Es war einmal ein Land. Oder zwei Länder. Oder drei. Jeder hat ein anderes Land in der Erinnerung. Es kann gar nicht anders sein. Und es hätte ein schönes Land sein können. Wer das nie gedacht hat, hat wirklich nicht gelebt. Auch nicht in diesem Drei-Buchstaben-Land ohne Verben. So ganz still schiebt sich mit Claudia Bierschenks Kindheitserinnerung ein Gedanke an die Oberfläche: Und wenn ...?

Nein, nicht „Und wenn es die DDR noch gäbe“ oder dergleichen. Das wäre dann die übliche Plattitüde aus einer dummen Diskussion, die seit 1990 vor sich hinwabert, sozusagen die Fortsetzung von „Dann geh doch nach drüben“, dieses rotzige Unrechtsstaat-Gedöns, das einfach in seiner Ungebildetheit den Staat mit seinen Bewohnern gleichsetzt, die Funktionäre mit dem Land. Als wenn man sich seine Funktionäre aussuchen konnte. Gar als Kind.Und Claudia Bierschenk hat die späte DDR als Kind erlebt in einem kleinen Nest im Eichsfeld, gleich hinter dem „Zaun“. Oder vor dem „Zaun“, je nachdem, wie herum man die Sache betrachtet. Eine intensive, echte Kindheit. Mit allem drum und dran, allen Rätseln, Widersprüchen, phantastischen Erlebnissen, Frustrationen, Ausgrenzungen und Märchenhaftigkeiten.

So, wie die Erinnerung Kindheit nun einmal bewahrt. Und wie diese Kindheit auch wirklich war, egal, was andere Leute reden. Jeder erlebt sein eigenes Leben. Und nie wieder sind Gefühle so intensiv wie in diesen frühen Jahren, wenn fast alles noch voller Möglichkeiten, Rätsel und Geheimnissen ist. Und dazu kommt: Claudia Bierschenk hat eine sehr intensive, dichte Art zu erzählen in vielen kleinen Geschichten.

„Autofiktional“ nennt der Verlag ihren Text. Dabei ist jede Biografie autofiktional. So lebt der Mensch. Schon die Gegenwart ist eine Konstruktion. Die meisten Menschen merken nicht einmal, dass jeder Einzelne etwas völlig anderes sieht und erlebt und fühlt. Wenn es Regierungen nicht mehr merken, ist es für die Regierungen natürlich zu spät.

Dann entsteht genau jene Stimmung der institutionalisierten Fehldeutungen und gewollten Missverständnisse, die die späte DDR so ungenießbar gemacht und in etwas verwandelt hat, was immer mehr Menschen am Ende nur noch loswerden wollten. Wie einen Albtraum, zäh, grau und freudlos.

Erst recht, da „der Westen“ ja per Fernsehen immerfort präsent war und eine andere, buntere, viel größere Welt verhieß. So war es auch in der Kindheit von Claudia Bierschenk, die ihre Leser/-innen mitnimmt in ihre eigene Sicht auf das, was ihr begegnete als Kind. Was eine Kunst ist. Die meisten Biografen objektivieren immer, versuchen ihre Kindheit zu deuten aus allem, was danach geschah.

Es ist ein großes Talent, sich wieder hineinversetzen zu können in die Sichtweise des Kindes, das man einmal war. Und Claudia Bierschenk, Anglistin, Romanistin und Politikwissenschaftlerin, kann es augenscheinlich. Im Buchabspann zählt sie all die Menschen auf, die sie anspornten, ihre Geschichte aufzuschreiben.

Eine Geschichte, die auch von Trauer getragen ist, denn der nahe „Zaun“ und die lebendigen Begegnungen mit den aus dem Westen zu Besuch kommenden Verwandten nähren in dem Kind das immer stärker werdende Bedauern, dass es die Welt da draußen niemals sehen wird – weder die USA, noch das Gras auf der anderen Seite des „Zauns“.

Wobei diese Sehnsucht nach dem Fernen sich nicht nur auf den Westen fokussiert. Sie lebt auch in den Erinnerungen an die Tage am Balaton oder am Oder-Havel-Kanal, auf dessen gegenüberliegender Seite der große Flugplatz der Sowjetarmee liegt. Die Liebe zur russischen Sprache hat Gründe. Heute ist Claudia Bierschenk Weltreisende. Das Buch hat sie ihrem Sohn gewidmet, der sich nie wird vorstellen können, wie das war, in einem abgeschotteten Land leben zu müssen. Hofft man zumindest. Denn auf dumme Ideen kommen ja nicht nur rote Funktionäre.

Und auch wenn einige der emotionalsten Geschichten, die Bierschenk erzählt, mit diesem „Zaun“ zu tun haben und mit den Tagen, als er auf einmal durchlässig wurde, als wäre es das Normalste von der Welt, ist die eigentliche Stärke ihrer Geschichte diese unverstellte Ernsthaftigkeit des Kindes, das die Dinge noch in all ihrer Rätselhaftigkeit sieht und nicht vortäuscht, altklug schon alles zu wissen.

Was passiert im Beichtstuhl von Omas Kirche? Warum können die Großväter nicht erzählen, was sie im Krieg erlebt haben und ob sie auf der richtigen Seite gekämpft haben? Und worin unterscheidet sich billiges und teures Fleisch im Fleischerladen, vor dem die Leute Schlange stehen, um ihre bestellten Wurstpakete zu kaufen? Es gibt etliche dieser kleinen Geschichten in diesem Buch, die zeigen, wie sehr man sich als Kind wundern konnte über die rätselhaften Vorgänge in diesem Land. Geschichten, die jeder so oder ähnlich erlebt hat, ohne sie wirklich deuten zu können.

Denn als Kind hat man keine Vergleichsmaßstäbe. Die Welt, in die man hineinwächst, ist die einzige Welt, die es gibt. Erst recht, wenn man über das, was man im Fernsehen sieht oder in eingeschmuggelten Asterix-Heften, nicht reden darf. Nicht in der Schule und auch sonst nirgendwo in der Öffentlichkeit oder gar, wenn die seltsame Frau Hege zu Besuch kommt. Und dazu kommen noch alle diese Erwachsenen, die lieber nicht reden über ihre eigenen Erfahrungen oder das, was sie zornig macht und zunehmend entmutigt.

Etwas, was auch Claudias Familie erlebt, denn das Ausgrenzen nahm ja auch in den 1980er Jahren skurrile Formen an. Am Ende schreibt der als Lehrer im Ort geachtete Vater sogar einen Ausreiseantrag. Und das bedeutete immer viel in diesem Land, denn ob man im Westen wieder auf die Beine kommen und eine neue Heimat finden würde, das stand völlig in den Sternen. Da gehörte Mut dazu, den Behörden trotzig einen Ausreiseantrag auf den Tisch zu packen. Kündigung für den Lehrer quasi gleich postwendend.

Und trotzdem ist das kein Schlimme-DDR-Buch geworden. Eher eines, das zeigt, wie einen der Ort der Kindheit prägt und wie einen die Menschen in dieser Kindheit faszinieren. Auch dann, wenn sie nur in den Gesprächen der anderen Erwachsenen präsent sind. Liebevolle, aber auch seltsame Großeltern, herzliche Verwandte, aber auch boshafte Lehrer, die ihre Klassen mit Gebrüll im Zaum zu halten versuchen. Dieses Land war so durchwachsen wie jedes andere, war schäbig und rätselhaft, liebevoll und tückisch, stur und hilflos, wenn es an das Beantworten der wirklich wichtigen Fragen ging.

Wofür eigentlich sogar diese seltsame Szene auf dem Patrouillenweg am nunmehr verlassenen Grenzzaun steht, als der Vater einfach das noch da stehende Postentelefon abhebt und dem Offizier, der am anderen Ende abhebt, einfach sagt, er solle es gut sein lassen. Was eigentlich diesen ganzen 9. November auf den Punkt bringt: Das ganze krampfhafte Inszenieren von Macht und Gesetzmäßigkeit – es löste sich in Luft auf. Grenzer verwandelten sich wieder in Menschen und der Zaun, der für das Kind „schon immer dagewesen“ ist, ist auf einmal offen, als wäre es das Selbstverständlichste in der Welt.

So überwältigend selbstverständlich übrigens, dass man mit Claudia Bierschenk versteht, warum ihre Eltern Tränen in den Augen haben, als sie – einfach mal so – zu den nächsten Verwandten im Westen fahren.

Eigentlich ist es eine Geschichte über das Wesentliche, das wir als Erwachsene oft gar nicht mehr sehen, weil wir lieber Machtfragen stellen, die Wirklichkeit übers Geld definieren und lieber unsere Denkschablonen über alles legen. Denn die Fähigkeit, die Dinge in all ihrer Rätselhaftigkeit und Unerklärklichkeit zu sehen, die verlieren die meisten Menschen schon ziemlich früh im Leben. Und dann haben sie nichts zu erzählen, wenn ihre Kinder fragen: Erzähl mal, wie war das damals?

Denn das, was alle erzählen und zu wissen glauben, muss man nicht noch einmal erzählen. Das interessiert niemanden mehr. Aber wie war es wirklich als Kind nah am Grenzsperrgebiet? In diesem eingezäunten Land und mit der FDJ und den Besuchen in Buchenwald? Wo das Kind gleich im Einführungsvortrag ohnmächtig wird.

Was einem auch sehr vertraut vorkommt, weil es nichts mit dem so gern zitierten „verordneten Antifaschismus“ zu tun hat, sondern mit diesem menschlichen Erschrecken, wenn man zum ersten Mal erfährt, zu was diensteifrige Handlanger fähig sind, wenn ihrer Mordlust freien Lauf gelassen wird. Und wie viel Leid die Schutzlosen dann erleben.

Kinder können sich noch sehr gut vorstellen, was das bedeutet, wenn so mit Menschen umgegangen wird. Sie können sich hineinversetzen in die Leidenden. Da muss nichts verordnet werden, nur gezeigt und erzählt. Und manchmal haut es einen dann um, so groß ist die Trauer.

Und ein gewisses Stück Trauer liegt auch über dieser Kindheit. Ganz unverkrampft, manchmal aber voller Wucht, so, wie sie einen trifft, wenn man weiß, dass einem ein ganzes Stück Leben abgeschnitten wird. Das Ende der DDR hat viel mit dieser Trauer zu tun, dieser unmöglichen Situation, die eigentlich nicht auszuhalten ist. Die Freude des 9. November erzählt davon. Als hätten vorher beide Teile des Landes niemals aus voller Freude froh sein dürfen.

Über das Danach erzählt Claudia Bierschenk nichts. Sie hat ja die Chance genutzt, in die nun offene Welt hinauszufahren. Das Land ohne Verben, mit seiner ganzen verknöcherten Rhetorik, war perdue, hatte sich einfach in Luft aufgelöst, als hätte es niemals Substanz gehabt. Eine Art Potemkinsches Land, das nur genau so lange existierte, wie die Menschen daran glaubten, es könnte mehr sein als eine Einbildung.

War es in gewisser Weise auch. Denn das, was Plakatwand war, war nicht das Leben der Menschen, die darin gelebt haben, Kind waren wie diese Erzählerin, die ihre Leser/-innen sehr anschaulich mitnimmt in eine Kindheit, die wohl genau so oder so ähnlich war. Was man ja nie wirklich weiß. Das Gedächtnis verändert die Erinnerungen, komprimiert sie.

Aber die wichtigsten und nachhaltigsten Ereignisse vergisst es nicht. Und da werden sich die Funktionäre immer ärgern: Ihre Inszenierungen gehören bei den meisten Kindern nicht zu dem, woran man sich auch noch als groß gewordener Mensch immer wieder mit Faszination erinnert.

Claudia Bierschenk Land ohne Verben, Edition Überland, Leipzig 2020, 16 Euro.

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