Das Besondere an dem 1884 in Leipzig geborenen Maler Max Beckmann ist, dass er kaum wie ein anderer Künstler über sein Werk reflektiert hat und neben seinem künstlerischen Werk auch eine Menge Tagebücher, Briefe und öffentliche Statements verfasst hat. Kein Wunder, dass sich Petra Kipphoff angeregt sah, sich diesem Wort-Werk des Künstlers zu nähern, essayistisch, tastend. Denn: Kann man Künstlern überhaupt ein einziges Wort glauben?

Eine berechtigte Frage. Die die meisten Kunsthistoriker wahrscheinlich mit einem zurückhaltenden „Nein“ beantworten würden. Was nichts über die Ehrlichkeit der Künstler sagt. Aber dasselbe kann man auch über Schriftsteller sagen. Was jeder merkt, wenn er tatsächlich einmal eine dieser Schriften liest, in denen die Autoren, die ja eigentlich Fachleute der Sprache sind, versuchen, ihr Schreiben und ihr Motivation in Worte zu fassen.Die Klügeren schreiben dann – wie jüngst Clemens Meyer – ein „Wird fortgesetzt“ ans Ende ihres Essays, von dem sie wissen, dass es immer nur ein Essay sein kann, eine Annäherung an das, was tatsächlich passiert beim Schreiben.

Und wer Max Beckmanns Texte liest, merkt schnell, dass es ihm mit dem Malen ganz genau so ging. Also auch nicht besser als seinen Zeitgenossen, die seinerzeit berühmte Schulen und Strömungen bildeten, unterfüttert mit Manifesten und Programmen, in denen sie ihre neuen Absolutheiten über das, was Kunst zu sein hat, verkündeten – Dadaisten, Futuristen, Surrealisten, Kubisten, Expressionisten.

Es gibt ja in der ganzen Kunstgeschichte keinen Zeitabschnitt, der so von revolutionären Strömungen in der Kunst durchwallt und durchwabert war, wie die Zeit zwischen 1890 und 1930.

Das Verblüffende ist, dass alle diese „Schulen“ ihre Berühmtheiten hervorgebracht haben, die heute immer noch zu echten Publikumsmagneten werden, wenn es mal Einzelaustellungen mit ihren Arbeiten zu sehen gibt. Keine Zeit war derart produktiv auch in der theoretischen Auseinandersetzung mit Kunst. Und dennoch wirken alle diese Wortgefechte und Künstlerschlachten wie der Versuch, etwas zu erklären, was nicht zu erklären ist.

Bilder aus Wörtern

Und das ist auch bei Beckmann nicht anders. Obwohl seine Schriften durchaus faszinieren. Gerade weil sie zeigen, wie Beckmann darum rang, das, was er lebte und malte, in Worte zu fassen: griffig, pointiert, in meist kurzen, schroffen Sätzen. „Bilder aus Wörtern“, wie es Petra Kipphoff in einem Kapitel nennt.

Sie war von 1960 bis 2002 Feuilletonredakteurin bei der Wochenzeitung „Die Zeit“. Die bildende Kunst war ihr Schwerpunkt. Und auch nach ihrer Berufskarriere lässt sie ihr Interesse nicht los. Und auch nicht die Faszination dieser Beckmann-Texte, die schon seit Jahrzehnten auch als dicke Tagebuch- und Brief-Ausgaben vorliegen.

Und natürlich muss, kann und darf man sein bilderisches Werk immer danebenlegen. Denn davon spricht er ja immer wieder. Meist wie ein Arbeiter in einer Bilderfabrik, für den es selbstverständlich ist, Bilder in gewaltigen Serien zu produzieren. In einem launigen Selbstporträt von 1923 macht er sich gar zum Inhaber eines gutgehenden Mal-Geschäftes: „Das Geschäft war erst sehr klein. Langsam hat es sich vergrößert. Was weiter daraus wird? – Wir leben von Heute auf Morgen.“

Sätze, die scheinbar in die Zeit passen, ihren kreativen Übermut, den Ausbruch aus den alten akademischen Fesseln. Zu der natürlich auch diese veritablen Wort-Schlachten gehörten, mit denen Künstler darangingen, die ganze in Antike erstarrte Kunst-Welt der ach so biederen Bürger zu demolieren, die in ihrer biederen Selbstbeweihräucherung gerade den schlimmsten aller Kriege vom Zaun gebrochen hatten. In dem Beckmann als Krankenpfleger eingesetzt war, bis er – aus psychischem Gründen – entlassen und nach Hause geschickt wurde.

Der Maler als „unbeteiligter“ Beobachter

Dabei hatte er selbst die Szenen im Lazarett mit geradezu verstörender Begeisterung geschildert. Als wären das alles herrliche Bilderschätze, die es nur noch zu malen gelte, inszeniert für den Künstler, der das als Krankenpfleger sehen darf. Als würde er von diesem Leiden und Sterben gar nicht berührt, wäre nur als Beobachter da, dem die Schrecken des Krieges Stoff für neue Bilder waren.

Wahrscheinlich trügt das alles. Auch diese Rotzfrechheit des Textes von 1923. Und in gewisser Weise sind die Texte, mit denen Petra Kipphoff Beckmanns schriftliche Notate über dessen Lebenszeit hin untersucht und auslotet, auch Versuche, ihm selbst nahezukommen. Und seiner Widersprüchlichkeit, die sich auch in seinen literarischen Vorlieben äußert. In seiner lebenslangen Begeisterung für den Schriftsteller Jean Paul und sein Riesenwerk „Titan“ oder die Schriften der damals berühmten Helena Petrovna Blavatsky. Die er immer wieder las.

Aber um diese beiden kommt man nicht umhin, wenn man diesen Beckmann zumindest irgendwie greifen will. Obwohl man sie natürlich nicht gelesen haben muss, um sich von Beckmanns gewaltigen Bildern überwältigen zu lassen. Bilder, die eigentlich keine Magie brauchen. Und auch keine Theorie.

Gut verständlich, wenn ein Beckmann seinen New Yorker Galeristen lieber bittet, sein neuestes Bild retour zu senden nach Amsterdam, als ihm irgendeinen Erklärungstext dafür zu schicken, mit dem dann potenziellen Käufern verständlich gemacht werden könnte, was der Maler in seinem Bild eigentlich wollte.

Kunst muss wirken

Denn das war Beckmann durchaus bewusst: Dass seine Bilder (und Kunst überhaupt) eigentlich keine theoretischen Anhänge brauchen, keine Theorien und Erläuterungen. Kunst muss wirken. Oder mit seinen Worten, die Kipphoff im Kapitel „Die Magie der Realität“ zitiert: „Kunst dient der Erkenntnis, nicht der Unterhaltung, der Verklärung oder dem Spiel.“

Die Frage ist nur: Wer erkennt was darin? Und wer wen? Denn wer Beckmanns Entwicklung über die Jahre verfolgt, sieht einen Künstler, der regelrecht kämpft darum, ja in keine Schublade gepackt zu werden, mit all den Schulen und Gruppen nichts zu tun zu haben, die überall Lärm machten, und sich auch nicht von Moden oder Erwartungen drängen zu lassen. Nicht nur deshalb unterscheidet sich der spätere Beckmann auch so radikal vom jüngeren Beckmann, der sich noch suchte.

Und möglicherweise fand. Wir wissen es ja nicht. Da hadert auch der Ältere zu sehr mit sich und seiner Arbeit. Und die von Kipphoff so einfühlsam herausgearbeitete „transzendentale Mathematik der Seele des Subjekts“ ist tatsächlich nur „grandios gegensätzlich“. Sie erklärt aber nicht wirklich, wie dieser Künstler malte.

Dass da mehr passiert, als dass da ein gut ausgebildeter Maler eins zu eins auf die Leinwand bringt, was er sieht, machen schon die Motive seiner Bilder sichtbar, in denen es die Bezüge zur antiken Mythologie genauso gibt wie die zum Bild gewordenen Echos einer blutigen Zeit, in der Dramen und Tragödien sich schon in der medialen Berichterstattung in Schau-Spiele verwandeln.

Und immer wieder taucht auch Beckmann selbst darin in Maskerade auf, selbst Schau-Spieler, und damit Teil einer Maskerade, in der sich die Welt in ein großes Theater verwandelt, das Bild zur Bühne wird. Und der Maler sich auf einmal selbst ins Gesicht schaut, gewahr wird seiner eigenen Rolle und Maske.

Die Gespenster der Zeit

Also doch eine sehr eindringliche Darstellung einer Welt, die sich ihrer eigenen Maskeraden und Verkleidungen oft gar nicht bewusst ist. Nicht bewusst sein will. Denn nichts ist entlarvender, als die Gespenster der Zeit in ihren Larven zu zeigen.

So, wie es in einem Brief Beckmanns an seinen Freund Stephan Lackner vom August 1945 anklingt: „… die Welt ist ziemlich caput aber die Gespenster klettern aus ihren Höhlen und geben vor, wieder normale und gewohnte Menschen zu werden, die sich gegenseitig um Entschuldigung bitten anstatt sich aufzufressen oder das Blut aufzusaugen …“

Ein Satz, der auch im Jahr 2021 gelten darf. Denn natürlich „sieht“ ein Künstler mehr, weil er keinem Zeitgeist gerecht werden muss. Auch dann, wenn er es nicht wirklich sagen und beschreiben kann. Vielleicht, weil es dafür wirklich keine Worte gibt. Oder weil man dazu literarische Talente braucht, die auch bei den Besten ihrer Zunft selten sind.

Wie viele gescheiterte Schriftsteller kennt man, die versucht haben, in die Seele eines Malers vorzudringen. Was passiert da, wenn einer malt? Wann hat er das Gefühl, endlich eingefangen zu haben, was in ihm zum Bild drängte? Wann leuchtet dieses Bild in ihm, weiß der Mann davor, dass er es geschafft hat?

Und bei Beckmann gibt es haufenweise Zitate, die diese Unerbittlichkeit und Unbedingtheit benennen. Es steckt ja nur eher beiläufig in seiner Konkurrenz zu den anderen großen Malern seiner Zeit.

Die auf ihre Weise ja genauso intensiv nach dem Bild suchten, das das Erschreckende und Beängstigende und Bewegende dieser Weltumbrüche fassen und zeigen konnte. Und mit einem hat Beckmann ja recht: Das kann und muss jeder für sich selbst schaffen. Da kann er sich nicht einvernahmen lassen.

Der Künstler als Clown im Zirkus

Vielleicht braucht es gerade dafür diese ruppige Abwehr, die bei Beckmann gerade in Briefen und Tagebüchern immer wieder aufleuchtet. Als wären ihm die Anderen immer zu nah, zu aufdringlich.

Manchmal kommt Kipphoff dem sehr nah. Etwa wenn sie Beckmanns Rollenspiele versucht zu erfassen: „Aus der Welt des Zirkus holte Beckmann sich die meisten Kostüme und Requisiten, hier war der Wechsel von Komik und Tragik, Professionalität und Spiel am deutlichsten zu sehen. Aber Beckmanns wirkliche Rolle hatte wenig mit einer Kostümierung, dafür umso mehr mit dem Gefühl einer vielfältigen Identität zu tun. Es waren besonders die Person und das Schicksal des Odysseus, in denen Beckmann sich und sein Leben wiedererkannte …“

Denn natürlich leben alle diese mythischen Gestalten in uns. Beckmann ist ja nicht der Einzige gewesen, der auf diese Mythologien zurückgriff, die Narrative in den Großerzählungen der Menschheit, die man sich aneignet, auch wenn man es nie bewusst getan hat. Beckmann freilich hat es bewusst getan. Er war auch ein emsiger Leser und geradezu süchtig nach Büchern, von denen er vermutete, sie könnten ihm ein Schlüssel sein, seine Beziehung zur Welt irgendwie zu fassen zu kriegen.

Und damit auch sein Betroffensein in Bilder zu fassen. Denn natürlich sind seine Bilder Geschichten. Zuweilen mythische Neu-Erzählungen. Man kann sie gut erzählen. Und jeder, der sie sieht, erzählt sie sich auch. Zumindest, wenn es ihm nicht zu ungemütlich wird und ihn das Gefühl nicht abschreckt, dass Beckmann einen sehr wesentlichen Aspekt unserer Zeit nackt und unübersehbar ins Bild gesetzt hat.

Denn natürlich haben die Masken und Kostüme in Beckmanns Bildern nur zum Teil mit seiner eigenen Schauspielerei zu tun, die ja zuallererst einmal die Übernahme eines gesellschaftlichen Rollenspiels war. Erst wenn wir in unserer Rolle für Außenstehende identifizierbar werden, werden wir auch erkennbar.

Und so ist das in Beckmanns Bildern nicht nur Selbstinszenierung, sondern Hinterfragung der Kostüme und Masken. Und auch die wohl etwas betroffen machende Erkenntnis, dass man eigentlich wie alle anderen auch nur eine Rolle spielt. Und oft nicht mal die, die man sich selbst aussuchen würde, wenn man nur könnte.

Eine groteske Zeit …

Denn die Rolle, die man spielt, weisen einem immer andere zu. Man wird zum Clown und Zirkustänzer gemacht. Man kann gar nicht anders. Lernt aber, wenn man es – wie Beckmann – begreift, dass zwangsläufig auch die großen Kraftprotze in der Manege nur verkleidete Menschen sind. Dass wir uns von Rollen und Masken blenden lassen. Und es uns nicht einmal nutzt, das zu benennen und zu zeigen. Eine „groteske Zeit“ nennt Beckmann seine Jahre im niederländischen Exil.

Verständlich sein Erschrecken darüber, wie sich all die Leute, die ihm dort die ganze Zeit Angst gemacht hatten, nun wieder in biedere Bürger verwandelten, die nie dabei gewesen sein wollten, als der Schrecken über Europa herrschte.

Und das wirkt wie gegenwärtig. Beckmann würde heute kaum anders malen. Denn unübersehbar ist der Zirkus noch genauso im Gang wie vor 70, 80 Jahren. Es ist wohl nicht nur so, dass Beckmann mit Kostümen und Requisiten „die erschreckende Realität auf Distanz zu halten versucht“ hat, wie Kipphoff schreibt im abschließenden Kapitel „Wir alle sind Seiltänzer“.

Wahrscheinlich ist es sogar so, dass gerade Kostüme und Requisiten sichtbar machen, was wir in unserem Alltag so emsig zu verdrängen versuchen: dass wir in einem großen Zirkus leben, in dem die wirklich bedrohlichen Personen allesamt Kostüm und Maske zur Schau tragen. Und wir wissen, dass die Kostümierung eine Lüge ist. Aber wir können es nicht ändern.

Das Leben ist keine Lebensversicherung

Wir können bestenfalls – so wie Beckmann – erschrecken, erschrecken darüber, was wir zu sehen bekommen, wenn wir hinter die Masken schauen. Und merken, wie die alten griechischen Dramen auch heute noch zelebriert werden. Die ganze Welt eine Bühne. Und mittendrin selbst der Künstler als Shakespear’sche Dramengestalt, die erkennt, dass sie auch nicht herauskommt aus ihrer Rolle. Als würden „die Götter“ da ihre Scherze treiben mit ihren Menschen, bitterböse Scherze.

So gesehen ist Kipphoffs Buch eine sehr feinfühlige Annäherung an das, was der Maler Beckmann über sich und sein Handwerk geschrieben hat. Und wie er ein Leben lang nach Antworten suchte, die ihm sein Verhältnis zum Malen vielleicht begreiflicher hätten machen können, sein „emotionales und grundsätzliches“ Reagieren auf die Umwelt und auf die Dramen seines Lebens, in denen er immer auch schon das Bild sieht, den malerischen Moment. Da kann einer, wenn er wirklich Maler ist, nicht mal im Moment der Tragödie aus seiner Haut heraus.

Es ist diese Unmittelbarkeit, die seine Bilder so überwältigend macht. Und die sich selbst in knappen Worten nicht sagen lässt. Nur andeuten wie in einem Brief an ein Fräulein Kerschbaumer, den Beckmann 1949 schrieb: „Das Leben ist keine Lebensversicherung. Jederzeit musst Du gefasst sein auf das unmöglich Schreckliche, aber auch auf das Schöne … (…) Also liebes Fräulein Kerschbaumer, leben wir, leben wir weiter, weiter wie Bergarbeiter in einem dunklen Schacht, aber mit einer hellen Lampe, die in tiefe Gänge strahlt …“

Er hätte statt „leben“ auch „malen“ schreiben können. Denn genau an der Stelle verschmilzt das, ist der Maler auch gleichzeitig der Mann, der malt und lebt und auch die Schrecken der Welt ins Bild zu bannen versucht. Unmittelbarer geht es gar nicht. Auch wenn man das mit Worten meist nicht so sagen kann, wie es passiert.

Deswegen schreiben die meisten Maler nicht über ihr Malen. Und trotzdem steht man vor ihren Bildern und kann die Geschichte, das gemalte Drama entschlüsseln.

Dieses Büchlein ist auch ein kleiner Schlüssel, ein Herantasten an den schreibenden Maler und das, was er darin über sich und sein Weltverständnis verriet. Und über seine Ohnmacht, es in Worte zu fassen. Oft sehr drastisch und unmittelbar. Aber auch darin ist der Schreiber ganz der Maler.

Petra Kipphoff Max Beckmann, zu Klampen Verlag, Springe 2021, 20 Euro.

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