förderprogramms „Soziale Stadt“ behandelt hat, das aus seiner Sicht komplett gescheitert ist. Eben weil es „soziale Brennpunkte“ behandelt hat wie eine unmündige, zur Selbstorganisation unfähige Ansammlung unmündiger Bedürftiger.

Seinen Studierenden empfiehlt er übrigens, noch vor Beginn des Kurses selbst loszuziehen, egal wo und in welcher Stadt, und vom Ausgangspunkt des Stadtspaziergangs an zu registrieren, was sie wahrnehmen. In einer Reihe bebilderter Beispiele zeigt er, was man dabei entdecken kann – Architektur, die nicht zusammenpasst, kleine Läden, die die Sehnsucht nach der Stille früherer Zeiten wachrufen, trostlose Stadtplätze, deren Bänke nicht mal Liebespaare einladen, totgestaltete neue Stadtquartiere, an denen Architekten vergeblich versucht haben, urbanes Flair zu konstruieren – und dann wie eine Gegenthese die geradezu wilden Straßenräume Bukarests, in denen man merkt, dass hier jeder nach seinem Vermögen gebaut hat.

Und das sieht oft ansprechender aus als die neuen Stadtplätze in Deutschland, die sich mit ihren Würfelbauten so ähneln, dass man nie wirklich weiß, wo man gerade ist. Globalisierte Stadtarchitektur. Gebaute Nicht-Orte.

Was kein Zufall ist. Städte werden nicht so, weil es ihre Bewohner so wollen. Die werden in der Regel nicht gefragt. Sie erleben ihr Leben und Reisen auch als ein ohnmächtiges. Die Stadt gehört ihnen nicht. Und wenn sie so wagemutig sind, stellenweise Besitz von ihrem Stadtviertel ergreifen zu wollen, bekommen sie es mit der Polizei zu tun. Denn es wird zwar auch immer wieder über Globalisierung geredet. Was das aber wirklich bedeutet, wird meist ausgeblendet.

„Was wir als ,Gentrifizierung‘ erleben, ist nur Symptom einer krisenhaften Globalökonomie, nicht Ursache!“, schreibt Thiesen. „Dennoch besteht freilich keine Not zur Anerkennung unsozialer Stadtpolitik. Verdrängung einkommensschwacher Familien aus einschlägigen Stadtteilen ist keine schicksalhafte Fügung, sondern Folge fehlenden politischen Willens.“

Denn wer in der Stadt (noch) wohnen darf, bestimmen jene, denen die Stadt gehört – mit Brief und Siegel und Besitzurkunde. Und die vergangenen zehn Jahre waren ein einziger Ausverkauf städtischer Flächen und Immobilien auch in Leipzig. Sie sind zum Spekulationsobjekt von Leuten geworden, denen die Bewohner dieser Städte völlig egal sind, die aber Immobilien als Wertanlage und Renditeobjekt betrachten. Wie seltsam das ist, sieht man erst, wenn man sich wie ein Fremder in diesen neuen Stadtquartieren bewegt und auf sich wirken lässt, was man erlebt.

Was eben auch bedeutet, dass anonyme Fonds und Immobiliengesellschaften die Macht haben, Städte zu gestalten – und in der Regel zu verunstalten, weil sie keine Beziehung zu diesem Ort und den hier Wohnenden haben. Aber: Sie haben einen unheimlich starken Einfluss auf Stadtpolitik. Besitz bedeutet immer politischer Einfluss.

Und man stutzt nicht einmal, wenn Thiesen ausgerechnet Leipzig eine gepflegte Piefigkeit attestiert, eine da und dort längst dominierende Einförmigkeit und Provinzialität, die sich in keiner Weise mit der wirklich multikulturellen Stadt Berlin messen kann. Was auch damit zu tun hat, dass Gentrifizierung eben auch Uniformierung bedeutet: Aus einstmals bunten, von unterschiedlichsten Menschen bewohnten Quartieren, werden „Szene-Viertel“, in denen dieselben Bars und Läden dominieren und die Leute alle irgendwie gleich aussehen, obwohl sie sich mit ihren Hipster-Bärten doch so eine Mühe geben, ganz besonders einmalig auszusehen.

Natürlich bringt er später auch ein Gegenargument, weil ihm sehr wohl bewusst ist, dass Leipzig nicht nur aus den allgegenwärtigen Hipstern besteht, sondern auch – über Jahre gewachsen – eine starke und kampfeslustige Szene von Menschen hat, die wirklich wieder „Stadt für alle“ wollen und damit auch schon kleine Erfolge auf der politischen Ebene erzielt haben. Denn der alte Leipziger Ruf kam ja nicht aus den „Szene-Vierteln“ – die sind so langweilig und beliebig, dass man dasselbe auch in Düsseldorf, Hamburg und Wiesbaden finden kann.

Der Ruf entsprang der wilden Pionierszene, die in den 1990er Jahren Häuser und Fabriken besetzte, um sie einerseits als Kreativraum zu erobern und andererseits als bezahlbaren Wohnraum zu erhalten. Eine Szene, die tatsächlich mit der beginnenden Gentrifizierung immer mehr verdrängt wurde. Denn nach den Luxussanierungen, die aus einem lebendigen Quartier oft den Wohnort einer recht homogenen und finanzstarken Bevölkerung machen, verschwinden auch die kreativen Ansätze, die experimentellen Angebote.

Die städtische Raumplanung hat dafür keinen Blick. Ihr fehlen die Instrumente, so etwas überhaupt zu erfassen. Das Ergebnis: Stadtpolitik wird unterkomplex. Und Berichterstattung über Stadtpolitik ebenfalls. Und Stadt als ein Raum der permanenten Transformation wird gar nicht mehr erfasst. Auch weil die eigentlich hier Lebenden und Handelnden auf Politik so gut wie keinen Einfluss haben.

Damit bestimmen andere über das Bild von Stadt und über Quartiersentwicklung – Immobilienentwickler, Architekturbüros, Verkehrsplaner. Lauter Leute, die ihr Bild von der perfekten und effizienten Stadt haben. Ein Bild, das, wenn es umgesetzt wird, meist nur „verlorene Orte“ ergibt. Plätze, Straßen und Häuser, deren Zweckmäßigkeit alle Wohnlichkeit und Identifizierung verhindert.

Am Ende versteht man auf einmal, warum junge Leute nachts herumlaufen und die Wände mit Graffitis besprühen. Denn wenn die Bewohner der Stadt ihre Stadt nicht selbst gestalten können und dürfen, werden sie zu Fremden darin, weil – Nicht-Besitzenden. Zu Sprachlos-Gemachten. Was Thiesen so nicht schreibt. Denn seine Essays sind ja vor allem Versuche, diese Komplexität mit rationalen Formeln zu fassen, das Emotionale zwar zu beschreiben, aber nicht zur Grundlage zu machen.

Auch wenn sein Fazit im Grunde in diesen Sätzen steckt: „Die ,Global City‘ (Sassen) kennt keine physischen Grenzen. Vieles spricht also dafür, auf die Verräumlichung sozialer Konflikte mit Strategien der Enträumlichung zu reagieren. Das jedoch würde bedeuten, die emanzipatorischen Qualitäten der Stadt in den Mittelpunkt zu stellen und ,überörtliche‘ Forderungen wie soziale Mobilität, echte Bildungszugänge oder gesellschaftliche Anerkennung von Mehrsprachigkeit starkzumachen. Den kulturellen Resonanzboden solcher Forderungen bietet wiederum nur die Stadt. Lüften wir also einmal kräftig durch, bevor wir uns das Recht auf Stadt nehmen.“

Stadt also als ein organisierter Raum von Chancen – als den ihn ja sowieso alle empfinden, die anderswo ihre Siebensachen packen und in die Stadt ziehen (die übrigens auch bei Thiesen vor allem Großstadt ist). Und zwar nicht, um dort „heimisch“ zu werden (mit den Mustern von Heimat und Verwurzelung mag Thiesen sowieso nicht viel anfangen), sondern um dort selbst einen Transformationsprozess zu durchlaufen – um das zu werden, was jeder aus sich machen möchte.

Dazu braucht man Zugänge und Chancen. Und (noch) bieten die großen Städte das in exemplarischer Weise. Und (noch) frustriert es all diese Suchenden, Reisenden und sich Verändernden, wenn ihnen die Zugänge verwehrt werden und städtische Verwirklichungs-Räume okkupiert, aufgekauft und verschlossen werden.

Das heißt: Die aktuelle Politik unterstützt die Verluste an transformativen Räumen, mindert die Chancen und Zugänge der Menschen zu all dem, was Stadt erst lebendig macht als einen Ort der Interaktion, der Verwandlung, Offenheit und der zu verwirklichenden Möglichkeiten, der „Spontaneität“ und der kreativen Interventionen, die Stadtraum erst zum Lebens-Raum macht.

Höchste Zeit, über Stadt-Gestalten anders nachzudenken. Weniger aus der Sicht renditeversessener „Investoren“, denen „die Stadt“ an sich völlig gleichgültig ist, wenn sie hier nur renditebringend „anlegen“ können, sondern aus der Sicht der zu Fuß laufenden Einwohner. Bekanntlich auch in Leipzig derzeit noch ein seltsamer Spagat mit dubiosen Spielern und einer zunehmend frustrierten Stadtgesellschaft.

Andreas Thiesen Urban Love Stories, Waxmann Verlag, Münster 2020, 19,90 Euro.

Leipzig wächst auch, weil es Menschen aus vielen Ländern Chancen bietet

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